Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

166-168

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Holzem, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 844 S. m. Abb. gr.8° = Krieg in der Geschichte, 50. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-506-76785-1.

Rezensent:

Martin Ohst

Dokumentiert wird eine Tagung des Tübinger SFB 437: »Kriegserfahrung – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit«. Dessen Programm skizziert die Einleitung des Herausgebers, besonders be­denkenswert sind seine Überlegungen zur dreifachen Auffächerung des Themas: Kirchen sind in Kriege einmal durch ihr li­turgisch-rituelles Handeln verwickelt, zweitens beurteilen sie kriegerisches Handeln nach normativen Leitgesichtspunkten, drittens leisten sie Deutungen und Seelsorge: Diese Gesichtspunkte dürfen weder künstlich voneinander getrennt noch undifferenziert ineinandergeblendet werden (27)!
Die Beiträge von Mitarbeiterinnen des SFB präsentieren überzeugend dessen innovatives erfahrungsgeschichtliches Arbeitsprogramm: Laure Ognois (633–655) zeigt, wie theologisch unterschiedlich orientierte reformierte Prediger die politischen Umwälzungen in der Schweiz zwischen 1798 und 1803 in gedruckten Predigten gedeutet haben; hierzu nur eine Bemerkung: Bei der zeitgeschichtlichen Interpretation von Predigten muss minutiös darauf geachtet werden, wann sie gehalten und wann sie gedruckt worden sind! Annette Jantzen führt Zeugnisse über den Ersten Weltkrieg von katholischen Geistlichen aus den Diözesen Nancy und Straßburg vor (705–714). Die Lothringer deuteten den Krieg geschichtstheologisch dezidiert aus französischer Warte; bei den Elsässern fehlte jedwedes vergleichbare nationale Pathos; Ansätze für eine grundsätzliche Neubesinnung angesichts der Gräuel des industrialisierten Krieges fanden sich nirgendwo. Anhand seiner Schriftstellerei und seiner Tagebücher rekonstruiert Bettina Reichmann die un­terschiedlichen Ebenen der theologischen Kriegsdeutung des un­garischen Bischofs Ottokár Prohászka (719–735): In ganz eigenläufigen, für aktuelles Erleben nur selten sich öffnenden doktrinären Gleisen deutete er den Weltkrieg als göttliches Erziehungshandeln im Sinne einer religiös-nationalen Wiedergeburt und als Station auf dem Wege zu einer gerechteren Friedensordnung. Antonia Leugers (777–810) untersucht Feldpostbriefe, die Jesuiten während des Zweiten Weltkrieges von der Ostfront an ihre Ordensbrüder in der Heimat richteten. Obwohl in Distanz zum NS-Staat stehend und von diesem diskriminiert, bejahten sie den Krieg gegen die Sowjetunion emphatisch als religiös-sittliche Aufgabe mit weitreichenden geschichtstheologischen Perspektiven (789). Die vorgesetzten Instanzen im Orden wählten ihrerseits Passagen dieser Briefe aus, welche sie in Rundbriefen der Ordensöffentlichkeit mitteilten, und bezeugten durch deren Auswahl ihre eigenen Deutungen und Er­wartungen. Wenn er auch nicht aus dem SFB stammt, so gehört doch der Beitrag von Christian Greinitz auch in diese Reihe: An­hand einer umfänglichen offiziösen Sammlung von Musterpredigten schildert er »Nationalisierung und Kriegstheologie der deutschen Katholiken zu Beginn des Ersten Weltkriegs am Beispiel der Erz­-diözese Freiburg« (680–704). Bedrückend ist sein Befund, dass »der Beistand oft nicht das Ziel, sondern das Mittel der katholischen Seelsorge für missionarische oder selbstdarstellerische Zwecke war« (692).
