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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

3-24

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pilgrim W. K. Lo

Titel/Untertitel:

Menschenwürde aus chinesisch-konfuzianischer Sicht

1. Menschenwürde im Westen und in China*


»Menschenwürde« ist etymologisch weder ein biblisches Wort noch ursprünglich ein theologischer Begriff. Das besagt aber nicht, dass die christliche Theologie kein Recht hätte, eine Stellungnahme zu diesem Thema abzugeben oder die Missachtung von Menschenwürde zu kritisieren. Martin Honecker1 hat Recht, dass der Gedanke der Menschenwürde tief im Boden der biblischen Tradition verwurzelt ist, z. B. in der Ehre und Hoheit des Menschen (Ps 8,6), in seiner Gottesebenbildlichkeit (Gen 1, 27) und in der Freiheit und Gleichheit der Menschen vor Gott (Röm 8,21; 1Kor 9,19 und 12,13; Gal 3,28 und 5,1), wobei freilich keine entwicklungsgeschichtliche Kontinuität zwischen solchen biblisch-christlichen Grundbegriffen der Anthropologie und dem Begriff »Menschenwürde« besteht. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass das Thema Menschenwürde in der neuzeitlichen Theologiegeschichte zu einem zentralen Teil der christlichen Anthropologie und Sozialethik ge­worden ist.

Der Begriff Menschenwürde bildet, obwohl er nicht ausschließlich theologisch begründet ist, sich aber auf dem Boden der jü­disch-christlichen Kultur entwickelt hat, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus in der westlichen Welt das Fundament und den Mittelpunkt des Wertesystems der Verfassung und gibt den Geltungsgrund für die Grundrechte ab. Das wird insbesondere durch Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 deutlich, durch Artikel 1 des Grundgesetzes der Bun­desrepublik Deutschland von 1949 sowie durch Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2009.

Der gegenwärtige Globalisierungsprozess animiert nicht nur die Politiker und Wirtschaftler der Entwicklungsländer, vor allem in China, das Wirtschaftssystem und seine Beziehung zur Politik der westlichen Welt zu analysieren bzw. das kapitalistische System des Westens nachzuahmen, sondern er inspiriert auch die Gelehrten zum Nachdenken über die grundlegenden Werte des Westens, z. B. über Freiheit, Demokratie, Menschenrechte usw.2 Dabei fragt sich, ob sich das Prinzip der Menschenwürde mit der chinesisch-konfuzianischen Tradition vereinbaren, verbinden oder zumindest vermitteln lässt. Das ist die Frage, der dieser Beitrag nachgehen will.

2. Konfuzianische Anthropologie als Grundlage von Menschenwürde


Was verstehen die Chinesen unter Menschenwürde? Gibt es überhaupt einen Begriff von Menschenwürde im Erbe der chinesischen Kultur? Ist die Würde des Menschen von wesentlicher Bedeutung für die chinesische Gesellschaft? Ein Begriff von Menschenwürde, wie er z. B. in dem von evangelischen und katholischen Sozialethikern gemeinsam verantworteten Text »Im Zentrum – Men­schenwürde«3 erläutert wird, ist in Lexika chinesischer Philosophie oder Religion nicht zu finden.4 Das besagt aber nicht, dass die Chinesen grundsätzlich nichts von Menschenwürde wüssten. Gregor Paul äußerte zu Recht, dass die chinesischen Konzepte relevante Ähnlichkeiten mit westlichen Konzepten der Menschenwürde be­sitzen.5 Der Konfuzianismus hat die Hauptrolle in China ge­spielt, seit vielen Jahrhunderten die Kultur Chinas geprägt und den größten Einfluss auf das Leben und die Gesellschaft der Chinesen ausgeübt.

