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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

123-136

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Nicolai Sinai

Titel/Untertitel:

Die klassische islamische Koranexegese
Eine Annäherung

1. Einleitung


Im Rahmen unterschiedlicher weltanschaulicher Rahmenannahmen variieren zwangsläufig auch die Auffassungen davon, was eine akzeptable Textinterpretation ist und welcher Methoden und Ar­gumentationsmuster sie sich zu bedienen hat. Deshalb konfrontieren vormoderne Auslegungspraxen wie die klassische islamische Koranexegese (tafsīr), aber auch die antike und mittelalterliche Bibelauslegung einen zeitgenössischen Leser mit besonderen Verständnisschwierigkeiten: Inwieweit ist uns das, was dort betrieben wird, überhaupt als Exegese verständlich, d. h. als ein wie auch immer geartetes Bemühen um den Sinn des behandelten Primärtextes? Was sind die hermeneutischen und sonstigen Voraussetzungen, vor deren Hintergrund etwa ein rabbinischer Midrasch oder ein Korankommentar aus dem 12. Jh. beanspruchen kann, eine zugleich nachvollziehbare und für seine Rezipienten relevante Lektüre der jeweiligen Heiligen Schrift zu bieten? Eine Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Erforschung vormoderner christlicher, jü­discher und islamischer Kommentarliteratur besteht deshalb darin, das ihnen jeweils eigene Verständnis von hermeneutischer Geltung und Sachhaltigkeit – samt des vom jeweiligen Exegeten ge­handhabten Instrumentariums an Methoden und literarischen Formen – freizulegen. 1 Es gilt also einerseits, das Andere – in diesem Falle: von unseren eigenen hermeneutischen Intuitionen zum Teil gravierend abweichende Auffassungen von Interpretation – in seiner Andersheit bestehen zu lassen, andererseits jedoch aufzuweisen, inwiefern es zeitgenössischen Interpretationsverständnissen hinreichend ähnelt, um überhaupt unter einen übergreifenden Begriff von »Auslegung« oder »Exegese« rubrifiziert werden zu können.

Mein Aufsatz soll in diesem Sinne versuchen, an die vormoderne islamische Koranauslegung heranzuführen. Er gliedert sich in zwei Hauptteile: Im ersten versuche ich zunächst, einige Grundbestimmungen ›kanonischer‹ Auslegungspraxen herauszuarbeiten, die einen ersten Zugang zur islamischen Koranexegese eröffnen sollen. Meine Bemerkungen beschränken sich allerdings nicht auf die islamische Schriftauslegung, sondern nehmen auch die ihr in grundsätzlichen Aspekten ähnliche rabbinische Bibelexegese in den Blick, deren Hermeneutik deutlich besser erforscht ist. 2 Der zweite Teil soll dann einen – zwangsläufig selektiven – Eindruck vom Charakter klassischer Koranexegese vermitteln, indem ich paraphrasierend darstelle, wie Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209/10), einer der prominentesten sunnitischen Theologen und Exegeten, den Eröffnungsvers der kurzen Koransure 103 behandelt.

2. Allgemeines zu kanonischen Auslegungspraxen3


Bibel und Koran haben innerhalb ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaften eine Stellung, die sich grundsätzlich von der Funktion ›profaner‹ Schriften wie Dichtung oder wissenschaftlicher Literatur unterscheidet. Üblicherweise wird diese Statusdifferenz damit zum Ausdruck gebracht, dass man von »Heiligen Schriften« oder auch von einem »Kanon« spricht.4 Ein offensichtliches Charakteristikum kanonischer Schriften besteht nun darin, dass sie im Gegensatz zu anderen Texten auf apriorische Weise als wahr gelten – wie der englische Theologe John Barton schreibt, »impliziert die Anerkennung eines Textes als heilig einen hermeneu­tischen Imperativ: Lies diesen Text als konsistent und wahr.«5 Anders als bei profanen Texten fungiert bei kanonischen Texten also ihre vorausgesetzte Richtigkeit als Kriterium korrekter Aus­-legung: Eine Interpretation, welche dem betreffenden Text einen Irrtum oder eine Inkonsistenz zuschreiben würde, wäre eo ipso eine falsche Interpretation; einen kanonischen Text zu verstehen heißt, ihn so zu verstehen, dass er keine Aussagen enthält, die im Rahmen des gegenwärtigen Selbst- und Weltbildes einer Gemeinde als falsch gelten.

Ganz offensichtlich ist diese apriorische Wahrheitsunterstellung jedoch nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung von Kanonizität. Denn ein Text kann irrtumslos sein, ohne dass die in ihm enthaltenen Aussagen allein deshalb schon irgendwie bedeutungsvoll zu sein hätten. Die Zuschreibung von kanonischem Status beinhaltet darum nicht nur eine Wahrheits-, sondern auch eine Relevanzpräsupposition: Ein kanonischer Text ist nicht nur ein Text, der keine Irrtümer oder Inkonsistenzen enthält, sondern zugleich auch ein Text, der eine Gemeinde gläubiger Leser auf fundamentale Weise angeht. Es ist genau dieses zweite Charakte­ris­tikum kanonischer Schriften, welches Paulus zum Ausdruck bringt, wenn er die christologische Transposition eines Psalmenverses (69,10) damit rechtfertigt, dass er über das Alte Testament sagt: »Alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung (didaskalia) geschrieben, damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben« (Röm 15,4). Kanonische Texte werden also in doppelter Hinsicht mit maximalem hermeneutischen Wohlwollen gelesen: Es wird unterstellt, dass sie weder falsche noch triviale Aussagen enthalten.6

Das zweite der beiden genannten Charakteristika, nämlich die gemeindliche Relevanz des Kanons, sollte nun jedoch nicht einseitig im Sinne praktischer Verhaltensregulierung verstanden werden. Denn kanonische Texte haben keinesfalls immer handlungsorientierende Funktion, sie dienen nicht notwendigerweise der Beantwortung der Frage »Was ist zu tun?«.7 Gerade im Falle der beiden sog. ›Gesetzesreligionen‹ Judentum und Islam liegt das Missverständnis besonders nahe, Schriftexegese sei hier in erster Linie ein Medium für die autoritative Bewältigung eigentlich kanonexterner Probleme oder Fragen, etwa sozialer oder politischer Konflikte. Doch obwohl der Koran im Islam natürlich formal den Status einer Gesetzesquelle innehat, ist es keineswegs der Fall, dass das vor­- rangige Anliegen islamischer Koranexegese in der Ableitung juri­-discher Normen bestünde.8 Dass Schriftauslegung ganz im Gegenteil einen ausgemacht lebensfernen Charakter annehmen kann, lässt sich gut anhand eines Beispiels aus der rabbinischen Exegese illustrieren, das, wie wir sehen werden, durchaus auch für die islamische Koranauslegung repräsentativ ist.

