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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

160-164

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften. 600 Jahre Universität Leipzig. 2 Bde.: Essayband u. Ausstellungskatalog.

Verlag:

Dresden: Sandstein Verlag 2009. Essaybd.: Im Auftrag. d. Rektors d. Universität Leipzig, F. Häuser, hrsg. v. D. Döring u. C. Hollberg unter Mitarbeit v. T. U. Müller. 380 S. m. Abb. 4°. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-940319-60-9. Katalogbd.: Jubiläumsausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, Altes Rathaus. Eine Ausstellung der Universität Leipzig in Zusammenarbeit mit der Stadt Leipzig und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Im Auftrag des Rektors d. Universität Leipzig, F. Häuser, hrsg. v. D. Döring, R. Hiller von Gaertringen, C. Hollberg u. V. Rodekamp unter Mitarbeit v. T.U. Müller. 479 S. m. Abb. 4°. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-940319-61-6.

Rezensent:

Martin Petzoldt

Die 600-Jahr-Feier der Universität Leipzig im Jahr 2009 hat u. a. eine umfangreiche Ausstellung hervorgebracht, die als Jubiläumsausstellung im Alten Rathaus zu Leipzig zu sehen war und in Kooperation mit der Stadt Leipzig und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig entstanden ist. Die beiden großformatigen Bände, die in einem Schuber zur Ausstellung erschienen sind, geben in repräsentativer Weise einen guten Eindruck von diesem Ereignis wieder. Es versteht sich von selbst, dass in der ThLZ der Blick auf die Anteile der Theologie und die ihr nahestehenden Gebiete gerichtet wird, was keinesfalls eine Geringachtung der anderen Bereiche bedeuten kann.
Der Band mit Essays vereinigt eine große Zahl an Beiträgen, die wesentlich durch das Thema der Aufklärung bestimmt und zusammengehalten werden. Das zeigt aber auch, dass bereits hier, wie dann auch in der Ausstellung selbst, dem Horizont der Theologie eine deutlich geringere Aufmerksamkeit zugebilligt wird, ja es auch gelegentliche Anzeichen für dessen Ausgrenzung gibt. Das mag unter der bestimmenden Thematik der Aufklärung nachvollziehbar erscheinen, gerät aber an Grenzen, da in Deutschland überhaupt, jedoch auch im Leipzig des 17. und der ersten Jahrzehnte des 18. Jh.s »Aufklärung« in hohem Maße eine geistige Bewegung war, die sich zwar nicht einfach immer in der Gemeinschaft mit der Theologie, aber doch nicht ohne oder gar etwa ausschließlich gegen sie vollzogen hat. Für die Folgejahrzehnte sieht das dann schon anders aus. Diese Grundeinsichten scheinen doch gelegentlich aus dem Blick zu geraten.
Unter dem Titel »Grundlagen und Vorgeschichte der Aufklärung« (16–71) geht es um Schulen im Umfeld der spätmittelalterlichen Universität Leipzig und um deren Gründung (E. Bünz), um Scholastik und Humanismus (Th. Lang), um Mathematik und Naturwissenschaften bis zum 16. Jh. (M. Folkerts) und um das mitteldeutsche Bildungswesen vom Schmalkaldischen bis zum Ende des 30-Jährigen Krieges (U. Ludwig). Der Teiltitel »Die Aufklärung in Sachsen« (74–167) vereinigt Überblicke zu Politik und Gesellschaft (U. Schirmer), zum niederen Schulwesen (Th. Töpfer), zum Gelehrtenschulwesen (J. Flöter), den Universitäten (U. Rasche), Sozietäten, Naturalienkabinetten, Kunstsammlungen (D. Döring), Bibliotheken (Th. Döring), Adel und Wissenschaft (J. Bronisch) und weiblicher Gelehrsamkeit (C. C. Köhler). Dann folgen Essays unter dem Teiltitel »Wissenschaftliche Disziplinen im Kontext der Aufklärung« (170–313) zur Juristenfakultät (B.