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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

146-149

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bock, Darrell L., and Robert L. Webb [Eds.]

Titel/Untertitel:

Key Events in the Life of the Historical Jesus. A Collaborative Exploration of Context and Coherence.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XVII, 931 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 247. Lw. EUR 189,00. ISBN 978-3-16-150144-9.

Rezensent:

Stefan Schreiber

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Charlesworth, James H., and Petr Pokorný [Eds.]: Jesus Re­-search: An International Perspective. The First Princeton-Prague Symposium on Jesus Research, Prague 2005. Ed. with B. Rhea, J. Roskovec, and J. Soyars. Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2009. XXII, 307 S. gr.8° = Princeton-Prague Symposia Series on the Historical Jesus, 1. Kart. US$ 35,00. ISBN 978-0-8028-6353-9.


Zwei Editionen zum historischen Jesus aus dem Jahr 2009 laden zum Vergleich ein. Beiden Büchern ist gemeinsam, dass sie eine eschatologische Stoßrichtung des Wirkens Jesu vertreten und das Frühe Judentum als entscheidenden geschichtlichen Kontext des Auftretens Jesu begreifen. Damit stehen sie in einer breiten Strömung gegenwärtiger Jesus-Forschung. Dann beginnen auch schon die Unterschiede.
Der von Bock/Webb herausgegebene Band »Key Events in the Life of the Historical Jesus« geht auf eine Projektgruppe von Jesus-Forschern am (nordamerikanisch-evangelikalen) Institute for Bib­lical Research zurück, die sich seit Mitte der 1990er Jahre jährlich traf, um mit den in der gegenwärtigen Forschung etablierten Methoden »Schlüsselereignisse« im Leben Jesu zu untersuchen. Diese sollten sowohl historisch in hohem Maße wahrscheinlich als auch bedeutsam für ein Verständnis der Gestalt Jesu sein, wie die Herausgeber in ihrer Einführung darlegen (4). Entstanden sind zwölf Beiträge, die jeweils ein Ereignis unter drei Perspektiven diskutieren: Historizität, soziokultureller Kontext und Bedeutung für das Verständnis des Auftretens Jesu.
Am Anfang steht eine ausführliche Thematisierung hermeneutischer Fragen historischer Jesus-Forschung, bei der die heuris-tische Einbeziehung des »Übernatürlichen« in das Weltbild des Historikers auffällt.
Die folgenden Kapitel behandeln je ein »key event« im öffentlichen Leben Jesu, wobei ein deutlicher Schwerpunkt – immerhin die Hälfte – auf den Ereignissen bei Jesu letztem Jerusalem-Besuch liegt: die Taufe Jesu durch Johannes (R. L. Webb); Jesu Exorzismen und die Königsherrschaft Gottes (C. A. Evans); Jesus und die Zwölf (S. McKnight); Jesu Tischgemeinschaft mit Sündern (C. L. Blomberg); die Kontroversen um den Sabbat (D. A. Hagner); das Messiasbekenntnis des Petrus bei Caesarea Philippi (M. J. Wilkins); Jesu Einzug in Jerusalem (B. Kinman); die Tempelaktion Jesu (K. R. Snodgrass); das letzte Mahl Jesu (I. H. Marshall); das Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten (D. L. Bock); Verhör und Kreuzigung Jesu durch die römischen Autoritäten (R. L. Webb); das leere Grab und die Erscheinungen Jesu in Jerusalem (G. R. Osborne).
Sieht man einmal vom Messiasbekenntnis des Petrus und dem leeren Grab ab, sind damit Themenbereiche ausgewählt, die wohl die meisten Jesus-Forscher in ein historisches Bild des Nazareners einbeziehen würden. Was an allen Beiträgen jedoch auffällt, ist der historische Optimismus, der sich nicht nur auf den Kern einzelner Ereignisse, sondern auch auf Details der Darstellung in den Evangelien erstreckt, z. B. die »Himmelsstimme« bei Jesu Taufe, die Auffindung des Esels beim Einzug nach Jerusalem, die Deutungen von Jesu Tempelaktion oder die Bestimmung des letzten Mahls Jesu als Pesachmahl. Eine kritische Differenzierung historischer (Un-) Wahrscheinlichkeit tritt stark zurück. Freilich gelingt den Autoren auf diese Weise (und um diesen Preis) ein weitgehend einheitliches Bild des historischen Jesus, das der Schlussbeitrag von D. L. Bock noch einmal programmatisch zusammenfasst.