Psalm 145 ist ein alphabetisches Akrostichon, d. h. die Anfangsbuchstaben der einzelnen Verse folgen dem hebräischen Alphabet. Eigentümlicherweise fehlt jedoch nach V. 13 ein Vers, der mit dem Buchstaben נ beginnt. Der babylonische Talmud (Berakhot 4b) gibt nun die folgende, auf Rabbi Jochanan zurückgeführte Erklärung hierfür: Der נ-Vers fehle aus gutem Grund, da nämlich auch der Unheilsvers Amos 5,2 (»Gefallen – nāplâ – ist sie und steht nicht mehr auf, die Jungfrau Israel«) mit dem Buchstaben נ beginne. Ein zweiter Ausleger, Rabbi Nachman, knüpft hieran die Beobachtung, dass dieser durch Auslassung eines eigentlich zu erwartenden Verses implizierte Bezug zu Amos 5,2 und dem dort ausgesagten Fall Israels auch in Psalm 145 selbst zum Ausdruck komme; denn der unmittelbar folgende Vers 14 lautet: »Der Herr stützt alle, die fallen (han-nōplîm), und richtet alle Gebeugten auf.«9 Im Widerspruch zu einem einseitig auf Handlungsorientierung fixierten Verständnis von kanonischer Interpretation geht die Schriftdeutung hier keineswegs von einer kanonexternen Problematik (etwa: Was sind die Merkmale gerechter politischer Herrschaft?) aus, sondern von einer textimmanenten Anomalie, die auf ingeniöse Weise als in­haltlich wohlbegründet erwiesen wird und nicht als Ergebnis eines fehlerhaften Überlieferungsprozesses.

Schriftdeutung hat hier einen unverkennbaren Eigenwert. Sie ist kein Mittel zur Ableitung von Handlungsorientierung für das ›echte Leben‹, sondern ein Akt sakraler Kontemplation – also eine Tätigkeit, deren Zweck in erster Linie im exegetischen Vollzug selbst liegt und nicht in seinem Resultat. Die Beschreibung der rabbinischen Bibelauslegung durch Da­vid Stern bringt dies auf den Punkt:

Following the Temple’s destruction, the text of the Torah became for the Rabbis the primary sign of the continued existence of the covenantal relationship between God and Israel, and the activity of Torah study – midrash – thus came to serve them as the foremost medium for preserving and pursuing that relationship. Understood this way, the object of midrash was not so much to find the meaning of Scripture as it was literally to engage its text. Midrash became a kind of conversation the Rabbis invented in order to enable God to speak to them from between the lines of Scripture, in the textual fissures and discon­-tinuities that exegesis discovers. 10

Dieser kontemplative Grundzug oder, wie man sagen könnte, dieser Vollzugscharakter kanonischer Exegese zeigt sich u. a. in dem hermeneutischen Pluralismus, der, wie wir sehen werden, nicht nur für die rabbinische, sondern auch für die islamische Schriftauslegung charakteristisch ist: Der Interpret erhebt häufig gar nicht den Anspruch, die Bedeutung einer bestimmten Textpassage abschließend feststellen zu können, sondern belässt dem Kanon eine prinzipielle hermeneutische Uneinholbarkeit, die sich etwa in der in islamischer Literatur häufig zu findenden Schlussbemerkung »Gott weiß es am besten« ausdrücken kann. 11

Das obige Beispiel aus dem Talmud belegt einerseits, wie die rabbinische – nicht anders als die islamische – Schriftauslegung zu einem wesentlichen Teil von textimmanenten Anomalien und Verständnisschwierigkeiten ausgeht; der Kanon erscheint hier als ein um seiner selbst willen interessierender Forschungsgegenstand, dessen möglichst nuancierte exegetische Durchleuchtung ein ausgemachter Selbstzweck ist – immerhin ist er ja als göttliche Offenbarung prinzipiell allen Scharfsinns würdig, den seine Leser auf­- zubringen vermögen, unabhängig davon, ob diese interpretato­-rischen Bemühungen in lebensrelevanter Weisung resultieren oder ›nur‹ in einem verfeinerten Verständnis seiner sprachlichen und literarischen Eigentümlichkeiten. Kanonische Schriften un­terliegen damit einer beständigen Sinnvertiefung, die allerdings periodisch von Sola-scriptura-Momenten, dem bewussten Zu­-rück­schneiden der existierenden Auslegungstradition, unterbrochen und erschüttert werden kann.

Andererseits verdeutlicht das obige Beispiel, inwiefern bei kanonischer Exegese trotz ihres kontemplativen Charakters doch die weiter oben genannte Relevanzpräsupposition im Spiel ist: Denn das Fehlen des נ-Verses wird ja erklärt durch die Verknüpfung mit einem – hier durch Amos 5,2 repräsentierten – zentralen Aspekt nachbiblischer jüdischer Identität, dem Verlust von Staatlichkeit und Tempel und der Grundbefindlichkeit der Diaspora. Anstatt die gemeindliche Relevanz kanonischer Texte einseitig mit der Bereitstellung von Handlungsorientierung gleichzusetzen, gilt es deshalb mit Moshe Halbertal anzuerkennen, dass kanonische Texte nicht nur eine normative, sondern vor allem auch eine formative Funktion haben:12 Sie stellen ein verbindliches Vokabular bereit, in dem eine Gemeinschaft von sich selbst – von ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und von der Welt, die sie umgibt – spricht; sie sind ein Medium nicht nur der Verhaltensregulierung, sondern auch der kollektiven Selbstimagination. Diese formative Relevanz kanonischer Texte wird gewährleistet durch ihre engmaschige Verschränkung mit der Vorstellungswelt ihrer Gemeinde – etwa indem bestimmte Passagen als verbindliche Formulierungen wichtiger Begebenheiten, Glaubenssätze oder Werte gelten; oder dadurch, dass sich an einzelne Textsegmente nachträgliche Amplifikationen anlagern, in denen die Gemeinde ihre Ursprungsgeschichte, ihre Jenseitsvorstellungen oder juridische Normen artikuliert. In jedem Fall gilt, dass kanonische Texte ihren Status der Tatsache verdanken, dass sie eine ausgemachte Gravitationswirkung auf diejenigen Überzeugungen, Vorstellungen und Praxen ausüben, die für die Identität ihrer Gemeinde konstitutiv sind.

Diese weitreichende Vernetzung von Text und gemeindlicher Vorstellungswelt, die sich eben nicht nur auf eine Regulierung gemeindlichen Verhaltens beschränkt, wird durch exegetische Arbeit hergestellt, erhalten und aus- und umgebaut.13 Hierin liegt – neben der kontemplativen Durchdringung der sprachlichen und literarischen Beschaffenheit des Kanons – die zweite wesentliche Funktion von kanonischer Interpretationsarbeit. Man kann diese beiden primären Funktionen kanonischer Interpretation stenographisch als ›explikative‹ und ›konnektive‹ Finalität bezeichnen.14 Obwohl beide im obigen Beispiel ineinanderfallen, können sie doch auch unabhängig voneinander auftreten. Wenn etwa ein klassischer islamischer Koranexeget wie ath-Tha‘labī (gest. 1035) in seinen Kommentar ausführliche linguistische, theologische oder rechtliche Exkurse einschaltet, die häufig keinen unmittelbaren Erklärungswert haben, sondern nur ein vom Korantext vorgegebenes Wort oder Thema elaborieren,15 so handelt es sich dabei um explikativ unmotivierte konnektive Exegese. Der Ausleger festigt so in erster Linie die zentripetale Einheit der islamischen Gelehrtenkultur, ihre exegetische Beziehbarkeit auf einen textuellen Mittelpunkt:16 Der Koran erscheint als eine enzyklopädische Matrix, in welcher der kompetente Exeget alle maßgeblichen außerkoranischen Wissensdisziplinen seiner Zeit (wie Linguistik, Theologie, Recht oder die mündliche Prophetenüberlieferung) zu verorten vermag.