-R. Kern), Theologischen Fakultät (A. Gößner), Literatur (K. Manger), Philologie und Philosophie (D. Döring), Orientalistik (B. Liebrenz), Kunstgeschichte und Archäologie (R. Hiller v. Gaertringen), Astronomie (P. Brosche, J. Hamel), Mathematik (R. Thiele), Chemie (L. Beyer), Elektrizität (O. Hochadel), Ökonomie (F. Quaas), Montanwissenschaft (H. Albrecht, J. Zaun), Geschichtswissenschaft (U. v. Hehl), Anthropologie (H.-P. Nowitzky), Medizin (O. Riha), Botanik (P. Otto). Abschließend wird das Thema »Formen der Bildung außerhalb von Universität und Schulen« mit folgenden Themen behandelt: Forschungs- und Bildungsreisen, Wissenschaft und Gelehrsamkeit (D. Döring), Zeichnungs-, Mahlerey-, und Architectus-Academie in Leipzig (M. Wenzel), Studentische Collegia musica zur Zeit J. S. Bachs (A. Glöckner), Musik an der Universität (H. Loos), Theaterwesen (D. Fulda).
Der Essay-Band – wie natürlich auch der Katalog-Band – ist mit reichlichem Bildmaterial versehen, das zum Teil erstmalig zu se­hen sein dürfte und sehr gut reproduziert ist. In der Wiedergabe und der jeweiligen sachlichen und historischen Einordnung des Exponats im Katalog-Band zeigen sich Weite und Grenze dieser hochbedeutsamen Ausstellung.
Gleich auf dem Umschlag beider Bände, wie auch auf Werbefahnen und Eintrittskarten, wird als Signet ein schematisierter menschlicher Kopf gezeigt, zu dem drei unbezeichnete Mehrfach-Kreise von außen in Beziehung gesetzt sind. Die Verbindungslinien lassen Hinweise auf die Gehirnleistung des Menschen ahnen, die mit den fünf Sinnen und ihren Möglichkeiten korrelieren. Im Katalog-Band wird man (219) davon unterrichtet, dass die auf Werbefahnen und Eintrittskarten veröffentlichte Darstellung nicht nur ihrer Vollständigkeit beraubt ist, sondern offenbar dem Titel der Ausstellung geschuldet – warum eigentlich? – völlig enttheologisiert und damit ihres eigentlichen Sinnes entkleidet wurde. Es handelt sich um einen Einblatt-Kupferstich von etwa 1619, der im Gefolge von Robert Fludds (1574–1637) Schrift Utriusque cosmi maio­ris scilicet et minoris metaphysica entstanden sein mag (fälsch­licherweise mehrfach gedruckt silicet!). Fludd war Aristoteliker und stand in hermetisch-kabbalistischer Tradition, übrigens scharf kritisiert von Johannes Kepler, also alles andere als ein früher Vertreter der Aufklärung. Neben mundus sensibilis und mundus imaginabilis und ihrem Einfluss auf das Denken des Menschen spielt natürlich der – auf Werbefahnen und Eintrittskarten getilgte – mundus intellectualis die eigentlich entscheidende Rolle, der im neuplatonisch-christlichen Sinn durch den trinitarischen Gott im Zentrum und seinem bestimmenden Einfluss auf den Menschen und sein Denken bezeichnet wird. Hätte man zur 550-Jahr-Feier der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig im Jahr 1959 dieses zurechtgestutzte Signet veröffentlicht, wäre es ärgerlich ge­wesen und ein Hinweis auf borniertes und selbstbezogenes ideologisches Denken, was natürlich keine Entschuldigung hätte sein können. Wie soll man aber heute eine solche Fälschung – und eine solche ist das! – bewerten und kommentieren? Die Antwort mögen sich die Leser selbst geben.
Der Beitrag über die Theologische Fakultät von Andreas Gößner (178–185) informiert im Ganzen zuverlässig, wenn man sich auch wenigstens einen Hinweis auf jenes wichtige und zugleich entlas­tende Gutachten der Fakultät von 1714 gewünscht hätte, das sich mit historisch-kritischer Argumentation gegen die jahrhundertealte Blutschuldlüge wendet, die über die Juden verbreitet wurde und sehr oft Anlass für extreme Pogrome wurde.