2.1 Das grundlegende metaphysische Prinzip


Ob Konfuzius (551–479 v. Chr.) an einen Gott oder eine Gottheit glaubte, ist bis heute umstritten. Sicher ist aber nach Lún Yü (Ge­spräche), dass Konfuzius nicht über Götter oder Geisterwesen usw. spricht.6 Auf der anderen Seite hat er aber eine Idee von Metaphysik, nämlich eine moralische Metaphysik. Er legt, genauer gesagt, der Metaphysik die Moral zugrunde. Für Konfuzius ist das Universum in sich ein moralisches Universum. Das moralische Prinzip des Menschen ist im Grunde das metaphysische Prinzip des Universums, und somit befindet sich das Prinzip des Universums in der Moralität des Menschen.7 Was Konfuzius mit Tiān mìng8 (himmlisches Mandat/Wille des Himmels/Fügung des Himmels) oder Tiān dào (Himmelsweg) meint, ist nicht anders als im Sinne der apriorischen Moralität zu verstehen, die auf der einen Seite zum Wesen des Himmels gehört, aber auf der anderen Seite im Leben des Menschen zu erkennen ist. In dieser Weise verknüpft er das moralische Menschenleben mit dem metaphysischen Prinzip. Somit ist der menschlichen Moralität Allgemeingültigkeit zuzuerkennen.9 Jedenfalls in der Alltagssprache entspricht das Wort Himmel dem Wort Gott. Aber als chinesischer Ausdruck ist »Himmel« für Konfuzius nicht mit »Gott« als mit einem transzendenten Wesen oder Geisterwesen zu vermischen.10 In einem gewissen Sinne kann man Konfuzius als Agnostiker bezeichnen, wenn er sagt, »Wissen oder Weisheit heißt, Gespenster und Götter zu ehren, aber ihnen fern zu bleiben«,11 oder »wenn man den Menschen noch nicht dienen kann, kann man den Geistern auch nicht dienen; wenn man das Leben noch nicht kennt, kennt man auch den Tod nicht«.12 Menzius (372–289 v. Chr.) ist der gleichen Meinung. Er sagt: »Wer heilig ist und unerforschlich, heißt göttlich«.13 Aber woher wissen sie dann etwas vom metaphysischen Prinzip des Himmels?

Im Unterschied zur jüdisch-christlichen Theologie der Wort-offenbarung sagt Konfuzius, »der Himmel schweigt, aber die vier Jahreszeiten gehen ihren Gang und alle Dinge werden er­zeugt«.14 Ähnlich Menzius: »Der Himmel spricht nicht, sondern er unterweist uns nur durch Wirkungen und Geschehnisse.«15 Für Menzius ist der Wille des Himmels dem moralischen Universum gleich. Der Himmel als das sichtbare Universum16 offenbart sich nicht nur in der Natur wie im Gang der Jahreszeiten, sondern auch in der dem Menschen innewohnenden Moralität. Dementsprechend ge­hört der Mensch nicht nur zur Natur, sondern auch zur Moralität des Himmels. Diese anthropologische Auffassung wurde als homo-kosmologisch bezeichnet.17 Aufgabe des Menschen ist es vor allem, den Himmel zu erkennen und dann dem Himmel zu dienen.18 Sein Lebensziel richtet sich folglich auf das Transzendente.19 Wenn jemand den Himmel erkennt, gehört er nicht nur zum Volk seines Staates, ist also nicht nur ein irdisches Lebewesen, sondern auch Wesen des Himmels.20 Durch die Übertragung der Bezeichnung »Volk des Himmels« auf irdische Menschen wird die Erhabenheit des Menschen im metaphysischen Sinne zum Ausdruck gebracht. In diesem Sinne ist Menzius’ Anthropologie als onto-existentiell verstanden und bezeichnet worden.21 Aus dieser Auffassung folgt, dass es unnötig ist, den Willen des Himmels über die Moralität hinaus zu suchen. Was man vom Himmel wissen kann und soll, ist tief verwurzelt im Menschen. Das ist die Natur des Menschen.