3. Fakhr ad-Dīn ar-Rāzīs Kommentar zu Sure 103:1


Im zweiten Teil dieses Beitrags möchte ich anhand eines Beispiels vorführen, welche konkrete Gestalt die gerade erarbeiteten Charakteristika kanonischer Auslegungspraxen in der islamischen Koranexegese annehmen können. Obwohl zu einer wissenschaftlich abgesicherten Geschichte der Koranauslegung bisher nur Vorarbeiten existieren, bietet es sich doch an, meiner Textprobe einen kurzen historischen Abriss voranzustellen.

Die Anfänge der islamischen Koranauslegung dürften in einer gewissen zeitlichen Diskontinuität zu der zwischen ca. 610 und 632 zu datierenden Korangenese liegen und nicht, wie von der isla­-mischen Tradition behauptet, unmittelbar an diese anschließen, ja gar auf Muhammad selbst zurückgehen. Nachdem der Koran in den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod vorrangig als Rezitationstext fungierte und daneben einzelne koranische Textsegmente auf gleichsam osmotische Weise in populäres Erzählgut, aber auch in bestimmte theologische und juristische Argumentationszusammenhänge einsickerten, setzte frühestens in der zweiten Hälfte des 7. Jh.s eine systematische interpretative Bearbeitung des koranischen Korpus ein. 17 Diese findet ihren literarischen Nie­derschlag in isolierten Glossen zu lexikalisch oder referentiell klärungsbedürftigen Ausdrücken und Wendungen; solche frühen Glossen liegen uns heute nur noch in späteren Sammlungen und Rezensionen vor. Aus dem 8. Jh. ist dann mit dem Korankommentar des Muqātil b. Sulaimān ein früher Volltextkommentar überliefert, welcher den gesamten Korantext in kleinteilige Textsegmente einteilt und zumeist kurze Paraphrasen, Äquivalenzen und interpretative Erweiterungen dazwischenschaltet;18 der Kommentar weist damit bereits in wesentlichen Aspekten das literarische Format auf, welches für alle späteren Werke der Gattung tafsīr konstitutiv ist.19 Als frühestes Werk der klassischen Koran­exegese wird in der Regel der monumentale Korankommentar aṭ-Ṭabarīs (gest. 922) genannt,20 der anders als Muqātil nicht nur eigene Er­läuterungen bietet, sondern ausführlich die überlieferten Ansichten früherer Exegeten zitiert, systematisiert und wertet. Spätestens mit aṭ-Ṭabarī hat sich damit die – in unterschiedlicher Gewichtung – für die meisten späteren tafsīr-Werke charakteris­tische Drei-Ebenen-Struktur aus: (i) Korantext, (ii) vorangehender exegetischer Tradition sowie (iii) den auf diese Tradition bezüglichen Anmerkungen, Widerlegungen, Harmonisierungsversuchen etc. des betreffenden Exegeten herausgebildet. Ein klassischer islamischer Koraninterpret tritt also in aller Regel nicht unmittelbar an den koranischen Primärtext heran, sondern behandelt diesen in Form eines scholastischen Durcharbeitens der Ansichten früherer Exegeten (wobei diese nicht explizit genannt sein müssen). 21

Auch wenn vormoderne islamische Korankommentare in der Regel ein ähnliches literarisches Format aufweisen und die jeweils verarbeiteten Traditionsbestände sich oft überlappen, hat sich das Genre doch schon früh ausdifferenziert: Bildungshintergrund, konfessionelle Zugehörigkeit (etwa zum sunnitischen oder schii­tischen Islam), theologische Ausrichtung und individuelle Interessen eines Exegeten prägen unweigerlich auch seine hermeneutische Praxis und die Interpretation einzelner Passagen, so dass in der Forschung häufig verschiedene Sub-Genres wie etwa schiitischer, sufischer oder mu ‘tazilitischer tafsīr unterschieden werden.22 Ob­wohl gerade im angelsächsischen Sprachraum inzwischen um­fangreiche Monographien zu einigen der wichtigsten islamischen Korankommentaren entstanden sind, ist die Entwicklung der Gattung gerade in späteren Jahrhunderten doch noch weitgehend unerforscht. Dass hier in Zukunft noch mit echten Überraschungen zu rechnen ist, zeigt der erst jüngst durch Walid Saleh in die Diskussion gebrachte Korankommentar des mamlukischen Ge­lehrten al-Biqā‘ī (gest. 1480), der den Korantext unter ausgiebiger Heranziehung biblischer Parallelen interpretiert – in bewusstem Bruch mit der exegetischen Tradition und in deutlicher Spannung zur islamischen Mehrheitsmeinung, der biblische Text sei durch Juden und Christen verfälscht worden und stelle deshalb kein genuines Offenbarungsdokument mehr dar.23

Fakhr al-Dīn al-Rāzī, dessen umfangreichem Korankommentar mit dem Titel Die Schlüssel zum Verborgenen (Mafātīḥ al-ghaib) die im Folgenden besprochene Interpretation von Sure 103 entstammt,24 ist als Anhänger der theologischen Schultradition der Ash‘arīten bekannt, die seit dem 11. Jh. zunehmend durch die Aus­-einandersetzung mit dem Gedankengut des islamischen Aristote­lismus und seines Hauptvertreters Ibn Sīna (Avicenna) geprägt wurde. Die Schlüssel zum Verborgenen gilt deshalb im Allgemeinen als theologisch-philosophisch orientierter Kommentar, wobei ar-Rāzī jedoch auch die übrigen Wissensdisziplinen klassischer islamischer Gelehrsamkeit virtuos beherrscht. Der koranische Primärtext seiner Interpretation von Sure 103 lautet:

1 Beim ‘aṣr!

2 Der Mensch ist im Zustand des Verlusts!

3 Außer denen, die glauben und gute Werke tun

und einander zur Wahrheit und Geduld anhalten.

Beim Anfangsvers dieser Sure handelt es sich um einen Schwur, wie er auch andere Koransuren eröffnen kann.25 Da die exegetische Tradition über die Bedeutung des arabischen Worts ‘aṣr uneins ist, widmet ar-Rāzī dem Vers trotz seiner Kürze eine längere Erörterung, die ich im Folgenden paraphrasierend referieren werde. Im Einklang mit den meisten anderen Koranexegeten versucht ar-Rāzī dabei keineswegs, die vorliegende Meinungsverschiedenheit zu überspielen, sondern stellt sie geradezu offensiv heraus: »Wisse, dass im Hinblick auf die Interpretation des ‘aṣr verschiedene Aussagen angeführt werden!« Im Anschluss werden dann insgesamt vier verschiede Erklärungen »des ‘aṣr« besprochen, nämlich:

Fussnoten:

1) die Zeit im Allgemeinen,
2) der Abend bzw. späte Nachmittag,
3) das Nachmittagsgebet (ṣalāt al-‘aṣr) und
4) die Ära des Propheten Muhammad.