Es entstand auf Anforderung des Kurfürsten und polnischen Königs, Augusts des Starken, der sich damit – als katholischer Regent durch ein Gutachten einer evangelisch-lutherischen Fakultät – Handlungsfreiheit in Polen zu verschaffen gedachte (vgl. Arno Herzig, Das Gutachten der Leipziger Theolo­gischen Fakultät von 1714 gegen die jahrhundertealte Blutschuldlüge, in: Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, hrsg. von der Eph­raim-Carlebach-Stiftung, Leipzig 1994, 28–34). Die Nichterwähnung und -berück­sichtigung dieses Gutachtens ist nicht nur für die Sicht der Leipziger Theologischen Fakultät als wirklicher Verlust zu beklagen, sondern auch für die gesamte Universität. Denn wo gab es zu dieser Zeit eine Stimme, die tatsächlich von solch einer differenziert urteilenden Geistigkeit der Theologie oder der Aufklärung – oder vielleicht beider – zeugt?
Überraschend und zugleich hochproblematisch, weil merkwürdig reduziert auf »Orientalistik« im engeren Sinn, erscheint der Beitrag von Boris Liebrenz, Orientalistik (202–209), aus folgendem Grund: Es ist gut bekannt und ausreichend dokumentiert, dass mit Einführung der Reformation an der Universität Leipzig ausdrücklich eine »Professur für hebräische Sprache« gegründet wurde (1542), die bis 1809 Bestand hatte und seitdem als Professur für morgenländische Sprachen firmierte. Dass sich »erst im Jahre 1669 ein Lehrstuhl für orientalische Sprachen in Leipzig nachweisen läßt« (202), ist daher eine irreführende völlige Verkehrung tatsächlicher Sachverhalte und womöglich aus Unwissenheit erklärbar, aber in einer solchen Ausstellung nicht hinnehmbar; einen solchen Fehlstatus hätten zumindest die Herausgeber bemerken müssen.
Die Professur für hebräische Sprache war weder der Philosophischen noch der Theologischen Fakultät zugewiesen, wenngleich es anstellungsmäßige Verbindungen zu der einen und zu der anderen gab. Die Professur hat außerdem in ihrem Umkreis zweifellos erheblich mehr geleistet, als ihr Name sagt, und Personen gebunden, die sehr verschiedene semitische, arabische und orientalische Sprachen vertraten und lehrten. Sie ist in ihren Inhabern sogar als Beispiel für die erstaunliche Weite des Wissens und der Wissensbeherrschung in einer Zeit zu nennen, die allzu lang mit dem undifferenzierten Stichwort der starren Orthodoxie belegt und diskre­-ditiert wurde. Ihre Inhaber waren in der Regel Philosophen oder Theologen, die dort nicht selten auf eine Berufung in eine dieser beiden Fakultäten warteten und dennoch sehr Spezifisches leisteten.
Als Beispiel für erstaunliche personelle Beweglichkeit im Um­kreis der hebrä­-ischen Professur sei auf den Zeitraum des späten 17. und frühen 18. Jh.s hingewiesen, der fälschlicherweise als Beginn gepriesen wird, jedoch merkwürdig unterbelichtet bleibt; denn eine wesentliche Besonderheit dieser Zeit liegt in der bemerkenswerten Tatsache, dass als Lektoren auch Menschen jüdischer Herkunft tätig gewesen sind, deren Namen zum Teil bekannt sind und we­-nigs­tens in Beispielen folgen sollen: Während Johann Benedikt Carpzov (1639–1699) in den Jahren 1669–1684 die Professur inne hatte, stellte die Theologische Fakultät als Lector linguae Rabbinicae et Talmudicae den jüdischen Konvertiten Friedrich Albrecht Christiani, mit jüdischem Namen Baruch, am hebrä­-ischen Lehrstuhl an (1680); mit August Pfeiffer (1635–1698) auf der hebräischen Professur (1684–1689), auf den ausführlicher, jedoch eben irreführend als Inhaber des »Orientalistik«-Lehrstuhls, eingegangen wird (204–205), verpflichtete man einen Gelehrten, der – die Tragfähigkeit überlieferter Nachrichten vorausgesetzt – 70 orientalische Sprachen zu verstehen vermocht habe. Aus seiner Zeit sind mindestens vier Namen von Lehrern für die hebräische und andere orientalische Sprachen bekannt, die – leider nur mit wenigen Daten belegbar – der Erwähnung wert sind: M. Christian Zoega, Matthias Wasmuth (1685–1695), Friedrich Wilhelm Bierling sowie ein gewisser Labatti, der ein bekehrter Jude gewesen sein soll. 1699 erhielt der erwähnte Christian Ludovici (205), zugleich Conrector substitutus der Thomasschule, eine Professur für orientalische Sprachen und den Talmud. Unter den Professoren für hebräische Sprache Johann Georg Abicht (Professor 1702–1717) und Johann Gottlob Carpzov (Professor 1719–1730) sind seit 1714 Matthias Georg Schröter, 1719–1720 Karl Dadichi (ein griechischer Christ aus Antiochien, nachmals in Halle lehrend) und von 1720 an ein gewisser M. Gößgen tätig. 1728 erst wird ein Extraordinariat linguae arabicae gegründet. Dass die Professur für hebräische Sprache 1809 schließlich – wie oben bereits erwähnt – umgewidmet wurde zu einer Professur für morgenländische Sprachen, könnte bereits mit der schleichend erstarkenden antisemitischen Grundhaltung des 19. Jh.s zu tun haben.
Detlef Döring schreibt über die Philosophie (210–217) und damit auch über ihr Verhältnis zur Theologie. Die ablehnende Haltung des Wolffianismus durch die Theologen wird in den frühen Jahrzehnten des 18. Jh.s allerdings nur durch Valentin Ernst Löscher belegt (212), der zwar repräsentativ ist, doch – da dieser Wittenberger und Dresdner ist – nicht die Gesprächslage in der Theologischen Fakultät Leipzigs wiedergibt; denn die Leipziger Fakultät suchte sich spätestens seit Johann Hülsemann (1602–1661) von der Wittenberger zu emanzipieren, was gerade auch für die ersten Jahrzehnte des 18. Jh.s wichtig bleibt. Neben Gottsched wird auf Jöcher verwiesen, der sich aktiv auf Wolffs Philosophie bezieht, nicht aber auf die im Blick auf die biblische Auslegungsmethodik mit der Leibnizschen und Wolffschen Philosophie sich progressiv auseinandersetzenden Theologen Christoph Wolle (1700–1761) und Ro­manus Teller (1703–1750) der Fakultät.
Der Beitrag von Helmut Loos (338–343) geht eigentlich der Frage nach der Etablierung der Musikwissenschaft an der Universität Leipzig, weniger der Frage der Universität als Stätte musikalischer Ausbildung, nach. Gerade unter der Perspektive der musikwissenschaftlichen Entwicklung leistet er im Kontakt mit Reformationsgeschichte und lutherischer Theologie in knapper doch überzeugender Weise Wesentliches. Eine Kleinigkeit sei korrigiert: Lorenz Mizler (1711–1778) kann nicht bei Christian Wolff in Leipzig studiert haben, da dieser als Privatdozent Mathematik hier bereits von 1703 bis 1706 lehrte (342, vgl. 212).
Beide Bände können – neben der großangelegten, aber noch nicht vollendeten Universitätsgeschichte – für sich in Anspruch nehmen, dem Universitätsjubiläum von 2009, dem im Verhältnis zur Fünfhundertjahrfeier 1909 leider eine nur schmale Außenwirkung beschieden war, ein bleibendes Denkmal gesetzt zu haben. Hervorgehoben sei bei dieser Ausstellung die Beteiligung der Stadt Leipzig, die sich sonst im Blick auf »ihre« Universität im Jahr 2009 auch eher zurückgehalten hat.