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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

169-171

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Titel/Untertitel:

Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe – Ämter – Verbände – Personen. Bd. 1: Überregionale Einrichtungen. Bearb. v. H. Boberath, C. Nicolaisen u. R. Pabst.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 571 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen, 18. Geb. EUR 89,00. ISBN 978-3-525-55784-6.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Der Protestantismus, insbesondere der deutsche Protestantismus, zeichnet sich von jeher durch ein hohes Maß an organisatorischer, aber etwa auch bekenntnismäßiger Pluriformität aus. Selbst »Insidern« fällt es mitunter schwer, den Überblick zu behalten. Erst recht gilt dies für Außenstehende, die dann nicht selten der Gefahr erliegen, etwa im Vergleich mit der zweifellos sehr viel weniger pluriformen, zentralistisch-hierarchisch organisierten römisch-katholischen Weltkirche, allzu pauschal von »der evangelischen Kirche«, »den Protestanten« bzw. »dem Protestantismus« zu sprechen.
In dem Handbuch sind mehr als 800 überregionale Einrichtungen des deutschen Protestantismus (Organe, Ämter, Verbände, Gremien etc.), einschließlich ihrer personellen Besetzung, verzeichnet. Der berücksichtigte Zeitraum erstreckt sich vom Ende des Kaiserreiches über die Zeit der ersten deutschen Demokratie und die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bis zur Nachkriegs- bzw. Besatzungszeit. Die historisch so bedeutsamen politischen Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jh.s, die sog. »Novemberrevolution« 1918, die sog. »Machtergreifung« 1933, die sog. »Stunde Null« 1945 und die sog. »doppelte deutsche Staatsgründung« 1949, sind auf diese Weise erfasst. Die strukturellen und personellen Auswirkungen dieser Umbrüche auf den evangelisch-kirchlichen Bereich – die Veränderungen, aber auch die Kontinuitäten – werden sichtbar; dies ist eine »wesentliche Intention des Handbuches« (9).
Die Bearbeiter, der verstorbene ehemalige Leitende Archivdirektor des Bundesarchivs in Koblenz Heinz Boberach, der Kirchenhis­toriker und frühere Vorsitzende der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte Carsten Nicolaisen sowie die Archivarin im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin Ruth Pabst, sind ausgewiesene Kenner der kirchlichen Zeitgeschichte und haben in zahlreichen Publikationen bewiesen, wie gründlich und exakt sie recherchieren. Der vorliegende Band ist erneut ein eindrückliches Beispiel dafür. Die Bearbeiter haben sich nicht mit den Angaben in den Kirchlichen Jahrbüchern und den Deutschen Kirchlichen Adressbüchern begnügt, sondern sie haben die dortigen Angaben durch die systematische Auswertung von Quellenpublikationen und Sekundärliteratur sowie durch Recherchen u. a. in verschiedenen kirchlichen, staatlichen und kommunalen Archiven kritisch überprüft, Ergänzungen vorgenommen, Widersprüche aufgelöst und Fehler korrigiert.
Die Einrichtungen werden sinnvollerweise nach den folgenden Rubriken geordnet: Deutscher Evangelischer Kirchenbund (bis 1933), Deutsche Evangelische Kirche (1933 bis 1945), Evangelische Kirche in Deutschland (nach 1945), Evangelische Kirche der Altpreußischen Union, Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, Hilfswerke, Brüder-Unität, Freikirchen, Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, Äußere und Innere Mission (einschließlich der Fachverbände), sonstige Verbände und Einrichtungen (die nicht zur Inneren Mission gehörten, wie etwa der Bund der religiösen Sozialisten), Pfarrervereine, Presseverband, Gustav-Adolf-Werk, Evangelischer Bund und Martin-Luther-Bund. Im Anhang des Handbuches werden zudem die Militär-, Gefängnis- und Studentenpfarrer sowie die Mitglieder der theologischen Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen verzeichnet. Ein Personen- und ein Institutionenregister ermöglichen eine gezielte Re­cherche. So kann man sich beispielsweise genau informieren, in welchen Gremien und in welchen Funktionen sich ein prominenter Politiker wie Gustav Heinemann in der und für die evangelische Kirche überall engagiert hat oder etwa wie der Detmolder Kreis von 1947 einzuordnen ist und wer dort mitgewirkt hat.