Jede dieser vier Alternativen wird ausführlich präsentiert und jeweils mit mehreren Argumenten (ar-Rāzī spricht von »Gesichtspunkten« oder »Aspekten«, wujūh) begründet oder erläutert. Vor dem Leser entfaltet sich so ein dialektisches Kaleidoskop aus teilweise ineinander verschachtelten Gründen und Gegengründen, die einer großen Zahl von unterschiedlichen Wissensbeständen und Disziplinen (Theologie und Philosophie, Lexikographie, ko­ranische Textkritik, Prophetenüberlieferung, Recht) entstammen. Dabei scheint es ar-Rāzī durchaus nicht darum zu gehen, eine einzige ›richtige‹ Deutung des Verses zu ermitteln; auch am Ende seiner sich in einer modernen Edition über zweieinhalb eng bedruckte Seiten erstreckenden Exposition sieht er sich nicht genötigt, ab­schließend zu formulieren, was denn nun die ›eigentliche‹ Bedeutung des Wortes ‘aṣr im behandelten Koranvers ist: Der exegetische Vollzug zählt ganz offensichtlich mehr als das Ergebnis. Insgesamt erweist sich ar-Rāzī als souveräner Vertreter einer über Jahrhunderte hinweg gereiften exegetischen Praxis, der zum Teil traditionelle Textbausteine um zusätzliche Argumentationsgänge und Einwände ergänzt und daraus ein Gebäude von neuartiger Weitläufigkeit und Komplexität konstruiert.

Die erste Deutungsalternative besteht, wie bereits angedeutet, aus der Gleichsetzung des Ausdrucks ‘aṣr mit »der Zeit« (ad-dahr). Ar-Rāzī belegt diese Deutung zunächst mit einer auf Muhammads Schwiegersohn ‘Alī b. abī Ṭālib und den Prophetengefährten Ibn Mas‘ūd zurückgeführten nichtkanonischen Textvariante bzw. »Les­art«, zieht also als Erstes ein philologisches Register, nämlich dasjenige koranischer Textkritik. Der erwähnten Variante zufolge habe der Eröffnungsschwur der Sure eigentlich aus zwei Versen bestanden:

1 Beim ‘aṣr

1* und bei den Schicksalsschlägen der Zeit (ad-dahr)!

Wie bei nichtkanonischen Textvarianten auch sonst allgemein üblich, stellt ar-Rāzī sofort klar, dass er diese »Lesart« nur zu exegetischen Zwecken anführe und sie keinesfalls als für das rituelle Gebet gültig betrachte: »Wir sagen also nicht, dass er [der Prophet] dies als Korantext rezitiert habe, sondern nur als Interpretation.« Fasst man den außerkanonischen Vers 1* in diesem Sinne als interpretativen Zusatz auf, so erscheint er als Paraphrase von V. 1 und stützt insofern die Gleichung ‘aṣr = dahr.

Wie aber ist es zu erklären, dass zumindest in der kanonischen Textform des Koran der offensichtlich weniger ambivalente Ausdruck dahr durch das problematischere Wort ‘aṣr vertreten wird? Zur Beantwortung dieser – nicht ausdrücklich gestellten – Frage verweist ar-Rāzī auf die Tatsache, dass der Begriff des dahr, verstanden als zerstörerische Schicksalsmacht, ein zentraler Bestandteil der vom Koran bekämpften Weltsicht des altarabischen Heidentums war: »Möglicherweise hat der Erhabene deshalb nicht von der Zeit (ad-dahr) gesprochen, weil er wusste, dass die Ketzer ganz begierig darauf sind, von ihr zu reden und sie zu verherrlichen.« Eine koranische Verwendung des Begriffes hätte folglich als Billigung der mit ihm assoziierten paganen Schicksalsvorstellungen missverstanden werden können.26 Auf die Hypothese, die Wortwahl des Korans könne hier seinem historischen Verkündigungskontext geschuldet sein, kommt ar-Rāzī noch einmal gegen Ende seiner Exposition der ersten Deutungsalternative zurück, wobei er zugleich den Wortlaut des weiter oben zitierten nichtkanonischen Verses 1* evoziert: Die mekkanischen Heiden hätten die »Schick­salsschläge der Zeit« als Ursache dafür angesehen, dass der Mensch sich im Zustand des »Verlusts« (vgl. V. 2 der Sure) befinde; gegen diese irrige Ansicht habe Gott in Sure 103 klarstellen wollen, dass es sich bei der Zeit eigentlich um eine dem Menschen von Gott zuteil gewordene Gnade, also um etwas Positives handele, und es vielmehr der Mensch selbst sei, der »Verlust« – hier verstanden im Sinne des Verlustes der jenseitigen Seligkeit – verursache. Die beiden Eröffnungsverse der Sure wären in diesem Sinne etwa folgendermaßen zu paraphrasieren: »Bei der Zeit! Es ist der Mensch, der sich im Zustand des Verlusts befindet [und für diesen auch selbst verantwortlich ist]!«

Ar-Rāzīs zweites Argument für die Gleichsetzung ‘aṣr = Zeit springt von der Ebene koranischer Textkritik auf diejenige philosophischer Reflexion über. Die Zeit, so ar-Rāzī, »enthält erstaunliche Dinge«, denn sie umfasse nicht nur Gegensätze wie Freud und Leid oder Gesundheit und Krankheit, sondern stelle den menschlichen Verstand vor regelrechte Aporien: Einerseits könne man sie nicht als etwas Nichtseiendes beschreiben, denn die Zeit lasse sich ja in Jahre, Monate, Tage und Stunden einteilen und eine Zeitspanne könne größer, kleiner oder genauso lang wie eine andere sein oder als vergangen oder zukünftig qualifiziert werden – »wie kann sie also etwas Nichtseiendes sein?« Andererseits könne man die Zeit aber auch nicht als etwas Seiendes beschreiben, denn die Gegenwart, verstanden als momentanes Jetzt, lasse sich nicht teilen, während Vergangenheit und Zukunft nicht mehr bzw. noch nicht existierten – »wie soll man also das Sein von ihr aussagen?«

Offenbar will ar-Rāzī mit dieser – an Augustinus berühmte Betrachtungen über das Wesen der Zeit27 erinnernden – Reflexion erweisen, dass die Zeit ein philosophisch hinreichend komplexes, ja geradezu »erstaunliches« Phänomen ist, um der Nennung in einem koranischen Schwurvers würdig zu sein. Ein weiterer von ar-Rāzīangeführter »Gesichtspunkte« der Gleichung ‘aṣr = Zeit zielt in eine ähnliche Richtung: Ein einziger Augenblick, so ar-Rāzī, könne einen größeren Wert als das gesamte übrige Leben eines Menschen besitzen, selbst wenn dieses 1000 Jahre umfasse – denn wenn ein Mensch sich im letzten Augenblick seines Lebens bekehre, so werde er des Paradieses teilhaftig, egal wie viel Lebenszeit zuvor bereits verstrichen sei. Außerdem führt ar-Rāzī einen zweiversigen koranischen Passus an (Q 6:12.13), den er als Anspielung auf Raum und Zeit versteht und der insofern geeignet scheint, eine ähnlich ›philosophische‹ Deutung des Eröffnungsverses von Sure 103 zu stützen.

