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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

138-140

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Brandscheidt, Renate

Titel/Untertitel:

Abraham. Glaubenswanderschaft und Op­fergang des von Gott Erwählten.

Verlag:

Würzburg: Echter 2009. 366 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 24,80. ISBN 978-3-429-03101-5.

Rezensent:

Benjamin Ziemer

Die Trierer katholische Alttestamentlerin Renate Brandscheidt unternimmt in diesem Buch gemeinsam mit dem in Berlin lebenden Bildhauer Nika Bakhia eine »ganzheitliche Annäherung an Abraham« (10), die sich nicht in erster Linie an Fachexegeten richtet. Äußerlich zeigt sich der disziplinübergreifende Ansatz bereits am Aufbau des Buches: Auf die acht Kapitel zu Abraham im Alten Testament folgt ein »Theologischer Ausblick«, der Abraham mit der neutestamentlichen Adam-Christus-Typologie und dem interreligiösen Dialog ins Verhältnis setzt (303–317), danach erklärt Nika Bakhia eine von ihm auf Anregung der Vfn. geschaffene Abrahamplastik (318–343, dazu weiter unten). Zum Schluss wird mit den Worten von Papst Johannes Paul II. exemplifiziert, was für die Vfn. »Von Abraham reden« heißt (344–347).
Der Hauptteil des Buches (13–302) folgt, nach einem einleitenden Kapitel »Abraham und die Väterzeit« (13–50), im Wesentlichen dem Aufbau der Abrahamgeschichte, wobei sich je ein Kapitel mit Gen 12 f., 14, 15, 18 f., 21, 22 und 23 befasst. Es handelt sich um einen allgemein verständlichen, aber durchweg den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion berücksichtigenden Kommentar zur Abrahamgeschichte, der zu jedem der genannten Textabschnitte nach einer kurzen Überleitung jeweils in drei Abschnitte gegliedert ist. Unter der Überschrift »Die Überlieferung und ihre Gestalt« wird der Textabschnitt übersetzt, gegliedert und eine literarkritische Schichtung skizziert. Im zweiten, zentralen und in der Regel umfangreichsten Abschnitt, wird unter der Überschrift »Die Überlieferung und ihre Botschaft« der historische Aussagegehalt entfaltet, entsprechend dem für die Redaktionsgeschichte jeweils veranschlagten historischen und traditionsgeschichtlichen Hin­tergrund. Nach dieser Einzelexegese folgen im jeweils letzten Teil »Ergebnisse, Zusammenhänge, Folgerungen«, wobei unter dieser Überschrift auch noch weitere Abschnitte der Abrahamgeschichte thematisiert werden.
Da ein Bibelstellenregister fehlt, mag es sinnvoll sein, diese Ab­schnitte zu nennen: Gen 16 wird im Zusammenhang von Gen 21,1–21 mitbedacht (239–246), Gen 17 im Kontext von Gen 15 (151–153). Gen 24 wird am Schluss des Kapitels zu Gen 23 unter der Überschrift »Das Ende der irdischen Glaubenswanderschaft Abrahams« (301 f.) ein eigener Abschnitt gewidmet. Die Nachrichten über Ketura (Gen 25,1–6), die unter interreligiöser Perspektive ja ebenfalls interessant wären, werden dagegen nicht mehr behandelt, ebenso wenig Gen 20 und 21,22–34, also die Abschnitte, die vom Aufenthalt Abrahams und Saras als Fremdlinge im Reich Abimelechs von Gerar handeln. Stehen diese Erzählungen vielleicht außerhalb der stetig fortschreitenden »Glaubenswanderschaft«, zu der Abraham von Gen 12 an berufen sei? Das wäre eine Erklärung wert gewesen.
Bereits die Herausstellung der »Glaubenswanderschaft« als Leitthema der Abrahamgeschichte ist deutlich vom Neuen Testament her geprägt, wo Abraham als Vater des Glaubens erscheint, während sich dies im Alten Testament vor allem auf eine bestimmte Lesetradition eines einzelnen Verses der Genesis stützt (Gen 15,6). Als die wesentlichen Stationen der »Glaubenswanderschaft« Abrahams nennt die Vfn. in kontinuierlicher Steigerung »die kompromißlose Trennung von seinem Vaterhaus (Gen 12), das Bekenntnis zur Planung des Verheißungsgottes gegen den Augenschein (Gen 15), das Vertrauen in die Treue Gottes am Abgrund des Gerichtes (Gen 