2.2 Das grundlegende moralische Prinzip


Konfuzius hat viel über die Natur des Menschen gesagt, aber keine systematische Lehre von ihr hinterlassen. Was er über die Natur des Menschen gelehrt hat, wird zum guten Teil an dem Begriff Rén deutlich. Es gibt mehrere Übersetzungen von Rén – z. B. Mensch, Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, Liebe, Wohlwollen, Güte oder Barmherzigkeit. Dass man Rén mit so vielen Worten umschreiben kann, liegt nicht nur daran, dass es keinen entsprechenden Begriff im Deutschen gibt. Es ist bei Konfuzius auch keine klare Definition von Rén zu finden. Das Wort Rén stammt ursprünglich nicht aus dem Konfuzianismus. Nicht zu bestreiten ist aber, dass Konfuzius die Lehre von Rén aufgestellt hat. Im philosophisch-soziologischen Sinne beherrschte der Lǐ-Gedanke oder das Sittensystem die Gesellschaft in der Frühlings- und Herbstperiode (ca. 771–481 v. Chr.). Anfangs – bis zur Zeit des Konfuzius (511–479 v. Chr.) – ging das gut, doch dann folgten zerstörerische Zeiten, in denen das Sittensystem aus den Fugen geriet. Konfuzius hat (Sittlichkeit, Sitte, Riten) weder verworfen noch seinen Wert herabgesetzt. In Ergänzung zu sagte er aber: »Ein Mensch ohne Rén, was hilft dem das «.22 Mit seiner Lehre von Rén wollte er das brennende Problem seiner Zeit – den politischen Zerfall – lösen.

Etymologisch besteht das Schriftzeichen für Rén aus zwei anderen Zeichen, nämlich »Mensch« und »Zwei«. Tan Sitong (1865–1898) hat Rén im Vorwort seines Buches Die Lehre vom Rén als Begegnung von zwei Menschen interpretiert. Zusätzlich zu Tan Sitong sagte Kang Youwei (1858–1927), dass es bei der Begegnung von zwei Menschen eine Anziehung gibt, nämlich »Liebe«.23 In Lǐjì (Das Buch der Riten) steht, Rén bedeutet, dass Oberschicht und Unterschicht einander nahekommen.24 Dieser überlieferte Gedanke – Liebe als Synonym für Rén – ist unzweifelhaft die konfuzianische Grundauffassung vom Rén, die Konfuzius zur Grundlage seiner Lehre vom Rén gemacht hat. Als sein Schüler Fan Tschï ihn nach Rén fragte, antwortet Konfuzius einfach mit dem Wort »Liebe«.25 Für Konfuzius ist Rén jedoch nicht nur mit Liebe gleichzusetzen. Unter Rén versteht Konfuzius ein zweifaches Bewusstsein – vom Selbst und von den anderen.26 Für Konfuzius richtet sich das Rén als Bewusstsein auf das Streben nach Erkenntnis und auf die Bildung der Personalität einerseits, andererseits auf die Verantwortung für die anderen.

Es gibt zwei gute Beispiele, um den Konfuzianern die christliche Lehre von der Nächstenliebe (Mt 22,39; Gal 5,14) verständlich zu machen. Als Dschung Gung nach Rén fragte, antwortete Konfuzius: »Was man selbst nicht wünscht, das tue man anderen Menschen nicht an.«27 Als Dsï Gung nach Rén fragte, sagte Konfuzius: »Rén heißt, du sollst die anderen festigen, wenn du es dir wünschest, gefestigt zu sein; und die anderen aufklären, wenn du es dir wünschest, aufgeklärt zu sein«.28 Das ist das wesentliche Motiv in Konfuzius’ Lehre vom Rén, auch in seiner Anthropologie, denn es ist für ihn undenkbar, dass Rén nicht im Menschen eingewurzelt wäre. Deshalb sagte er sinngemäß: Wenn ein Jūnzǐǐ (wörtlich Fürs­tensohn, bedeutet aber »Edler« im Sinne eines Titels für den Idealmenschen) das Rén von sich weglässt, macht er seinem Namen Schande und verdirbt seinen Ruf.29 Dieser Auffassung zufolge ist Rén nicht ein Gegenstand oder ein Ding, sondern es ist etwas Unerlässliches, das in den Menschen und in sein Leben eindringt, um ihm Wert und Sinn zu geben.