Während weite Teile der Jesus-Forschung die christologischen Entwicklungen in der Urchristenheit nach Ostern von der Selbstpräsentation des historischen Jesus deutlich abheben, gilt hier: »Jesus is the Christ of history and the Christ of faith« (371). Dementsprechend wird dem historischen Jesus eine weitgehende »Chris­tologie« zugesprochen. Einige Beispiele: Ein persönliches Sün­denbewusstsein Jesu (bei seiner Taufe durch Johannes) er­scheint als unmöglich (133–135), vielmehr ist bereits klar, dass Jesus der »Kommende« ist, den Johannes vorhersagt (142); durchgängig heben die Autoren Jesu definitive Autorität hervor und lenken den Fokus von seiner Botschaft auf seine Identität (244.284 f.474 f.660); ein messianisches Selbstverständnis Jesu wird angedeutet (367–370. 411.475); beim Einzug nach Jerusalem wird eine bewusste könig­-liche Inszenierung Jesu angenommen (420 f.); Jesus selbst habe seinen Tod als für die Erlösung notwendiges Opfer verstanden (579 f.). Natürlich erreichen die Autoren auch damit wieder ein einheit­liches Bild Jesu. Aber wird letztlich nicht jede Frage nach der historischen Gestalt Jesu überflüssig?
Dass sich bei einem so umfangreichen Band (853 Seiten ohne Indizes) weitere Anfragen an einzelne Textauslegungen ergeben, liegt auf der Hand. Ekklesiologisch wichtig wäre die Anfrage, ob die Johannes-Taufe tatsächlich eine Initiationsfunktion erfüllte (118) oder ob der Kreis der »Zwölf« eine Leitungsaufgabe ausübte (209); m. E. wäre zu differenzieren zwischen einer reinen Repräsentation des restituierten Israel durch die Zwölf in der Gegenwart und der es­chatologischen Verheißung ihres Mitherrschens im zukünftigen Reich Gottes. Insgesamt bieten die einzelnen Beiträge viel Material über die in der Forschung vorgebrachten Argumente für und wider die Historizität einzelner Passagen und über die religionsgeschichtlichen Hintergründe und die theologische Bedeutung der Texte. Literatur wird breit gesichtet (freilich konzentriert auf englischsprachige Titel).
Deutlich andere Schwerpunkte setzt der von Charlesworth/ Pokorný edierte Band »Jesus Research«, der auf das erste »Princeton-Prague-Symposium« im Jahr 2005 in Prag zurückgeht und sich eine Bestandsaufnahme der historischen Jesus-Forschung seit den 1980er Jahren angesichts der Vielfalt disparater Jesus-Bilder zum Ziel gesetzt hat. »Is there a hidden consensus in Jesus Research?«, fragt J. H. Charlesworth in seiner Einleitung (4). Doch anders als im ersten Band geht es hier nicht um ein einheitliches Jesus-Bild, sondern stärker um grundsätzliche Frageperspektiven, die die einzelnen Beiträge schlaglichtartig beleuchten.
Die Anwendung unterschiedlicher Methoden zählt zu den Charakteristika gegenwärtiger Jesus-Forschung. An den geschichtlichen Prozess der Gewinnung sog. Kriterien der Jesus-Forschung erinnert S. E. Porter im Rückblick auf A. Schweitzers einflussreiche »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«. Spezifische Methoden er­proben G. Theißen und M. Wolter. Theißen nimmt eine sozialgeschichtliche Verortung Jesu als Wanderlehrer vor, dessen Wander­existenz kynische Wurzeln habe. Zwar habe Jesus nicht in direktem Kontakt mit Kynikern gestanden, sondern sei durch das Modell des Judas Galilaios