18–19), die Trennung von seinem Erstgeborenen und damit den Verzicht auf die eigene Verfügungsgewalt (Gen 21)«, sowie in Gen 22 die »Forderung nach der Rückgabe des Sohnes der Verheißung an den Verheißungsgott« (254). Gen 22 ist nach der Vfn. »als theologische Summe der … Glaubenswanderung Abrahams konzipiert« (258), Gen 23 schließlich gehöre bereits »in das Vorfeld der alttestamentlichen und gesamtbiblischen Auferstehungshoffnung« (298). Die sich abzeichnende »Linie«, »in der die von Jahwe mitgetragene Glaubenswanderschaft Abrahams auf die Überwindung des Todes in der Auferstehung Christi zuläuft« (298), findet sich auch in den redaktionsgeschichtlichen Thesen des Buches wieder, auf die deshalb hier eingegangen werden soll.
Für einen Grundstock der Abrahamüberlieferung geht die Vfn. von sehr konservativen Frühdatierungen aus; so seien an Gen 12–13 ein »Jahwist« vom Ende des 10. Jh.s, ein »Jehowist« aus dem 7. Jh. und eine in die Exilszeit datierte »Priesterschrift« beteiligt gewesen (54); die nachexilische Zeit des »Endredaktors« (erwähnt z. B.: 161) wird nicht näher bestimmt. Dagegen handele es sich bei Gen 14 um »freie parabolische Geschichtsdarstellung« (90) aus frühhellenistischer Zeit (109), was eine noch vergleichsweise moderate Spätdatierung darstellt. Ebenfalls in die hellenistische Zeit datiert werden gewichtige Anteile an Gen 15, nämlich V. 1.3*.5–6.11–17*.18*–21 (117.149–151), vor allem aber Gen 23 (294–296), laut der Vfn. eine frühhellenistische »Lehrerzählung« (285), sowie die »theologische Lehrerzählung« (258) Gen 22. Letztere datiert die Vfn. äußerst konkret, nämlich 164 v. Chr., in die Zeit der Spaltung der makkabäischen Bewegung (274). Diese extreme Spätdatierung passt zu einem Trend der gegenwärtigen Forschung, für den hier nur auf den von Vfn. mehrfach zitierten Ernst Haag mit seinem Band der Bib­-lischen Enzyklopädie (Das hellenistische Zeitalter [BE 9], Stuttgart 2003, 221 f.) verwiesen werden soll.
Rein textgeschichtlich ist eine Entstehung von allgemein anerkannten Bestandteilen des Pentateuch in hellenistischer Zeit auszuschließen. Wie soll man sich das denn vorstellen? Sind berittene Boten nach Jerusalem und Samaria, nach Babylonien und Ägypten ausgeschwärmt und haben die neu einzufügenden Erzählungen überall an derselben Stelle in die Kopien des Buches Genesis eingenäht, oder gleich jeweils die ganze Abrahamgeschichte ersetzt, da ja auch Gen 21 später noch im Blick auf Gen 22 bearbeitet worden sei (226)? Dann wäre die Vorstellung einfacher, es hätte vorher überhaupt nur ein Exemplar des Buches Genesis gegeben. Da aber nicht nur biblische (1QGen und 4Q Gen–Ex a, Letztere aus dem 2. Jh. v. Chr.), sondern auch nichtbiblische Qumran-Fragmente (4Q225 und 4Q252) Gen 22 an seiner Stelle bezeugen, ganz zu schweigen von der im 3. Jh. entstandenen Genesis-LXX, ist vielmehr schon recht bald nach der »Promulgation durch Esra« (Haag, a. a. O., 221) mit einer Verzweigung der Texttradition zu rechnen; alle Elemente, die sämtlichen Textzeugen gemeinsam sind, müssen vor diesem Zeitpunkt entstanden sein.
Die biblische Abrahamgeschichte ist, wie die Makkabäerbücher belegen, in dieser Zeit als aktuell bedeutsam empfunden und entsprechend breit rezipiert worden; dasselbe gilt aber auch für die neutestamentliche oder für die heutige Zeit. Entstanden ist sie in vorhellenistischer Zeit; die hellenistischen Weiterentwicklungen der Abrahamtradition (Genesis-Apokryphon, Jubiläenbuch, Pseudo-Eupolemos etc.) fanden außerhalb der Genesis statt.
Eine relative Spätdatierung von Gen 14, 22 und 23 sowie Teilen von 15 und 21 ist natürlich erwägenswert. Dies würde aber, als Beitrag zur Frage der Pentateuchendredaktion, eine Diskussion auch des Verhältnisses zu den priesterlichen Texten erfordern, die leider, trotz ihrer entscheidenden Funktion für die Endgestalt der Abrahamgeschichte, nur oberflächlich behandelt werden.
