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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

152-154

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Feneberg, Rupert

Titel/Untertitel:

Die Erwählung Israels und die Gemeinde Jesu Christi. Biographie und Theologie Jesu im Matthäusevangelium.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2009. 398 S. gr.8° = Herders Biblische Studien, 58. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-451-30168-1.

Rezensent:

Gernot Garbe

Der Autor dieses Bandes aus der Reihe Herders Biblische Studien, Rupert Feneberg, ist emeritierter Professor für Katholische Theologie/Religionspädagogik (mit Schwerpunkt Neues Testament) an der Pädagogischen Hochschule Weingarten (Oberschwaben).
F. knüpft damit an sein im Jahr 2000 erschienenes Buch Der Jude Jesus und die Heiden. Biographie und Theologie Jesu im Markusevangelium (2. Auflage 2001) an und führt dort Begonnenes weiter. Die Titel beider Werke zeigen an, in welcher Richtung der Auslegungsschwerpunkt F.s liegt, nämlich in der Reflexion der Tatsache, dass die neutestamentlichen Evangelien im Spannungsfeld von Partikularismus und Universalismus, jüdischer Herkunft Jesu und Öffnung für das »heidnische« Umfeld angesiedelt sind.
Sein Programm formuliert F. im ersten Teil seines Buches »Der Jude Jesus und die Heiden«: »Es ist an der Zeit, dass sich die Ergebnisse des jüdisch-christlichen Gesprächs auch in der Auslegung der Evangelien stärker auswirken. … Man könnte sagen: Es bedarf heute insgesamt eines Paradigmenwechsels bei der Interpretation der Evangelien.« (9)
Mit Blick auf die »Gattung« seines neuen Buches kann man von einer »Mischform« zwischen Monographie und Kommentar sprechen: Gut ein Viertel (die ersten knapp 100 Seiten) sind hermeneutischen Überlegungen zum Evangelium des Matthäus gewidmet, und zwar unter der Leitfrage: Wie entstand die heidenchristliche Gemeinde? Der dann folgende Kommentar zum Evangelium des Matthäus will keine Vers-für-Vers-Auslegung liefern, sondern »Längs- und Querschnitte« (101) geben, wobei es »immer um eine Interpretation des ganzen Evangeliums mit Blick auf sein Leitthema: die Heidenfrage« (96) geht.
1. Zur Situation der matthäischen Gemeinde: Im ersten Teil seines Buches stellt F. seine Sicht der Entstehungsgeschichte der matthäischen heidenchristlichen Gemeinde dar. Ausgehend von Überlegungen über den historischen Jesus (»Was bedeutet es für Christen, dass Jesus nicht nur aus dem Judentum stammt, sondern dass er auch theologisch Jude war und immer geblieben ist?«, 19), legt F. dar, dass die bleibende Verwurzelung im Judentum und in der syna­gogalen Gemeinde auch für den Verfasser des Matthäusevange­liums gilt. Mit der großen Mehrheit der Forscher siedelt F. das MtEv gegen Ende des 1. Jh.s im syrischen Raum (vermutlich Antiochien) an, wo sich »ein ganzer Synagogenverband mit Tausenden von Mitgliedern und eine oder vielleicht auch ein paar kleine Gruppen von ein paar Dutzend charismatischen Jesusanhängern« (53) gegenüberstehen.
F. parallelisiert den Konflikt, der hinter der Entstehung des MtEv steht, mit dem Konflikt in Antiochien am Ende der 40er Jahre (vgl. Gal 2,11–14 und Apg 11 bzw. 15): Der Evangelist Matthäus, als jüdischer Jesusjünger selbst Mitglied der Synagoge, versucht, die Gräben zwischen den (wenigen) jüdischen Jesusanhängern und der Mehrheit der Synagogengemeinde, die Jesus als den Messias ab­lehnt, zu überbrücken. Als entscheidendes Problem ist dabei die erfolgreiche Heidenmission anzusehen. Matthäus muss geahnt ha­ben, dass es letztlich zum Bruch kommen werde, er versuchte aber dennoch, dagegen anzukämpfen.
Die Beziehung zwischen der Synagogengemeinde und der christlichen Gemeinde charakterisiert F. mit Bildern, die die problematische Dynamik verdeutlichen: »Man kann die Situation mit einer zerrütteten Ehe vergleichen. Nur wer sich sehr nahe steht, kann sich auch heftig verletzen.« (59) »Eine Verbindung zur Synagoge bleibt: Es sind die wenigen jüdischen Jesusanhänger, die als Juden zur Syna­goge gehören und die wegen ihres Glaubens an Jesus als den Mes­sias den Heidenchristen Gemeinschaft gewähren, mit ihnen auch essen, feiern und gemeinsam leben. Sie sind die Nabelschnur, mit deren Hilfe die christliche Gemeinde genährt wird.« (62) Gerade die (personale, sozial erlebbare) Nähe der neuen Jesusbewegung zur jüdischen Gemeinde als »Mutter« begründet auch die Schärfe der Polemik. Es handelt sich also nicht, wie Ulrich Luz es formuliert hat, um einen »Nachentscheidungskonflikt«, also einen Konflikt nach der Trennung der christlichen Gemeinde von der Synagoge (Ulrich Luz, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem, EvTh 53 [1993], 310–327; 317).
2. Exegetische Durchführung: Von der Auslegung des MtEv möchte ich drei Aspekte herausgreifen, die die Position F.s verdeutlichen.
