Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

171-173

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hummel, Karl-Josef, u. Michael Kißener [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 317 S. m. Abb. u. Ktn. 8°. Geb. EUR 32,90. ISBN 978-3-506-76844-5 (2. Aufl. 2010: EUR 19,90. ISBN 978-3-506-77071-4).

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Der von dem Direktor der Bonner Forschungsstelle der (katholischen) Kommission für Zeitgeschichte K.-J. Hummel und dem Mainzer Ordinarius für Zeitgeschichte und Kommissionsmitglied M. Kißener herausgegebene Sammelband enthält neben fünf Beiträgen der Herausgeber fünf Beiträge weiterer Kommissionsmitglieder bzw. Mitarbeiter der Forschungsstelle (Th. Brechenmacher, Chr. Kösters, A. Mertens) sowie jeweils einen Beitrag der Würzburger Historiker W. Altgeld und M. Stickler. Das Buch stellt sich im Vorwort (9 f.) selbst ausdrücklich in die Kontinuitätslinie des von K. Gotto und K. Repgen – letzterem ist der Band gewidmet – herausgegebenen Sammelbandes. Der Titel von dessen zweiter und dritter Auflage (Mainz 1983 bzw. 1990) wurde wörtlich übernommen und auch die Karten zum »Wahlverhalten der katholischen Bevölkerung« wurden wieder abgedruckt (311–317). Das Buch will Orientierung bieten zum Verhalten von Papst, Bischöfen und Mitgliedern der katholischen Kirche 1933–1945 angesichts eines »kaum noch überschaubare[n] Gemenge[s] von gesicherten Fakten und hartnäckigen Geschichtsklischees, von historischen Einsichten und moralischen (Vor-)Urteilen«, angesichts des Streits um »Anpassung oder Widerstand, Kollaboration oder Distanz« (Einbandtext).
In seiner »historische[n] Einführung« betont Kißener, man habe nicht einen moralischen, sondern einen geschichtswissenschaftlichen Zugang gewählt, »für den der Begriff der ›Schuld‹ im Grunde keine angemessene Analysekategorie darstellt« (14). Dieser An­satz wird freilich bereits im nächsten Beitrag, »eine[r] wissenschafts- und forschungsgeschichtliche[n] Einführung« von Chr. Kösters, durch den Hinweis relativiert, es sei in der Vergangenheit nicht gelungen, »die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung über die nationalsozialistische Vergangenheit« und den »gesellschaftspolitische[n] ›Kampf um ihre Deutung‹« zu »entmoralisieren«; dies gelte »zumal für die christlichen Kirchen« (58). Kißener weist in seiner Einführung auf die Pluriformität der katholischen Volkskirche im NS-Staat hin; sie sei keineswegs »ein monolithischer, ihrem geistlichen Oberhaupte, dem römischen Papst, willenlos ergebener Block« gewesen und habe »eigene Handlungsspielräume« gehabt (15 f.). Das »Dritte Reich« definiert er als einen »entscheidend an der Person Adolf Hitlers ausgerichtete[n], moderne[n] totalitäre[n] Staat, dem zugleich eine Vielzahl polykratischer Führungselemente inhärent waren« (17). Kösters unterscheidet vier Phasen der Beschäftigung mit dem Thema: 1. eine Phase unkritischer Märtyrerverehrung bis Anfang der 1960er Jahre; 2. eine mit der Gründung der Kommission für Zeitgeschichte 1962 beginnende Phase historisch-kritischer Aufarbeitung; 3. eine Ende der 60er Jahre einsetzende Phase der kritischen Auseinandersetzung mit »Versuche[n], die ›Vergangenheit‹ als Argument für die Gegenwart zu missbrauchen und damit das alte Geschichtsbild der Erlebnisgeneration durch ein neues gesellschaftskritisches zu ersetzen, wonach die katholische Kirche im Dritten Reich ›anti-‹demokratisch, ›anti-‹bolschewistisch, ›anti-‹sozialistisch und ›anti-‹pazifistisch und deshalb gerade nicht ›anti-‹faschistisch gewesen sei«; 4. eine Phase forcierter Fokussierung des »Holocausts« seit Beginn der 1990er Jahre (58).