Während die Datierungen also kaum verlässliche Orientierung bieten, behalten die theologischen Deutungen doch ihren Wert. Denn dass Gen 22 eine Antwort auf falsche Verheißungsgewissheit ist, lässt sich ebenso in vormakkabäischer Zeit, etwa vor dem Hin­tergrund von Texten wie Ez 33,24, plausibel machen. So legt die Vfn. z. B. Wert darauf, dass Gen 22,19 dem Wortlaut nach nur Abraham, also nicht Isaak, nach Beerscheba zurückkehrt, so »daß – auf der Ebene der Darstellung betrachtet – der auf dem Altar gebundene Isaak als Frucht der Opfergabe in Morijah zurückbleibt« (271). Als »Analogon« hierzu nennt sie »das ›Zurückbleiben‹ des zwölfjährigen Jesus im Tempel«, das die »wahre Sohnschaft Jesu, der in die Welt Gottes hineingehört«, klarstelle (271, Anm. 388). Die wichtige Kernaussage, die den zweiten Teil des Buchtitels begründet, lautet demnach: Abraham sollte Isaak nicht töten, ihn also nicht »als«, sondern »für ein Ganzopfer (im Sinne eines Dankopfers)« hinaufbringen, wie die Vfn. Gen 22,2 übersetzt (254, vgl. 262). Die Darbringung des Widders sei demzufolge nicht Substitutionsopfer, sondern habe den Charakter einer Zeichenhandlung, die bekräftigt, dass jeder Opferdienst in Zukunft »von der Haltung jener Gottesfurcht geprägt sein muss, die die Darbringung des Isaak bestimmt hat« (268).
Dass im Haupttext nur ausnahmsweise zitiert und die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur auf die Anmerkungen konzentriert wird, ist dem Lesefluss dienlich. Manchmal führt dieses Prinzip allerdings über das Ziel hinaus: In dem Exkurs (der allerdings nicht als solcher gekennzeichnet ist) zum Thema Beschneidung auf S. 228 f. werden eingescannte Textpassagen nahezu unverändert übernommen, ohne die wörtlichen Zitate zu kennzeichnen. So nennt die Vfn. in der vollständig aus Westermanns Genesiskommentar (BK I/2, 319) übernommenen Aufzählung möglicher Begründungen der Beschneidung (nur die »Ermöglichung des Geschlechtsverkehrs« wurde ausgelassen) als zweiten Punkt: »aus gesellschaftlichen Gründen durchgeführt als lnitiationsritus« (229). Dabei verrät das »l« anstelle des »I«, dass ein eingescannter Text als Vorlage Verwendung fand.
Abschließend ist noch das auf Initiative der Vfn. entstandene Abraham-Oktogon Nika Bakhias (Abb.: 320; 323–332, vgl. auch http:// www.nika-page.de/Nika/Skulptur/Abraham/abraham1.htm) zu würdigen. Die Heiligkreuzkirche zu Mzkheta in Georgien (Abb.: 321), »die um eine ursprünglich heidnische Kultstätte gebaut worden ist, wo der Legende nach Christen ein wundertätiges Kreuz aus dem von Heiden verehrten Baum geschnitzt und aufgestellt ha­ben« (Bakhia, 320), hat den Künstler in besonderer Weise inspiriert, nur dass er keine heidnische, sondern eine alttestamentliche Geschichte christlich umdeutet. Er verbindet die in acht Stationen (Auszug, Altarbau, Bund, Melchisedek, drei Engel, Vater der Menge, Geburt Isaaks, der Widder vor dem Altar) auf die acht Seiten eines Prismas gezeichnete Abrahamgeschichte auf der neunten sichtbaren Fläche, der Deckplatte, durch den gekreuzigten Christus, »in dessen Person sich nach dem Zeugnis des Neuen Testaments der Opfergang Abrahams vollendet« (Bakhia, 322). Der Widder als Hinweis auf Christus, das »Lamm Gottes« (Bakhia, 342), und der als katholischer Priester (mit Kreuz auf der Brust) die Eucharistie darbringende Melchisedek bilden mit dem Gekreuzigten die Hauptachse der Darstellung. Doch wird die achteckige Struktur immerhin auch mit der Beschneidung am achten Tag, »die das Kind als Glied des Gottesvolkes kennzeichnet«, begründet, zu der dann der achte Tag als Auferstehungstag Christi hinzutritt (320). Die dezidiert neutestamentlich-christlich-katholische Perspektive verbindet somit die Beiträge der Alttestamentlerin und des Künstlers. Der Band, der keine Register enthält, schließt mit einer Vita Nika Bakhias (348–350) und dem Literaturverzeichnis.