Generell lässt sich sagen, dass ar-Rāzīs Präsentation der verschiedenen Deutungsalternativen des Wortes ‘aṣr implizit immer auch an der Frage nach dem inhaltlichen Zusammenhang von V. 1 und V. 2 der Sure interessiert ist: Warum wird die Aussage, der Mensch befinde sich »im Zustand des Verlusts« gerade mit einem Schwur »beim ‘aṣr« eingeleitet? Eine mögliche Antwort hierauf wurde bereits oben referiert: Die Sure soll deutlich machen, dass nicht die Zeit für den »Verlust« des Menschen verantwortlich ge­macht werden kann, sondern nur dieser selbst. Das Junktim ‘aṣr – Verlust lässt sich jedoch noch auf andere Weise rationalisieren, wie ar-Rāzīs sechster und letzter »Gesichtspunkt« der ersten Deutungsoption zeigt: Mit dem Verstreichen der Zeit vermindere sich un­weigerlich auch die menschliche Lebenszeit, und wenn diese Verminderung nicht umgekehrt durch ein Erwerben – nämlich guter Taten und damit der jenseitigen Seligkeit – begleitet werde, so sei die letztendliche Bilanz eben ein »Verlust«. Mit einem einschlägigen Gedichtvers (»Wir freuen uns über die Tage, die wir verbringen; doch jeder vergangene Tag vermindert den Zeitraum bis zu unserem Tod!«) nimmt ar-R āzī schließlich noch einmal Anlauf für eine ausführliche Paraphrase des ersten Verses: »Bei der Zeit, mit der es sich insofern wunderbar verhält, als der Mensch sich über ihr Vergehen freut, da er meint, etwas zu verdienen, während sie doch eigentlich seine Lebenszeit zerstört! Er befindet sich im Verlust

Es ist aufschlussreich, einen kurzen Blick darauf zu werfen, wie ar-Rāzīs erste Deutungsalternative ‘aṣr = Zeit im Korankommentar az-Zamakhsharīs (gest. 1144) erscheint, mit dem ar-Rāzī sicher vertraut war.28 Das Werk az-Zamakhsharīs ist insgesamt deutlich kompakter angelegt; während ar-Rāzī verschiedene Deutungs­optionen ausführlich diskutiert, listet az-Zamakhsharī sie in der Regel nur konzise auf. Insofern ist es kaum überraschend, dass az-Zamakhsharī auch ar-Rāzīs erste Interpretation von Koran 103:1 nur knapp verzeichnet: »Oder er [d. h. Gott] schwört bei der Zeit (hier: az-zamān), da in ihrem Vergehen allerlei Erstaunliches liegt.« Das philosophische Potential dieser Interpretation ist hier noch kaum sichtbar. Ar-Rāzī bildet az-Zamakhsharīs kurze Paraphrase aṣr = Zeit (zamān) dann zu einer ›philosophischen‹ Erörterung des »erstaunlichen«, nämlich aporetischen Charakters der Zeit um. In diese Lesart des Verses integriert er zugleich aber noch die ebenfalls traditionelle Paraphrase ‘aṣr = dahr, die sich bereits bei aṭ-Ṭabarī (gest. 922) findet.29 Indem ar-Rāzī so in seine von az-Zamakhsharī inspirierte erste Deutungsalternative den Ausdruck dahr kooptiert, ist er in der Lage, seine Ausführungen erheblich anzureichern und zu diversifizieren: Er kann seiner philosophischen Reflexion ein philologisches Eröffnungsargument voranschalten, welches die be­kannte nichtkanonische Textvariante »und bei den Schick­salsschlägen der Zeit (hier: dahr)« ins Spiel bringt; und er kann auf die zentrale Rolle des Begriffs dahr im altarabischen Heidentum eingehen und damit den historischen Kontext der Koranverkündigung präsent machen – was ihn wiederum in die Lage versetzt, die weiter oben referierte Rekonstruktion des sachlichen Zusammenhangs von V. 1 und 2 der Sure zu entwickeln. Ar-Rāzī vermeidet es so, bei seiner Präsentation der ersten Deutungsalternative nur ein einziges diskursives Register, nämlich dasjenige philosophischer Reflexion, zu ziehen, sondern gruppiert ganz unterschiedliche Wissensdisziplinen um den Koran herum30: Wie weiter oben bemerkt, zielt dies neben der Lösung eines konkreten exegetischen Ausgangsproblems (explikative Finalität) auch darauf ab, die zentripetale Einheit der islamischen Gelehrtenkultur zu stabilisieren (konnektive Finalität).

Als zweite Deutungsoption nennt ar-Rāzī die Auffassung des ‘aṣr als konkrete Tageszeit.31 Auch für diese zweite Interpretation werden wieder mehrere »Gesichtspunkte« angeführt. Das erste Argument zeigt erneut, wie ar-Rāzī den knapperen Kommentar seines Vorgängers az-Zamakhsharī aufnimmt und ausbaut. Bei diesem heißt es nämlich: »Oder er [Gott] schwört beim Abend, so wie er auch beim ›hellen Morgen‹ schwört, aufgrund der in ihnen beiden enthaltenen [göttlichen] Machterweise.« Az-Zamakhsharī spielt hier auf den Anfang von Sure 93 an:

1 Beim hellen Morgen

2 und bei der Nacht, wenn sie still ist!

3 Dein Herr hat dich [nämlich Muhammad] nicht verlassen und nicht

verworfen.

Az-Zamakhsharī versteht die Nennung des Abends im Eröffnungsschwur von Sure 103 also als Gegenstück zur Nennung des Morgens zu Beginn von Sure 93; beiden Phänomenen, so az-Zamakhsharī, wohnen nicht näher bestimmte »Machterweise« inne. Ar-Rāzī re­produziert nun diesen kurzen Passus aus der Feder az-Zamakh­sharīs und fügt dann eine nähere Erläuterung der göttlichen »Machterweise« an: Der Morgen ähnele der Auferstehung der To­ten, insofern die Menschen beim Erwachen gewissermaßen »aus ihren Gräbern hervorkommen«, während der Abend der endzeitlichen Zerstörung der Welt gleiche. Morgen und Abend hätten insofern den Status von »wahrhaftigen Zeugen«, und ein Richter, der die Aussagen derartiger Zeugen missachte, gelte als »Verlierer«; ein Mensch, der diese eschatologische Verweisfunktion von Morgen und Abend ignoriere, befinde sich deshalb – wie der zweite Vers ja ausdrücklich festhält – im Zustand des »Verlusts«. Wiederum ist ar-R āzī hier bemüht, den Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Vers der Sure zu rekonstruieren.

Dieses Interesse am inhaltlichen Bezug zwischen den beiden Versen unterliegt auch dem zweiten und dritten »Gesichtspunkt«. So weist ar-Rāzī etwa darauf hin, dass der ‘aṣr = Abend auch der Zeitpunkt sei, zu dem die Marktgeschäfte endeten. Wenn nun ein Mann tagsüber keinen Verdienst erzielt habe, so stehe er vor seinen Angehörigen daheim als »Verlierer« da; ganz entsprechend gehörten diejenigen Menschen, die sich nicht auf das Jüngste Gericht vorbereiten, zu den »Verlierern«, wenn Gott am »Abend der Welt« Rechenschaft einfordere.