motiviert worden, der nach dem Jahr 6 n. Chr. (an­geblich) als Wanderlehrer durch Judäa zog, um möglichst große Bevölkerungsteile zu erreichen; Judas wiederum hätte sich an der Lebensform der Kyniker orientiert. Die Präsenz des Kynismus im Palästina des 1. Jh.s scheint mir allerdings fraglich. Wolter wendet C. Bremonds Modell der Erzähltextanalyse auf die Gleichnisse Jesu an und stützt damit die formgeschichtliche Differenzierung von Gleichnis und Parabel. Die Gleichnisse ohne »Knotenpunkte« (vor allem Wachstumsgleichnisse) enthalten eine Selbstinterpretation Jesu, da Jesus in ihnen das Neue seiner Reich-Gottes-Verkün­di­gung darstellt und damit zugleich seinen eigenen Anspruch formuliert.
Neue Erkenntnisse der Archäologie, neu entdeckte Quellen und neue Frageperspektiven führten zu einem gewandelten Bild des antiken Judentums. Diesen Paradigmenwechsel in der neueren Jesus-Forschung verdeutlicht J. H. Charlesworth. J. Schröter be­spricht neue Einsichten der aktuellen Galiläa-Archäologie. Ein Beitrag zum Wein-Wunder in Kana (Joh 2,1–11) von C. Claussen überrascht, bringt man doch dieses Ereignis kaum mit dem historischen Jesus in Verbindung; archäologische Daten tragen freilich auch hier zum Verständnis bei. Im Judentum seiner Zeit versteht T. Holmén Jesus, wenn er dessen Praxis einer »ansteckenden Reinheit« von der frühjüdischen Vorstellung kontaminierender Un­reinheit abhebt.
Natürlich wird auch in diesem Band das eigene Rollenverständnis Jesu zum Thema. Die Autoren unterscheiden aber die histo­-rische Frage deutlich von der Christologie der Evangelien. Signifikant hierfür ist der Beitrag von P. Pokorný, der gerade die Differenzen im Auftreten Johannes des Täufers und Jesu herausarbeitet. K. Haacker schließt aus Jesu Verheißung der Teilhabe an Gottes Königsherrschaft auf eine implizite Christologie: Jesu Rollenverständnis als »eschatological counterpart of Moses« (149), womit auch messianische Konnotationen verbunden seien (150–153). Letzteres ist freilich wegen der späteren Datierung der rabbinischen Quellen, auf die sich Haacker beruft, anzufragen. R. Hoppe bringt Jesu Todesdeutung in Mk 14,25 in eine innere Verbindung zu seinen Königsherrschafts-Gleichnissen in Mk 4, so dass die Gewissheit über das Kommen der Basileia, die das Auftreten Jesu prägt, auch in seinem Todesverständnis wirksam bleibt (vgl. zu Jesu Gleichnissen auch den oben erwähnten Beitrag von M. Wolter). Da C. A. Evans in beiden Büchern vertreten ist, schlägt er eine inhaltliche Brücke zum ersten Band: Er stellt den kreativen Schriftgebrauch Jesu heraus und betont dabei die Autorität Jesu, die schon im ersten Band ein Leitmotiv bildete. Einige Stellen, die er heranzieht, sind freilich mit höchst unsicherer Authentizität belastet (so Mk 10,45; 14,27).
Am Ende wird in dem Beitrag von U. Luz noch einmal die Tragweite hermeneutischer Perspektiven deutlich. Er unternimmt einen Vergleich zwischen der Jesus-Bewegung und »Neuen Religionen« in Japan, der ihn zu der (in der Religionswissenschaft umstrittenen) Beschreibung als »gegründete Religionen« (G. Mensching) führt.
Die historische Distanz zu Jesus, der eigene Standort der Forscher und damit die Notwendigkeit hermeneutischer Selbstreflexion treten in diesem Band stärker ans Licht. Die Suche nach der angemessenen Methode erscheint drängender. Gerade die Vielfalt diverser »Baustellen« markiert den Stand der Diskussion. Was die beiden Bände eint, ist die Frage nach Jesu Rollenverständnis. Die unterschiedlichen Antworten fordern dazu heraus, verstärkt in den Diskurs um das »Historische« und seine Bedeutung für eine glaubensgemeinschaftlich geprägte Christologie einzutreten.