Von Bedeutung ist Rén nicht nur für die Menschennatur oder für die Personalität einer einzelnen Person. Für die Gesellschaft ist Rén ebenfalls ein Erfordernis. Rén ist nach Konfuzius für das Volk noch wichtiger als Wasser und Feuer.30 Obwohl nach der Ansicht der Konfuzianer das Rén jedem Menschen angeboren ist, muss sich Rén ausdehnen, um die Menschen durch gute Beziehungen miteinander zu verbinden. Nach dem Konfuzianismus sollte man dabei jedoch die Triebe des Menschen nicht unterschätzen. Die Triebe können die guten Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft beschädigen. Dabei bestehen aus der Sicht der Konfuzianer die Triebe im Grunde aus den biologischen Bedürfnissen des Menschen. Im Unterschied zum scholastischen und reformatorischen Verständnis von concupiscentia sind die Triebe in sich also nicht unbedingt böse, weil sie eigentlich Teil des menschlichen Wesens sind.31 Aber wenn die Menschen über die Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse hinaus immer mehr verlangen und andere dadurch beeinträchtigen, sind die Triebe böse und sollten deshalb besiegt werden.32

In diesem Zusammenhang verknüpft Konfuzius seine Lehre vom Rén wieder mit dem Gedanken vom Lǐ. Er sagt: Dadurch, dass man sich selbst überwindet und zum zurückkehrt, nämlich das befolgt, bewirkt man das Rén. Würde man auch nur für einen einzigen Tag sich selbst überwinden und zum zurückkehren, so würde die ganze Welt sich dem Rén zuwenden.33

Für Konfuzius kann man im Leben kein festes Fundament haben, wenn man das nicht kennt.34 Er hat sogar die Einzelheiten der Selbstüberwindung in Bezug auf konkret dargestellt:

– Was dem nicht entspricht, darauf schaue nicht;

– was dem nicht entspricht, darauf höre nicht;

– was dem nicht entspricht, davon rede nicht;

– was dem nicht entspricht, das tue nicht.35

Schauen, Hören, Reden und Tun sind die konkreten Verhaltensweisen der Menschen, die für die Beziehungen zwischen ihnen die entscheidende Rolle spielen. Sie müssen sich aber nach dem richten, um eine moralische Gesellschaft zu schaffen und zu bewahren.

2.3 Die Natur des Menschen


In den jüngeren Forschungen über die Anthropologie des Konfuzius ist man weithin der Ansicht, dass seine Lehre über Rén und über nicht zu Ende diskutiert ist.36 Andres TANG hat darauf hingewiesen, dass es eine Spannung zwischen Rén und gibt.37 Für Konfuzius liegt einerseits das Rén der Subjektivität des Menschen zugrunde, vor allem wenn er über die Ausdehnung oder die Verwirklichung des Rén spricht. Denn Rén zu sein, kann nur von dem Menschen selbst ausgehen. Andererseits ist als richtige Verhaltensweise zwischen Menschen zu verstehen – oder, mit den Worten der Konfuzianer: Réndào (der Weg des Menschen), die moralische Richtschnur also.38 Demzufolge muss der Mensch sich auf eine andere Person beziehen, weil das »Ich« in der ethischen Beziehung ohne die anderen unvorstellbar ist.39 Mit anderen Worten gesagt: In der Verwirklichung des oder, um gegenüber dem Rén vollkommen zu werden, hat die andere Person oder Gemeinschaft den Vorrang. Diese Spannung kann man als Widerspruch zwischen Autonomie und He­teronomie betrachten. Infolgedessen unterscheiden sich zwei be­deutende konfuzianische Lehrer, nämlich Menzius, der die We­senslehre von der guten Veranlagung des Menschen aufgestellt hat, und Xúnzǐ (ca. 313–238 v. Chr.), der im Gegenteil die Wesenslehre von der schlechten Veranlagung des Menschen vertrat.40