Das Handbuch ist keineswegs ein bloßes Verzeichnis von Institutionen- und Personennamen, vielmehr werden die wichtigsten Einrichtungen in kurzen einleitenden Texten wie in einem Lexikon jeweils zunächst in prägnanter Weise vorgestellt. Dabei wird insbesondere auf die jeweiligen Zielsetzungen und inhaltlichen Ausrichtungen eingegangen sowie auf Vorläufer- und Nachfolgeeinrichtungen und Verbindungen zu anderen Einrichtungen verwiesen. Wer sich beispielsweise vergewissern will, was noch einmal genau die Aufgaben und die Unterschiede waren zwischen der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz (bis 1921), dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (1919 und 1921 bzw. 1924 bis 1930 – nicht zu verwechseln mit den heutigen Kirchentagen), dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss (1919 bis 1922/24 bzw. 1924 bis 1933) und dem Deutschen Evangelischen Kirchenbundesrat (ab 1924), der sollte in dem Handbuch nachlesen.
Besonders groß war die Zersplitterung des deutschen Protestantismus natürlich in der Zeit des sog. »Kirchenkampfes« 1933 bis 1945. Das Handbuch bietet hier eine vorzügliche Übersicht über die komplizierten Strukturen und Entwicklungen – u. a. über die noch nicht deutsch-christlich dominierten »Gremien zur Überleitung des Kirchenbundes in die Deutsche Evangelische Kirche« (April bis Juni 1933), die deutsch-christlich dominierten reichskirchlichen Organe und Ämter (Juli 1933 bis 1935), den nach dem faktischen Scheitern des deutsch-christlichen Reichsbischofs von dem staat lichen Reichskirchenminister eingesetzten Reichskirchenausschuss (Oktober 1935 bis Februar 1937) sowie weitere vom Staat aufoktroyierte Einrichtungen wie die einflussreiche, von anderen kirchlichen Gremien unabhängige Finanzabteilung (ab November 1935), die ab 1934 stark zersplitterte Bewegung der Deutschen Chris­ten, die sehr heterogene Bekennende Kirche mit ihren Synoden und Leitungsorganen sowie ihren diversen Vorläufern (Jungreformatorische Bewegung, Pfarrernotbund, Nürnberger Ausschuss, Ulmer Einung), die »Gremien zur Überwindung der Spaltung der Deutschen Evangelischen Kirche«, die sich teils um strikte Neutralität bemühten (wie der Wittenberger Bund), teils mehr oder we­-niger deutsch-christlich geprägt waren (wie der Arbeitskreis für die Neuordnung der Bearbeitung der weltlichen und geistlichen Angelegenheiten), teils aber auch bekenntniskirchlich (wie das Kirchliche Einigungswerk Theophil Wurms), die verschiedenen bekenntniskirchlichen konfessionellen – lutherischen und reformierten – Zusammenschlüsse (von denen die lutherischen wiederum Vorläufer der 1948 gegründeten Vereinigten Evangelisch-Lu­therischen Kirche Deutschlands waren). Deutsch-christlich bzw. bekenntniskirchlich geprägte Parallelstrukturen gab es natürlich auch in der altpreußischen Unionskirche.
Das Handbuch ist zusammen mit dem bereits 2006 (als Band 12 derselben Reihe) erschienenen Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919–1949 (zusammengestellt und bearbeitet von Hannelore Braun und Gertraud Grünzinger) ein unentbehrliches Hilfsmittel nicht nur zur Erschließung der insgesamt mittlerweile mehr als 100 Bände umfassenden wissenschaftlichen Reihen: Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes (einschließlich Er­gänzungsreihe) sowie Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte (Reihe A: Quellen; Reihe B: Darstellungen), sondern darüber hinaus auch zur Beschäftigung mit dem deutschen Protestantismus in der ersten Hälfte des 20. Jh.s überhaupt.