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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

188–190

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ringleben, Joachim

Titel/Untertitel:

Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 323 S. gr.8°. Kart. DM 98,-, ISBN 3-525-56188-1.

Rezensent:

Wolfdietrich von Kloeden

Endlich ist eine längst fällige, durchgängige Kommentierung von Sören Kierkegaards Hauptwerk "Die Krankheit zum Tode" (1849) mit einem übersichtlichen Registerteil durch den Göttinger Systematiker Joachim Ringleben erarbeitet worden. Zwei Feststellungen sollen an den Anfang gesetzt werden: (1.) Es ist richtig, die Erklärungen und die Kommentierung genau nach der Einteilung der Kierkegaard-Schrift zu machen. Nur mit einer folgerichtigen Durcharbeitung dieser kommt die Geschlossenheit des Kierkegaardschen Gedankengebäudes zum Ausdruck. (2.) Es erweist sich als vorteilhaft, die Übersetzung von Emanuel Hirsch, eingebettet in die bisher einzige deutsche Gesamtausgabe der Schriften Kierkegaards im Eugen Diederichs Verlag ab 1950 ­ unter Rückgriff auf die dänischen "Samlede Vaerker" (1. Aufl. 1901-1906, zit. "SV1" mit nachgestellter Bandangabe) ­, zum Textmaßstab zu wählen. Die Hirsch-Übersetzung des Hauptwerks (24./25. Abt. der Gesamtausgabe) bringt zusätzliche Passagen aus Entwürfen Kierkegaards.

Nach den "klärenden Vorbemerkungen" für den Kommentar (7-14) folgt eine interessante Bezugnahme zur Leidensproblematik in "Die Krankheit zum Tode" in Verbindung mit Goethes "Die Leiden des jungen Werther" (1774 und 1787). Damit werden die Stadien der Verzweiflung innerhalb dieser "Anti-Climacus"-Schrift von 1849 in die lange europäische Tradition der "Beschreibung abgründiger religiöser Seelenlagen" eingeordnet (15). Nach dem Vf. gibt es von Goethe her mit Anspielung auf Joh 11,4 einen "seelischen und literarischen Einfluß auf Kierkegaards ’Krankheit zum Tode’" (19 f.). Doch es findet sich eine grundsätzliche Unterscheidung, die den Gesamtduktus der "christlichen", d. h. vom Halbpseudonym "Anti-Climacus" bestimmten Spätschriften gegenüber dem deutschen Dichter ausmacht: Es ist der Fingerzeig auf die Sünde, deren Darstellung den zweiten Teil der Schrift ausmacht. Dazu kommt, daß bei Kierkegaard im Gegensatz zu Goethe die Verzweiflung als Krankheit im Geist bzw. im Selbst, also innen, verankert wird.

Mit der Titelerklärung (23 ff.) beginnt die eigentliche Kommentierung. Folgerichtig werden dann die verschiedenen Formen der Verzweiflung als "Krankheit im Selbst" behandelt (41 ff.). Hier geht es um den ersten Grundabschnitt der Kierkegaard-Schrift, und zwar um dessen ersten "Teil A: Daß Verzweiflung die Krankheit zum Tode ist" (ebda.). Besonders schwierig ist es ja, die Synthesenkonstruktion Kierkegaards im Dienste der Bestimmung des Selbst zu erklären. Schon im bahnbrechenden Werk des Dänen "Der Begriff Angst" (1844) wird die Synthesenbildung vorgestellt. Hier nun im vertieft theologischen Werk von 1849 geht es darum, den Bogen vom "Selbstsein vor Gott" zur "Sünde" (Sündigsein) vor Gott zu schlagen (vgl. auch 218 ff., 223 ff.).

Dialektisch sind drei Stufen des Selbstverhältnisses herauszuarbeiten: (1). Ein einfaches Verhältnis wie das in der "Synthesia von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit". (2.) Ein Verhältnis, "das sich zu sich selbst verhält", wobei die Bestimmung des Geistes wesentlich wird, da dieser die Gesamtsynthesis tragen muß: "Geist ist das Selbst". Entscheidend ist dabei, daß "das Selbst nicht das Verhältnis ist, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält". (3) Ein Verhältnis, "indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Anderen verhält", da das Selbst ein "abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist". Und hierbei wird die Gottesfrage angesprochen sowie der zweite Grundabschnitt über die Sünde vor Gott vorbereitet (insgesamt 50-83, bei Kierkegaard bes.: SV1 XI, 127-128, dt. 24./25. Abt., 8-10).