Der aus neun Beiträgen bestehende Hauptteil ist mit dem Un­tertitel des Buches, »Kontroversen und Debatten«, überschrieben. Die Verfasser und Verfasserinnen debattieren freilich nicht untereinander kontrovers; sie sind sich einig in der Zurückweisung der Behauptungen einer weltanschaulichen Nähe zwischen Katholiken und NS-Staat, einer Unterstützung oder Kollaboration sowie eines Versagens oder Schweigens der Bischöfe und des Papstes an­gesichts der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, insbesondere der Judenverfolgung. Dies geschieht meist in differenzierter Weise und mit schlüssigen Argumenten unter Heranziehung und Zitation einschlägiger Dokumente. Dabei wird u. a. auf fundamentale Gegensätze zwischen NS-Ideologie und katholischem Dogma, schwierige Rahmenbedingungen, Zielkonflikte, mangelnde Handlungsspielräume und Dilemmata, aber auch auf gemeinsame Schnittmengen und Milieuegoismus bzw. »defen­sive[s] ›Sakristeichristentum‹« (113) hingewiesen. Der Nationalso­zialismus wird zu Recht auch als Teil einer umfassenderen mo­- dernen historischen Entwicklung verstanden, dem gerade die konservative Beharrungskraft des primär an religiösen Fragen in­teressierten Katholizismus Paroli bot. Es wird an Beispielen zu zeigen versucht, dass für den Vatikan nicht allein das Bemühen um grundsätzliche außenpolitische Neutralität und um konkrete humanitäre Hilfeleistung, sondern teilweise auch schon der Menschenrechtsgedanke leitend gewesen sei. Etwas störend und eigentlich überflüssig ist der apologetische Unterton mancher Beiträge. Ist es immer noch nötig, so fragt man sich beispielsweise, sich an bestimmten, zum Teil jahrzehntealten Presseartikeln (vgl. etwa 104) oder an R. Hochhuths »Stellvertreter« von 1963 (vgl. etwa 125 u. 179) abzuarbeiten, die gar keinen wissenschaftlichen An­spruch erheben bzw. das Recht künstlerischer Freiheit für sich reklamieren können? Entsprechendes gälte im Übrigen wohl etwa auch für den mit umgekehrtem Vorzeichen versehenen aktuellen italienisch-deutschen TV-Spielfilm »Pius XII.« von Chr. Duguay.
W. Altgeld sieht in dem Konflikt zwischen NS-Weltanschauung und Katholizismus eine »neue Phase des konfessionellen Konflikts«: Die NSDAP habe gegen Ende der Weimarer Republik »auf die Mobilisierung antikatholischer evangelischer Motive gesetzt« und sei »geradewegs zur ›protestantischen Milieupartei‹ geworden«; »er­hebliche … Teile der nationalsozialistischen Eliten« hätten »ungebrochene … Bindungen … an evangelische Kirchlichkeit« aufgewiesen; »überwiegende … Mehrheiten der evangelischen Pastoren, Theo­logen, Verbände, Gemeinden« hätten sich zunächst enthusiastisch in den neuen Staat eingefügt; »unter solchen Um­ständen« sei die »Vorstellung einer katholisch-protestantischen Kooperation zum Schutze der jü­dischen Mitbürger eine historische Unmöglichkeit« gewesen (80 f.). Es fragt sich, ob solche Thesen – so zutreffend manche Aspekte sein mögen – nicht die sonst so vehement eingeforderte nötige Differenzierung vermissen lassen und ob hier der Blick auf die andere Konfession nicht lediglich die Funktion einer moralischen Entlastung der eigenen hat. Wenn Th. Brechenmacher »die heute schwer verständlichen Ausführungen Pius’ XII. vor dem Kardinalskollegium am Heiligen Abend des Jahres 1942«, in denen der Papst »ein Zentralverdikt des religiösen Antijudaismus«, nämlich »dasjenige des Gottesmordes« der Juden, aufgriff, wie folgt kommentiert: »Die Wahl dieser Bildlichkeit war vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse nicht besonders glücklich« (130 f.), so kann man fragen, ob solch eine Kommentierung besonders glücklich ist und ob die bloße Unterscheidung zwischen religiös motiviertem Antijudaismus und Rassenantisemitismus ausreichend ist, um das Phänomen der Ju­denfeindschaft historisch zu begreifen.
In einem extra Beitrag beschäftigt sich K.-J. Hummel mit »His­-torische[n] Photos als Mittel der Irreführung«, vornehmlich durch manipulierende Kontextualisierung und Kommentierung.
Eine zweite, verbesserte Auflage des Buches erschien bereits 2010.