Die anderen Aufsätze des Bandes bieten eine reiche Fülle von Arbeiten zum Gesamtthema aus den Federn renommierter Autoren. Das Spektrum reicht von der Bibel und der Klassischen Antike bis zur gegenwärtigen US-amerikanischen Politik. Einige Beiträge seien hervorgehoben. Hanns Christof Brennecke legt überzeugend dar, dass die vorkonstantinische Kirche mitnichten im modernen Sinne »pazifistisch« war; Konflikte zwischen Christen- und Soldatenstand ergaben sich in erster Linie aus den heidnisch-religiösen Implikationen militärischer Rituale. Ebenso besonnen wie gründlich räumt Ernst-Dieter Hehl (323–340) mit dem Gerede von »Heiligen« Kriegen der westlichen Christenheit im Mittelalter auf: Kriege galten als solche nie als heilig, sondern allenfalls nach festen Kriterien als gerecht. Im religiösen Sinne verdienstlich weil heilbringend konnten sie, so jedenfalls die Doktrin, für den Einzelnen nur sein, wenn er an ihnen in der rechten Gesinnung teilnahm. Martin Luther hat bekanntlich den Gedanken des religiös verdienstlichen Kriegführens um Christi und seines Reiches willen radikal verneint, den Verteidigungskrieg gegen die Türken jedoch als weltlich legitimen Akt der militärischen Selbstverteidigung gefordert. Das Kriegshandwerk konnte er wie alle Arbeit im Dienste des irdischen Gemeinwesens als Handlungsfeld gelebten christlichen Glaubens anerkennen, weil er die Stufung der ethischen Forderung zwischen Geistlichen/Mönchen und Laien verneinte. So entstand ein neues Bild der politischen Welt – losgelöst von der Notwendigkeit klerikaler Legitimation und Leitung, nichtsdestoweniger von Gott eingesetzt und gewollt wie Ehe und Familie. Diese Neuerungen zeichnen sich im Beitrag von Volker Leppin nur ganz schemenhaft ab (403–414). Umso schärfer profiliert Heinrich Richard Schmidt das politische Profil des reformierten Protestantismus (415–438): »zweifellos ist es das Fehlen einer Zwei-Reiche-Lehre …, das die zwinglianische und die calvinistische Kirche von den lutherischen trennt« (415). Dieser Beitrag gibt zusammen mit dem von Philip Benedict (»Prophetische Politik? Geistliche, Krieg und Exempel des Alten Testaments in den französischen Religionskriegen«, 505–526) manches Zeugnis der »nur teilweise günstigen« (Emanuel Hirsch) Einwirkung des Alten Testaments auf die Kirchengeschichte. Unter den Beiträgen zum konfessionellen Zeitalter sticht durch Materialfülle und begriffliche Schärfe die Studie von Anton Schindling über »Türkenkriege und ›konfessionelle Bürgerkriege‹: Erfahrungen mit ›Religionskriegen‹ in der frühen Neuzeit« (596–624) heraus. Dasselbe gilt für die neueste Zeit von Martin Schulze Wessels faszinierendem Vergleich zwischen »Religion im Russländischen Reich und in der Habsburger Monarchie im Ersten Weltkrieg« (736–751).
Ein theologie- und rechtsgeschichtlicher Faktor, der im christlichen Westen von der Spätantike bis in die Neuzeit für das Problem der großkirchlichen (In)-Toleranz gegen Häretiker und Schismatiker und der Gewaltanwendung gegen sie von schwerlich überschätzbarer Bedeutung ist, kommt schlichtweg zu kurz: Die einschlägigen Äußerungen Augustins im Donatistenstreit, die, in Auswahl ins Decretum Gratiani übernommen, herausragenden normativen Rang erhielten: Der ansonsten ganz vorzügliche Beitrag von Johannes Brachtendorf (»Augustinus: Friedensethik und Friedenspolitik«, 234–253) berührt all das lediglich am Rande, und es ist symptomatisch, dass der Herausgeber bzw. sein Gewährsmann in seinem Aufsatz »Barockscholastik in der Predigt: Kriegsethik, Sündenschuld und der Kampf gegen Trübsal und Verzweiflung« eine hier einschlägige Quelle, Augustins Brief 89 an Festus (MPL 33, Sp. 309–313), mit dem großen Werk gegen den Manichäer Faustus verwechselt (562.567).
Insgesamt ist es beeindruckend, dass sich in vielen der Beiträge ein nahezu ubiquitäres religiös-theologisches Muster der Kriegsdeutung abzeichnet, zumal in Predigten: Predigten in Kriegszeiten waren in erster Linie Bußpredigten. Der Kriegsanlass bzw. die Katastrophe des Krieges selbst ermöglicht denjenigen, so die immer wiederkehrende Botschaft, welche hier und jetzt Gottes Bußruf zu hören vermögen, eine zeitlich wie ewig heilvolle, wenngleich schmerzhafte Katharsis. Dieses Muster ist bei formaler Konstanz inhaltlich geradezu unendlich variabel, denn die »Sünde«, welcher die »Buße« gilt, kann ja ganz unterschiedlich gefasst werden.
Abschließend sei kritisch vermerkt, dass die (oftmals höchst ge­haltvollen!) Anmerkungen als Endnoten hinter den Beiträgen versteckt sind – rechnet man etwa mit wissenschaftlich desinteressierten Lesern?