Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

174-176

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Treffke, Jörg

Titel/Untertitel:

Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 367 S. m. 1 Abb. gr.8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-76745-5.

Rezensent:

Martin Greschat

Diese leicht überarbeitete Bonner historische Dissertation behandelt Heinemanns Beziehungen zu den fünf politischen Parteien, denen er im Verlauf seines Lebens angehörte, sowie zuletzt seine Position als Bundespräsident. Bei seiner Mitgliedschaft in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und danach im Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) handelte es sich allerdings lediglich um eher lockere Verbindungen: Der DDP trat Heinemann nach dem Ersten Weltkrieg bei, um in der freiheitlich-demokratischen Tradition seiner Familie am politischen Neuanfang mitzuwirken. Doch schon bald befriedigte ihn die alltägliche Parteiarbeit nicht mehr (37–54). Dem CSVD wandte er sich im Zusammenhang mit seiner Konversion zum evangelischen Glauben zu, wobei ne­ben seiner Frau der Essener Pfarrer Friedrich Graeber, der im CSVD aktiv war, eine gewichtige Rolle spielte. Einzelheiten kennen wir nicht. Doch bezeichnend ist, dass Heinemann im März 1933 für die SPD stimmte. In dieser Partei sah er offenbar noch ein Widerlager gegen den Machtzuwachs der NSDAP (55–69).
Heinemann leistete jedoch keinen Widerstand gegen den Na­tionalsozialismus. Er reüssierte im Beruf, protestierte lediglich ge­gen die Kirchenpolitik des Regimes, legte jedoch 1938 auch seine Ämter im Bruderrat wegen der wachsenden konfessionellen Streitigkeiten innerhalb der Bekennenden Kirche nieder. Seitdem konzentrierte er sich ganz auf die Arbeit in seiner Kirchengemeinde und im CVJM. Heinemann hat dieses Verhalten nachträglich als falsch angesehen und bewusst eine moralische und politische Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft übernommen (70–85). Beste Voraussetzungen dafür bot ihm die CDU, zu deren Mitbegründern er in Essen gehörte. Spannungen zu Adenauer bestanden jedoch von Anfang an. Sie verdichteten sich im Oktober 1950 in Heinemanns Rücktritt als Innenminister. Der Versuch, nun eine überparteiliche »Notgemeinschaft für den Frieden Europas« zu schaffen, scheiterte schnell (86–119). Nur mühsam entschied sich Heinemann daraufhin, eine eigene politische Partei zu gründen, die »Gesamtdeutsche Volkspartei« (GVP). Was ihre Anhänger einte, war die Ablehnung der Politik Adenauers. In der Bundestagswahl 1953 erfuhr die GVP eine vernichtende Niederlage (120–153).
Zögernd näherte sich Heinemann nun der SPD. Ihr »Deutschlandplan«, an dem er mitarbeitete, entsprach noch einmal Heinemanns auf Entspannung und Wiedervereinigung gerichteten außenpolitischen Zielen. Doch das Papier war aufgrund des neuen Kurses der SPD, der dann im »Godesberger Programm« 1959 seinen Ausdruck fand, schnell Makulatur. Immerhin nahm Heinemann im neuen Grundsatzprogramm entscheidenden Einfluss auf den Abschnitt »Religion und Kirche«. Bedeutendes leistete er sodann als Justizminister bei den Reformen des Strafrechts (154–188). Als Bundespräsident war Heinemann schließlich in der Lage, parteiübergreifend, ideologiefrei und bürgernah sozial und versöhnend zu agieren (189–214).
Die Arbeit bietet eine klare Zusammenstellung der parteipoli­tischen Etappen Heinemanns. Sie integriert mancherlei wissenschaftliche Vorarbeiten zum Thema, geht jedoch auch darüber hinaus, z. B. im Blick auf die Zurückweisung der Darstellung Heinemanns als Mann des Widerstands. Über die Finanzierung der GVP durch die DDR war er wohl informiert. Einigermaßen unverbunden wirken die jeweils angefügten Charakterisierungen der einzelnen Parteien. Es wird nicht deutlich, ob und in­wiefern Heinemann über die hier genannten Ein- und Überblicke verfügte.
Gravierender erscheint mir, dass T. die Motivation für Heinemanns parteipolitisches Handeln nicht wirklich durchsichtig zu machen vermag und dementsprechend auch nicht den Wechsel der Parteien. Handelte es sich dabei um ein »vagabundierendes Um­herstreifen in den unterschiedlichsten Ideenkreisen«? (237 f.) Folgte Heinemann mit Starrsinn seinen einmal als richtig erkannten Überzeugungen? Am Ende seiner Darstellung behandelt T. das Politikverständnis Heinemanns (215–230). Er erkennt völlig richtig, dass Artikel V der Barmer Theologischen Erklärung über das Verhältnis von Staat und Kirche für Heinemann grundlegende Bedeutung besaß. Aber er fügt hinzu, dass Heinemann doch nicht allein von seiner christlichen Überzeugung her agierte, sondern als nüchterner und pragmatischer Politiker. Mit einer solchen Alternative wird der angemessene Zugang zu Heinemanns Denken und Wirken blockiert. Bereits das Faktum, dass solche Überlegungen am Ende der Arbeit stehen und diese nicht strukturieren, belegt die Grenze der Erkenntnis. Dasselbe lässt sich am Umgang T.s mit der »Stuttgarter Schulderklärung« von 1945 belegen: Sie wird hier völlig zu Recht als der Dreh- und Angelpunkt auch von Heinemanns politischem Denken bezeichnet (85). Doch in der Darstellung ist von dieser Einsicht nichts zu spüren, sie wird nicht einmal als eine mögliche Motivation in Anschlag gebracht. Ebenso bleibt der ge­samte Bereich seines kirchlichen Handelns ausgeblendet. Das alles erscheint hier als eine eigene, mit der konkreten Politik unverbundene Dimension. Doch eine solche Auffassung geht an Heinemanns eigenem Verständnis vorbei. Er war ein überzeugter evangelischer Christ, der in der Kirche und in der kirchlichen Gemeinde wurzelte. Das war sein Erstes, seine primäre Bindung. Daraus folgte dann alles andere als ein Zweites, also auch sein konkretes politisches Eintreten für Demokratie und Freiheit, Versöhnung und soziale Gerechtigkeit. Ein solches Engagement konnte nach Hei­nemanns Verständnis nur nüchtern und pragmatisch sein, weil die weltanschauliche Bindung für ihn auf einem anderen Blatt stand, eben dem seines christlichen Glaubens. Von daher sind auch seine scharfen Attacken auf die CDU als einer »christlichen« Partei zu verstehen, nicht nur als Reaktion auf die Kränkungen, die ihm diese Seite zugefügt hatte. Kurz: Der evangelische Glaube war für Heinemann nicht irgendeine Stimmung oder emotionale Gesinnung, sondern die Triebfeder seines Denkens, Lebens und Tuns. In der Ausklammerung dieser Dimension besteht die Grenze der Arbeit.