Ar-Rāzīs dritte Deutungsoption fasst den Ausdruck ‘aṣr als Stenogramm für die ṣalāt al-‘aṣr auf, das am Nachmittag zu vollziehende dritte der fünf islamischen Pflichtgebete. Ar-Rāzī führt diese Deutung auf den bereits genannten frühen Exegeten Muqātil b. Sulaimān zurück. Als Beleg für die besondere Wichtigkeit des Nachmittagsgebets zitiert ar-Rāzī erneut eine unkanonische Lesevariante, nämlich zu Koran 2:238, wo insbesondere zur Einhaltung des »mittleren Gebets« aufgerufen wird; die Variante – die angeblich dem Korankodex Ḥafṣas, der Tochter des zweiten Kalifen Umar, entstammen soll – konkretisiert dies im Sinne des Nachmittagsgebets. Die Bedeutung des Nachmittagsgebets ergibt sich jedoch nicht nur aus dieser Lesart von Koran 2:238, sondern auch aus einem Ausspruch des Propheten, den ar-Rāzī gleich im An­schluss anführt: »Wenn jemand das Nachmittagsgebet versäumt, so ist es, als sei er um seine Familie und seinen Besitz gebracht worden.« Dass den Gläubigen gerade das Nachmittagsgebet mit besonderem Nachdruck auferlegt worden sei, erklärt ar-Rāzī in seinem dritten »Gesichtspunkt« damit, dass die Menschen zu dieser Zeit besonders von Handel und Verdienst in Anspruch genommen würden. Auch der vierte »Gesichtspunkt« verbleibt auf dem Gebiet der Prophetenüberlieferung und ihrer juristischen Auswertung: Ar-Rāzī zitiert einen weiteren Ausspruch Muhammads, in dem dieser einer geständigen Kindsmörderin vorhält, zusätzlich auch noch das Nachmittagsgebet ausgelassen haben, wodurch dieses kultische Versäumnis an regelrechte Kapitalverbrechen assimiliert wird. Auch der fünfte und sechste Gesichtspunkt unterstreichen die be­sondere Bedeutung des Nachmittagsgebets, u. a. durch einen dritten Prophetenausspruch.

Als vierte Deutungsmöglichkeit nennt ar-Rāzī schließlich ein Verständnis des ‘aṣr als die »Zeit des Gesandten«, d. h. Muhammads. Als Begründung hierfür zitiert er eine wiederum als Ausspruch Muhammads formulierte Islamisierung des neutestamentlichen Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg aus Mt 20,1–16:

Mit euch verhält es sich wie mit einem Mann, der einen Tagelöhner anwarb und sagte: »Wer arbeitet für einen Qīrāṭ vom Tagesanbruch bis zum Mittag?« Das taten die Juden. Daraufhin sagte er: »Wer arbeitet für einen Qīrāṭ vom Mittag bis zum Nachmittag (‘aṣr)?« Das taten die Christen. Daraufhin sagte er: »Wer arbeitet für zwei Qīrāṭ vom Nachmittag (‘aṣr) bis zum Sonnenuntergang?« Das tatet ihr. Da wurden die Juden und Christen zornig und sprachen: »Wir haben mehr gearbeitet und weniger Lohn erhalten!« Da sprach Gott: »Habe ich euch etwa irgendetwas von eurem Lohn abgezogen?« Sie antworteten: »Nein.« Da sprach er: »Das ist meine Gnade, die ich zukommen lasse, wem ich will.« So habt ihr also weniger gearbeitet und einen größeren Lohn erhalten.

Obwohl die primäre Aussageabsicht dieser Überlieferung sicherlich der islamische Supersessionsanspruch gegenüber Judentum und Christentum ist – der pikanterweise in Gestalt einer polemischen Adaption eines neutestamentlichen Gleichnisses zum Ausdruck gebracht wird –, so interessiert sie ar-Rāzī an dieser Stelle vor allem als Beleg dafür, dass es sich beim ‘aṣr um die Zeit des Propheten Muhammad und seiner Gemeinde handele. Als weiteres Indiz hierfür verweist ar-Rāzī noch auf Koran 90:1.2 (»Ich schwöre bei diesem Ort/an dem du ansässig bist«), wo bei Muhammads Heimatstadt Mekka geschworen wird, und auf Koran 15:72, wo Muhammad mit dem Schwur »Bei deinem Leben!« angeredet wird. Aus der Perspektive der vierten Deutungsoption geht es in den ersten beiden Versen von Sure 103 also wesentlich um die Verkündigungstätigkeit Mu­hammads: »Es ist, als würde der Erhabene sagen: Du, O Muhammad, warst bei ihnen und hast sie gerufen, doch sie haben sich von dir abgewandt und dir keine Aufmerksamkeit geschenkt; wie groß ist deshalb ihr Verlust und wie gewaltig ihre Verlassenheit!«

4. Schlussbemerkungen


Unser Durchgang durch ar-Rāzīs Kommentar zum Eröffnungsvers von Sure 103 zeigt, wie sich je nach unterstellter Bedeutung des Wortes ‘aṣr ganz verschieden gelagerte Auffassungen des Schwures »Beim ‘aṣr!« ergeben: Der Vers spielt entweder auf das aporetische Wesen der Zeit an, oder er evoziert den Anbruch des Abends als prototypische Vorwegnahme des Weltendes, oder er unterstreicht das besondere Gewicht, welches der kultischen Verpflichtung zur Ab­haltung des Nachmittagsgebets zukommt, oder er blendet die Ab­lehnung von Muhammads prophetischer Verkündigung durch die mekkanische Mehrheitsgesellschaft ein. Auffällig ist dabei, dass je nach Deutungsalternative ganz unterschiedliche Diskursregis­ter dominieren: im ersten Falle philosophisch-begriffliche Reflexionen, mit koranischer Textkritik und historischen Referenzen als Beilage; im zweiten Fall eher erbauliche Betrachtungen zur Ana­-logie von Abend und Weltende; im dritten und vierten Fall Pro­- phetenüberlieferungen, wobei diese bei der dritten Alternative wiederum mit Textkritik, aber auch mit juristischen Gesichtspunkten (das besondere Gewicht der Verpflichtung zum Nachmittagsgebet und seine Ursache) angereichert sind.

Insofern der Ausgangspunkt von ar-Rāzīs Erörterungen in einem textimmanenten Verständnisproblem besteht, nämlich der Mehrdeutigkeit des arabischen Wortes ‘aṣr, handelt es sich bei seinem Kommentar zu Koran 103:1 um »explikative« Auslegung. Wie in dem eingangs referierten talmudischen Beispiel wird dieses textuelle Ausgangsproblem allerdings vorrangig durch die Herstellung von Bezügen zwischen koranischem Wortlaut und zentralen Elementen der gemeindlichen Vorstellungswelt (vermittelt durch die idiosynkratische Perspektive eines primär theologisch inter­-essierten Auslegers) behandelt: Der Vers wird an philosophische Diskurse über das Wesen der Zeit angebunden, an die – natürlich ihrerseits koranisch geprägte – islamische Jenseitserwartung, an die den Alltag strukturierende islamische Gebetspraxis sowie an das islamische Gründungsgeschehen, nämlich die Verkündigungs­tätigkeit Muhammads samt ihrer Überlegenheit über Judentum und Christentum. Ar-R āzīs Behandlung von Koran 103:1 arbeitet sich insofern an durchaus greifbaren textuellen Ausgangsproblemen ab, denen sich auch ein historisch-kritischer Kommentator des Korans zu stellen hätte (nämlich: Was bedeutet der mehrdeutige Ausdruck ‘aṣr im Kontext von Koran 103:1, und wie hängt dieser Eröffnungsschwur mit dem Folgevers zusammen?). Anders als in der historisch-kritischen Exegese mit ihrem Grundprinzip der Anachronismusvermeidung werden diese Ausgangsprobleme »kon­nektiv«, d. h. durch die Stiftung weit ausgreifender Be­züge zur eigenen Vorstellungswelt des Exegeten – anstatt zur rekonstruierten historischen Vorstellungswelt der koranischen Ur­gemeinde – gelöst. Dass es sich dabei gleichwohl um ernstzunehmende Exegese handelt, sollte deshalb jedoch nicht in Frage gestellt werden.