a) Das Gesetzesverständnis: Als jüdischem Jesusanhänger ist für Mt die Tora weiterhin uneingeschränkt gültig. Nicht über die Gültigkeit der Tora, sondern über die der Tora entsprechende Lebensführung geht der Streit mit der Mehrheit der synagogalen Gemeinde, speziell mit den Pharisäern. »Es geht um die eine ›Gerechtigkeit‹, die aber mehr ins Leben überfließen muss als das oft bei den Schriftgelehrten und Pharisäern der Fall ist« (171). F. sieht hier in den gängigen Kommentaren und Übersetzungen einen »Übersetzungsfehler«, der s. E. eine Hauptquelle der »Ablösungstheorie« (ebd.) geworden ist: περισσεύω sei nicht mit »übertreffen«, »übersteigen« oder Ähnlichem zu übersetzen, sondern mit »(hin-)überfließen«, und πλεȋον beziehe sich adverbial nicht auf die »bessere« Gerechtigkeit, sondern auf das quantitativ, in größerem Umfang geforderte »Überfließen« der Tora in das Leben hinein.
Strategisch möchte das MtEv dabei sowohl die ihm zeitgenössischen Schriftgelehrten als auch die Gemeinde der Synagoge von der Sachgemäßheit der Tora-Auslegung Jesu und somit von der Berechtigung seines messianischen Anspruches überzeugen.
b) Die Bedeutung des Todes Jesu und des Abendmahls: Die Richtung der Auslegung des matthäischen Abendmahlverständnisses zeigt sich schon in der Kapitelüberschrift: »Jesus stirbt am Kreuz für seine heidenchristliche Gemeinde« (340); dies ist nämlich nicht nur in einem allgemeinen Sinn auf die Heilsbedeutung des Todes Jesu bezogen, sondern gilt auch für das Abendmahl: »beim letzten Mahl stellt Jesus den Zusammenhang ausdrücklich her zwischen seinem bevorstehenden Tod und seiner Sendung als Christus. Er setzt sein Leben als Jude (›sein Bundesblut‹) für die Heiden ein. … Matthäus interpretiert also dieses Wort Jesu von den Vielen (Mt 26,28), für die Jesus sein Bundesblut vergießen wird, explizit auf die Heiden.« (359). Die zwölf Jünger, die als Juden ohnehin schon Anteil am Bundesblut haben, »werden durch das Trinken aus dem Becher in die Sendung Jesu eingebunden, wegen der sein eigenes Bundesblut für die Heiden vergossen wird.« (360) – Als größerer Deutungsrahmen steht dabei im Hintergrund das Konzept der Erwählung Israels, die immer schon die Heiden mit im Blick hatte. Jesus wendet sich nun explizit den Heiden zu, um eine »zweite Erwählungsgemeinde« (362) zu gründen. Gemeinsam ist aber Ju­den und Nichtjuden die »Notwendigkeit der Umkehr, um wahre Kinder Abrahams zu bleiben« (362).
c) Die Gründung der heidenchristlichen Gemeinde durch Jesus: Die bleibende Erwählung Israels wird vom MtEv nicht infrage gestellt, vielmehr gründet Jesus neben dem erwählten Volk eine zweite Heilsgemeinschaft, nämlich die heidenchristliche Gemeinde. Das zeigt sich etwa in der Auslegung des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl: Die Erstgeladenen sind die Autoritäten in Israel, die neu eingeladenen sind die Heidenchristen, und sie werden »die von Jesus angekündigte neue heidenchristliche Sammlung bilden, die wegen der Gleichgültigkeit und Ablehnung der Erstgeladenen nur neben der jüdischen Synagoge entstehen kann. Jesus hat wieder nicht die Erwählung Israels infrage gestellt« (314). Die Schuld der Ablehnung und der Blutspruch (27,25) sind mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 abgegolten (330 mit Anm. 67). Bei der Erscheinung des auferstandenen Jesus gibt dieser dann den elf verbliebenen Jüngern den »Auftrag zur Heidenmission und zur Gründung einer heidenchristlichen Gemeinde« (377).
Trotz einer gewissen Skepsis gegenüber der Gesamtthese und Anfragen an einzelne exegetische Entscheidungen ist zu sagen, dass F. einen beeindruckend kohärenten Neuentwurf vorgelegt hat, an dem man in Zukunft in der Mt-Forschung nicht vorbeigehen kann. Kritisch wäre einzuwenden, dass einzelne Aussageelemente des MtEv, die dem eigenen Entwurf widersprechen oder zumindest zu widersprechen scheinen, teilweise eher peripher behandelt werden (z. B. 19,28, das Gericht der zwölf Jünger über Israel, und dazu 340, Anm. 89: »Das bedeutet nicht, dass die Jünger über das Gericht erhaben sind«; es könnte aber bedeuten, dass das MtEv dennoch an einen Vorrang der Jünger gegenüber Israel denkt). Auch vermisst man ein Verzeichnis der Bibelstellen und wichtiger Begriffe.
Über weite Strecken ist das Buch eine Auseinandersetzung mit fünf Kommentaren zum MtEv (Schnackenburg, Gnilka, Luz, Frankemölle und Fiedler, darunter mit großem Abstand aber mit Luz, wobei hier wiederum die völlig neu erstellte 5. Auflage des ersten Bandes kaum berücksichtigt ist), weitere und vor allem neuere Literatur kommt kaum in den Blick. Als Beispiele seien genannt die beiden großen Monographien von Roland Deines (Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias [WUNT 177], 2004) und von Matthias Konradt (Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium [WUNT 215], 2007) sowie der dreibändige Kommentar von Davies/Allison (1988–1997).
Gleichwohl spürt man dem Werk auf jeder Seite die jahrzehntelange Lehrtätigkeit eines Theologen ab, der sich mit ganzer Kraft der Exegese und dem christlich-jüdischen Dialog widmet. Er hat ein ergiebiges, wichtiges und (auch ohne Hebräisch- und Griechisch-Kenntnisse) erfreulich gut lesbares Buch vorgelegt.