Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

173-174

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Römer, Jürgen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vom Zwang zur Selbstverständlichkeit. 75 Jahre Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck 1934–2009. Beiträge des theologisch-historischen Symposions am 26. und 27. Juni 2009 in Bad Arolsen. Hrsg. im Auftrag der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und des Waldeckischen Geschichtsvereins.

Verlag:

Bad Arolsen: Waldeckischer Geschichtsverein 2009. IV, 187 S. m. Abb. 8° = Waldeckische Forschungen, 16. Geb. EUR 15,00. ISBN 978-3-932468-13-1.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Im Juni 2009 hat die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) mit einem Festgottesdienst und einem zweitägigen historischen Symposion ihr 75-jähriges Bestehen begangen. Der anzuzeigende Band dokumentiert die Predigt von Bischof Martin Hein und die acht Referate. Dabei ist unverkennbar, dass es sich für die meisten Beteiligten um ein unbequemes Jubiläum handelte.
Das Gründungsereignis, auf das man zurückblickte, war die Sitzung des Landeskirchentages der Evangelischen Kirche von Hessen-Kassel am 12.6.1934 im Kasseler Rathaus, auf der mit großer Mehrheit die Vereinigung mit der Landeskirche des ehemaligen Fürstentums Waldeck beschlossen wurde. Nachdem die für dieselbe Sitzung geplante Bischofswahl gescheitert war, blieb der Zu­sam­menschluss der beiden Kirchen das einzige substantielle Er­gebnis. Im weiteren zeitlichen Zusammenhang mit der Bildung der gemeinsamen Landeskirche erfolgte die Abgabe des waldeckischen Kirchenkreises Pyrmont (1933) und des kurhessischen Kirchenkreises Grafschaft Schaumburg (1937) an die hannoversche Landeskirche (vgl. dazu die materialreiche Darstellung von H. Otte, 69–107).
Die 1934 vollzogene Kirchenvereinigung war das Ergebnis ad­ministrativer Zwangsmaßnahmen im Rahmen der nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Beide Landeskirchen waren, technisch gesehen, »zerstört«. Auf Waldecker Seite war es ein vom Reichsbischof eingesetzter »Bevollmächtigter«, der unter Missachtung der Kirchenverfassung die Liquidierung seiner Kirche betrieb. Doch auch auf kurhessischer Seite wurde die Vereinigung unter rechtlich fragwürdigen Umständen ins Werk gesetzt. Als weiterer Makel er­scheint heute die Tatsache, dass die neue Landeskirche denselben Namen wie der NSDAP-Gau »Kurhessen-Waldeck« trug, auch wenn diese Zusammensetzung nachweislich keine Schöpfung der Nationalsozialisten war.
Andererseits war die Vereinigung der beiden Kirchen auch kein reiner Willkürakt. Vielmehr stand sie im Zusammenhang der mit­telfristigen politischen und kirchlichen Neugliederung Deutschlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Der Freistaat Waldeck war politisch schon 1929 in der preußischen Provinz Hessen-Nassau aufgegangen, der Pyrmonter Landesteil sogar schon 1922 zur Provinz Hannover gekommen. Seit Mitte der 1920er Jahre hatte die waldeckische Kirche Möglichkeiten des Anschlusses an eine großhessische Kirche, an die Kirche der preußischen Provinz Westfalen oder an die nordhessische Kirche geprüft. Dabei war der kirchliche Zu­sammenschluss mit Kurhessen nicht die bevorzugte, aber als Nachvollzug der politischen Neuordnung eine durchaus sinnvolle Op­tion. Auch unter anderen Umständen hätte die kleine waldeckische Kirche ihre Eigenständigkeit kaum bewahren können.
In den folgenden Jahren hat sich die Gemeinschaft von Kurhessen und Waldeck bewährt. Die gemeinsame Landeskirche hat unter dem Nationalsozialismus einen bemerkenswerten Sonderweg beschritten, indem hier bis zuletzt moderate deutschchristliche und bekenntniskirchliche Kräfte in einem funktionierenden Landeskirchenausschuss konstruktiv zusammengearbeitet haben (J.-C. Kaiser). Ihre endgültige Gestalt gewann die 1934 begründete Landeskirche mit dem 1945 verabschiedeten Leitungsgesetz und mit der Grundordnung von 1967. Als »Kirche der Mitte« (V. Leppin) hat sie ein unverwechselbares Profil gewonnen und eine schöne Erfolgsbilanz vorzuweisen.
Gleichwohl wird der Verlust der kirchlichen Eigenständigkeit in Waldeck noch immer als Trauma empfunden, das durch die Aufhebung des eigenen Sprengels Waldeck im Jahre 1975 noch verschärft wurde. Die 75-Jahr-Feier der EKKW und die Beiträge des Sammelbandes leisten unter diesem Aspekt auch so etwas wie eine erinnerungspolitische Wiedergutmachung. Nicht ohne Grund fanden die Festveranstaltungen wie schon bei der 50-Jahr-Feier nicht etwa in Kassel, sondern im waldeckischen Arolsen statt und wurden vom Waldeckischen Geschichtsverein mit ausgerichtet, in dessen Schriftenreihe der Tagungsband erscheint. Zwei Aufsätze sind explizit aus Waldecker Perspektive geschrieben, und selbst der wenig euphorische Titel »Vom Zwang zur Selbstverständlichkeit« entspricht eher waldeckischem als kurhessischem Empfinden. Fünf der acht Aufsätze behandeln die Ereignisse des Jahres 1934 und der Kirchenkampfzeit, einer ist den Aufbaujahren unter dem ersten Bischof Adolf Wüstemann (1945–1962) gewidmet. Im Einzel nen sind die Beiträge nach Gattung, Umfang und Ausstattung recht heterogen. Der wohlfeile Band bietet so keine geschlossene Geschichte der EKKW in den letzten 75 Jahren, doch vermittelt er tiefe und aufschlussreiche Einblicke in das Werden und das Selbstverständnis dieser Kirche.