Summary


The article aims at providing a basic characterization of the pecul­iarities and hermeneutical methodology of pre-modern Islamic ex­egesis of the Qur’an. The first part of the essay puts forward a comparative analysis of some general features of canonical interpretation that draws inter alia on contemporary studies of Rabbinical midrash. Against the view that canonical interpretation aims primarily at the derivation of practical guidance it is argued that it may rather display a decidedly contemplative and scholarly character, while at the same time being concerned to establish, maintain, and extend the canon’s formative linkage to the self-perception and world view of its community. The second part then illustrates the peculiar shape that these general characteristics take in Islamic ex­egesis by guiding the reader through Fakhr ad-D īn ar-Rāzī’s sophisticated discussion of Qur’an 103:1. Particular attention is paid to ar-Rāzī’s adroit usage of various scholarly disciplines, such as textual criticism, philosophical reflection, prophetic tradition, and law.


1) Für die islamische Koranexegese nach wie vor unübertroffen ist in dieser Hinsicht Norman Calders brillianter Aufsatz »Tafsīr from Ṭabarī to Ibn Kathīr: Problems in the description of a genre, illustrated with reference to the story of Abraham«, in: Aproaches to the Qurān, hrsg. von Gerald R. Hawting und Abdul-Kader A. Shareef, London 1993, 101–140.
2) Obwohl sich Ähnliches wohl auch über die patristische und mittelalter­liche christliche Bibelexegese sagen ließe, soll diese hier außer Betracht bleiben.
3) Der folgende Abschnitt ist eine verdichtete Reformulierung von Nicolai Sinai, Fortschreibung und Auslegung. Studien zur frühen Koraninterpretation, Wiesbaden 2009, 1–22.
4) Obwohl der Begriff des Kanons häufig in erster Linie mit dem Merkmal einer verbindlichen Umfangsfestlegung verbunden wird – was seiner Verwendung im berühmten Osterfestbrief des Athanasius von Alexandrien entspricht –, verwende ich die Begriffe »Heilige Schrift« und »Kanon« hier synonym. Zu alternativen Verwendungsweisen etwa bei den amerikanischen Bibelwissenschaft- lern Albert Sundberg und Eugene Ulrich s. Sinai, Fortschreibung, a. a. O., 4–6.
5) John Barton, The Spirit and the Letter. Studies in the Biblical Canon, London 1997, 133 ff.
6) Auf den Umgang mit kanonischen Texten wird der ursprünglich von dem amerikanischen Philosophen W. V. O. Quine geprägte Begriff des hermeneu­tischen Wohlwollens (charity) von Mosche Halbertal, People of the Book. Canon, Meaning, and Authority, Cambridge, MA 1997, 27 ff., angewandt.
7) Stark in den Vordergrund gestellt wird die Handlungs- und Lebensrelevanz kanonischer Schriften u. a. von Jan und Aleida Assmann (»Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien« in: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, hrsg. von J. und A. Assmann, München 1987, 7–27, hier 13 und 26, Anm. 14; so auch Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 94 f.) sowie von dem amerikanischen Theologen James Sanders (Canon and Community. A Guide to Canonical Criticism, Philadelphia 1984, 26 f.).
8) Umgekehrt ist es auch nicht der Fall, dass sich die Begründung von Verhaltensnormen sowie ihrer rechtlichen Konsequenzen in der islamischen Juris­prudenz vorrangig auf den Koran stützen würde, auch wenn dieser nominell als grundlegende Quelle des islamischen Rechts gilt; für die Masse konkreter Bestimmungen sind die Muhammad zugeschriebenen und zunächst mündlich überlieferten Aussprüche und Präzedenzien von ungleich größerer Bedeutung.
9) Das Beispiel entnehme ich James L. Kugel, »Two Introductions to Mid­rash«, in: Midrash and Literature, hrsg. von Geoffrey H. Hartman und Sanford Budick, New Haven 1986, 77 f.
10) David Stern, »Midrash and Indeterminacy«, Critical Inquiry 15/1 (1988), 132–161, hier 15.
11) Dass das Nebeneinander gleichwertiger Interpretationen in der islamischen Exegese im Allgemeinen nicht als Manko, sondern als besonderer Vorzug empfunden wurde, hat bereits Ignaz Goldziher erkannt (Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1920, 84 f.): »In der Buntheit der Erklärungsmöglichkeiten, in dieser foecunditas sensus erblicken die Theologen des Islams geradezu einen Vorzug des heiligen Buches selbst, einen Beweis seines inneren Reichtums, der ihm innewohnenden Ergiebigkeit. Der Koran sei ḏū wuǧūh, d. i. vieldeutig, wörtlich: er zeige mehrere Gesichter. … Mit der Zulassung verschiedener traditioneller Deutungsmöglichkeiten verband man die Anschauung, dass es geradezu als löblicher Vorzug des Gottesgelehrten zu würdigen sei, dass er derselben Stelle verschiedene Erklärungsarten (wuǧūh) abgewinne. ›Du hast die Stufe vollkommenen Wissens nicht erreicht, bis du nicht im Koran verschiedene Weisen siehst.‹«
12) Halbertal, People of the Book, a. a. O., 3.
13) In der Terminologie Jan Assmanns wäre hier von »Sinnpflege« zu sprechen (Das kulturelle Gedächtnis, a. a. O., 88.96).
14) Obwohl sich die unter »explikative« und »konnektive« Interpretation subsumierbaren Phänomene traditioneller auch mit den Begriffen »Exegese« und »Eisegese« bezeichnen ließen, hat die hier entwickelte Terminologie doch den Vorzug, bestimmte hermeneutische Phänomene aus sich heraus zu be­schreiben, anstatt sie von außen her zu werten. Betrachten wir als Beispiel den sunnitischen Theologen al-Ghazālī (gest. 1111), der in einer Schrift mit dem Titel Die geradlinige Waage zu zeigen versucht, dass die grundlegenden Schlussfiguren der aristotelischen Syllogistik bereits im Koran zur Anwendung kommen. Dabei handelt es sich ganz offensichtlich um konnektive Interpretation: Al-Ghazālī konstruiert Bezüge zwischen dem Koran und einer seiner Ansicht nach grundlegenden und für die islamische Gelehrsamkeit unentbehrlichen wissenschaftlichen Disziplin. Ein moderner, historisch-kritisch ausgebildeter Forscher mag über einen solchen Brückenschlag die Nase rümpfen und