Der gesamt Komplex wird vom Vf. eingehend erläutert. Das eben angegebene Synthesenschema bildet danach den Gesichtspunkt einer "ursprünglichen Einheit" (59). Diese bietet daher "einer äußerlichen Reflexionsbewegung gleichsam keinen Ansatzpunkt" (ebda.). Nur jene "ursprüngliche Einheit" kann das Selbstverhältnis tragen. Damit wird aber der eigene Zugriff Kierkegaards auf die Interpretation des Selbst im Unterschied zu J. G. Fichtes (1762-1814) "transzendentalem Ur-Ich" deutlich. Das Selbst bei Kierkegaard ist "nicht absolut" (69). Es kann nicht "mit Gott identifiziert werden" (ebda.). Der Mensch bleibt Geschöpf. Er kann die "Möglichkeit, als ein Selbst zu sein... nur ergreifen" (75).

Nach den Analysen des Begriffes "Selbst" im "Teil A" des ersten Grundabschnittes folgt nun die Kommentierung des "Teils B", wo es um "die Allgemeinheit dieser Krankheit" geht (114-128). Wichtig sind die Hinweise des Vf.s auf die Beziehung von Geist und Gesundheit. Es gibt nach Kierkegaard keine "unmittelbare Gesundheit des Geistes" (119, bei Kierkegaard: SV1 139, dt. 24./25. Abt., 21).

Für den "Teil C: Die Gestalten dieser Krankheit" (129-204) werden die verschiedenen Arten der Verzweiflung je nach der Gewichtung des Selbst herausgearbeitet. Zuerst geht es um "die Verzweiflung abgesehen vom Bewußtsein" (140-162). Feinsinnig werden die Grundelemente der Synthese in ihrer polaren Gerichtetheit auf die Verzweiflung des Selbst bezogen. Die Gedankengänge des Kommentars bewegen sich elastisch um Kierkegaards Kernaussagen herum. Dabei werden literarische Zeugnisse in die Analysen miteinbezogen. Beispielsweise wird in der Beschreibung der "Verzweiflung der Unendlichkeit" auf Iwan A. Gontscharows Roman "Oblomow" (1859) hingewiesen: Ein bloßes Vorhaben, ohne es zu verwirklichen, muß zur Verzweiflung führen, da eine echte Selbstkonkretion unterbleibt (151). Die potenzierte Synthese führt dann zu einem weiteren Kapitel dieses "Teiles C" vom ersten Grundabschnitt, wo es um "die Verzweiflung im Horizont des Bewußtseins" geht (163-205). Hierbei ist immer das Element des Ewigen im Selbst zu beachten. In der "Verzweiflung der Schwachheit" wird ausgedrückt, "verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen" (178 ff., bei Kierkegaard: SV1 XI, 161-178, dt. 24./25. Abt., 47-67). Den Gegensatz dazu bildet mit allen Variationen "die Verzweiflung des Trotzes" (197-205, bei Kierkegaard: SV1 XI, 178-185, dt. 24./25. Ab., 67-74).

Im zweiten Grundabschnitt dieser Hauptschrift Kierkegaards geht es um die Sünde. Diese ist gegenüber der "sokratischen" Sündenauffassung eine Kategorie, die nicht begriffen werden kann. Sie kann nur in der Glaubensexistenz erlebt und erlitten werden. Die Sünde als "eine Bestimmung des Einzelnen" (289 f., bei Kierkegaard: SV1 XI, 229, dt. 24./25. Abt., 121) ist eng verbunden mit den Merkmalen der Verzweiflung und dem Ärgernis. Letzteres sichert im Durchleben das wahre Christsein. Es gelingt dem Vf., behutsam den Leser an der Steigerung der Sündenproblematik teilnehmen zu lassen. Das Ärgernis besteht darin, "an der Vergebung der Sünde zu verzweifeln" (276, 279f., bei Kierkegaard: SV1 XI, 223, dt. 24./25. Abt., 113). Das bildet eine Potenzierung im Sinne der Christus-Bezogenheit gegenüber der "Sünde, über seine Sünde zu verzweifeln" (269 f., bei Kierkegaard: SV1 XI, 219, dt. 24./25. Abt., 109). Das Ärgernis an der rettenden und heilenden Vergebung ist eine Negativentscheidung des Selbst vor Christus. Jenes verdeutlicht aber auch die Möglichkeit der Umkehrexistenz. Es gibt eine weitere Steigerung der Sünde, die im Aufgeben des Christentums schlechthin besteht (vgl. 298 ff., bei Kierkegaard bes.: SV1 XI, 234, dt. 24./25. Abt., 126 f.). Mit der Betonung des radikalen Qualitätsunterschiedes zwischen Gott und Mensch durch das Sündenbewußtsein des Selbst vor Gott stellt sich Kierkegaard kritisch gegen ein verwässertes Christsein (vgl. die wichtigen Hinweise 290 ff., 306 ff.).

Zusammenfassend kann gesagt werden: Sorgfältig und in einmalig umfassender Weise wird das theologische Grundanliegen Kierkegaards herausgearbeitet. Der Kommentar bietet so eine wertvolle Orientierung für Studium und Forschung.