versucht sein, ihn als willkürliche Eisegese zu qualifizieren, die – im Gegensatz zu unserem rabbinischen Beispiel – nicht durch ein genuines Verständnisproblem im Text motiviert sei, sondern dem Korantext gewaltsam die aristotelische Syllogistik überstülpe. Mit einem derartigen Naserümpfen wäre jedoch lediglich ein modernes Werturteil ausgesprochen, das keinesfalls die analytischen Kategorien prägen sollte, mit denen wir beschreiben, auf welche Art und Weise ein Autor wie Al-Ghaz ālī mit dem Koran umgeht. Im Gegensatz etwa zu dem Judaisten Daniel Boyarin, der eine Abgrenzung von Exegese und Eisegese – »between reading which is value-free and concerned with the difficulties of the biblical text and that which is unconcerned with those difficulties and speaks to the needs of the moments« (Intertextuality and the Reading of Midrash, Bloomington 1990, 5) – generell ablehnt, bin ich deshalb der Ansicht, dass die Opposition von Exegese und Eisegese durchaus einen wichtigen Unterschied in der möglichen Finalität kanonischer Schriftdeutung zum Ausdruck bringt. Sofern es uns jedoch darum geht, zu verstehen, was vormoderne Exegeten tun (anstatt es lediglich auf der Grundlage unserer eigenen hermeneutischen Vorlieben zu werten), ist die Un­terscheidung aber auf analytische und neutrale Art und Weise zu reformu- lieren.
15) Vgl. Walid Saleh, The Formation of the Classical Tafsīr Tradition. The Qur’ān Commentary of al-Tha‘labī (d. 427/1035), Leiden 2004, 196.201 ff.
16) Vgl. Norman Calders Rede von der »centripetal force of the quranic text« (Calder, »Tafsīr«, a. a. O., 106).
17) S. ausführlicher Sinai, Fortschreibung, a. a. O., 23–58 und 257–281. Aus traditioneller islamischer Sicht stellt der wohl 688 gestorbene Prophetengefährte ‘Abdallāh ibn ‘Abbās den eigentlichen Gründungsvater der Koranexegese dar. Mein auf der Grundlage eines Aufsatzes von Claude Gilliot geäußerter Verdacht, bei Ibn ‘Abbās’ exegetischen Aktivitäten handele es sich um ein späteres mythopoietisches Konstrukt, das primär eine Anbindung der islamischen Koranexegese an den Propheten Muhammad bezwecke (ebd., 269–271), hat in jüngster Zeit eine nachträgliche Bestätigung durch eine methodisch wegweisende Fallstudie Harald Motzkis zu Koran 15:90–91 erfahren, die zeigt, dass koranexegetische Überlieferungen zu diesem Passus erst ab der auf Ibn ‘Abb‘s folgenden Gelehrtengeneration sicher fassbar sind (Harald Motzki mit Nicolet Boekhoff-van der Voort und Sean W. Anthony, Analysing Muslim Traditions: Studies in Legal, Exegetical and Maghazi Hadith, Leiden 2009, 231–303).
18) Sinai, Fortschreibung, a. a. O., 217–256.
19) Vgl. Calder, »Tafsīr«, a. a. O., 101, der als grundlegendstes literarisches Charakteristikum des Genres »the presence of the complete canonical text of the Qur’ān (or at least a significant chunk of it), segmented for purposes of comment, and dealt with in canonical order« festhält.
20) Die bisher ausführlichste Studie zu ihm ist: Claude Gilliot, Exégèse, langue, et théologie en islam. L’exégèse coranique de Tabari (m. 311/923), Paris 1990.
21) Calder, »Tafsīr«, a. a. O., 103. Bereits in vormoderner Zeit kann jedoch auch eine kritische Distanzierung von der exegetischen Tradition begegnen, etwa bei Ibn Kathīr (gest. 1371), s. Calder, »Tafsīr«, a. a. O., 124.
22) Zur schiitischen Koranexegese bis zum 10. Jh. s. Meir Bar Asher, Scripture and Exegesis in Early Imami Shiism, Leiden 1999. Zur sufischen Koranexegese s. Gerhard Böwering, The Mystical Vision of Existence in Classical Islam. The Qur’ānic Hermeneutics of the Ṣūfī Sahl at-Tustarī (d. 283/896), Berlin 1980; Annabel Keeler, Sufi Hermeneutics: The Qur’a-n Commentary of Rashīd al-Dīn Maybudī, Oxford 2007; Kristin Zahra Sands, Ṣūfī Commentaries on the Qur’a-n in Classical Islam, Abingdon 2006. Einen ausführlichen Überblick über die wichtigsten Autoren und exegetischen Sub-Genres gibt Claude Gilliot, »Exegesis of the Qur’a-n: Classical and Medieval«, in: Encyclopaedia of the Qur’a-n, hrsg. von Jane Dammen McAuliffe, Bd. 2, Leiden 2002, 99–124.
23) S. Walid A. Saleh, In Defense of the Bible. A Critical Edition and an Introduction to al-Biqā‘īs Bible Treatise, Leiden 2008.
24) Vgl. zu seinem Kommentar die in Gilliot, »Exegesis,« a. a. O., 115 f. ge­nannte Literatur. Die neueste Studie zur Theologie Fakhr al-Dīn al-Rāzīs ist Ayman Shihadeh, The Teleological Ethics of Fakhr al-Dīn al-Rāzī, Leiden 2006.
25) Vgl. etwa die Suren 85, 86, 89, 91 oder 92.
26) Im Koran selbst findet sich an einer Stelle (Q 45:24) der empörte Ausruf: »Sie sagen: ›Es gibt nur unser diesseitiges Leben; wir sterben und leben, und es ist nur die Zeit (ad-dahr), welche uns zugrunde gehen lässt.‹ – Sie haben kein Wissen darüber, sie ergehen sich in bloßen Vermutungen!«
27) Vgl. Confessiones, Buch 11, Kapitel 14 und 15.
28) Zum Kommentar az-Zamakhsharīs s. jetzt Andrew J. Lane, A Traditional Mu‘tazilite Qur‘ān Commentary. The Kashshāf of Jār Allāh al-Zamakhsharī (d. 538/1144), Leiden 2006, sowie die teilweise kritische Rezension von Suleiman A. Mourad in: Journal of Semitic Studies 52/2 (2007), 409–411.
29) Dieser versteht sie jedoch noch nicht im Sinne einer Gleichsetzung des ‘aṣr mit der Zeit im Allgemeinen, sondern verknüpft sie vielmehr mit der Auffassung, der ‘aṣr stelle eine bestimmte Tageszeit dar, nämlich den Abend – was ar-Rāzīs zweiter Deutungsalternative entspricht. Die Beobachtung zeigt gut, wie ein kompetenter Exeget durch subtile Verschiebungen Kontext und argumentative Funktion einer vorgegebenen exegetischen Überlieferung verändern kann.
30) Vgl. Calder, »Tafsīr«, a. a. O., 111, der ar-Rāzī einen »fine sense of how textual problems can be solved by playing across the disciplines« attestiert.
31) Wie in der vorletzten Fußnote bemerkt, ist diese zweite Deutung in dem drei Jahrhunderte älteren Korankommentar aṭ-Ṭabarīs noch nicht von ar-Rāzīs erster Deutungsalternative (der ‘aṣr als Zeit im Allgemeinen) separiert.