Im Grunde sind Konfuzius, Menzius und Xúnzǐ sich anthropologisch in der Auffassung einig, dass der Mensch sich vom Tier unterscheidet. Diese Unterscheidung ist das Wesentliche, das den Menschen zum Menschen macht. Zu bemerken ist aber, dass sie die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier aus ihren verschiedenen Perspektiven mit je eigener Betonung betrachten. Die Überzeugung des Konfuzius ist in Lǐjì deutlich aufgezeigt, wenn er sagt: »Deshalb waren die Heiligen (Shèngrén) schöpferisch tätig und machten die Sitte (), um die Menschen zu erziehen, so dass die Menschen dadurch, dass sie Sitten () hatten, es lernten, sich von den Tieren zu unterscheiden.«41 Folglich macht die Sitte den Menschen zum Menschen.42 Für Menzius steht hier der Begriff Weg (Dào) im Mittelpunkt seiner Gedanken, nämlich der »Weg des Menschen« (Réndào). Damit meint er das ethische Verhalten zwischen Menschen. Er weist darauf hin, wie wenig es doch ist, das den Menschen von den Tieren unterscheidet. Zwar gehen einfache Leute darüber hinweg; der Edle (Jūnzǐ) beachtet es aber, somit kann er das Prinzip, das der Wirklichkeit und den menschlichen Beziehungen zugrunde liegt, gut verstehen.43

Im Unterschied zu Konfuzius und zu Menzius hat Xúnzǐ den Akzent auf Gerechtigkeit () ge­setzt. Er lehrt, dass Wasser und Feuer Materie haben, aber kein Leben; Gräser und Wälder haben Leben, aber keine Empfindungen; Geflügel und Tiere haben Empfindungen, aber keine Gerechtigkeit (); Menschen haben Materie, Leben, Empfindungen und Gerechtigkeit (), daher sind sie das Wertvollste unter dem Himmel.44 Es ist zwar richtig, dass »Sitte«, »Weg« und »Gerechtigkeit« in verschiedene Richtungen weisen. Aber im Grunde widersprechen sie einander nicht, sondern sie bilden zusammen das System der Anthropologie des klassischen Konfuzianismus. Wie bereits erwähnt, bleibt die Anthropologie Konfuzius’ im Blick auf seine Lehre vom Rén und für seine Anhänger mehrdeutig. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, seine Gedanken weiterzuentwickeln. Obwohl die Meinungen von Menzius und Xúnzǐ an bestimmten Punkten auseinandergehen, z. B. über die Veranlagung des Menschen oder über den Weg zum Guten, sind Menzius’ Ansatz bei der Rén-Lehre im Sinne des Idealismus und Xúnzǐs Ansatz bei der -Lehre im Sinne des Empirismus gemeinsam in der Lage, uns über die konfuzianische Anthropologie systematisch zu informieren.

2.3.1 Menzius
Mit einem Gleichnis von der Barmherzigkeit versuchte Menzius, seine Überzeugung zu begründen, dass die angeborene Natur des Menschen nicht nur zur Güte neigt, sondern an sich gut ist: »Dass jeder Mensch barmherzig ist, meine ich so: Wenn Menschen plötzlich ein Kind erblicken, das im Begriff ist, in einen Brunnen hineinzufallen, so regt sich in aller Herzen Furcht und Mitleid. Nicht weil sie mit den Eltern des Kindes in Kontakt kommen wollten, nicht weil sie Lob von Nachbarn und Freunden ernten wollten, nicht weil sie üble Nachrede fürchteten, zeigen sie sich so.« 45 Menzius ist davon überzeugt, dass diese spontane Reaktion das ureigene Wesen des Menschen enthüllt, nämlich die Güte, die nicht aus den Trieben des Menschen stammt. Abgeleitet davon hat er die »Lehre von vier Naturanlagen« aufgestellt. Mitleid, Schamgefühl, Bescheidenheit und Rechtsbeurteilung sind allen Menschen eigen, und sie sind zugleich die Voraussetzungen der vier Kardinaltugenden Rén, Yì, Lǐ, Zhì (Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Sittlichkeit, Weisheit),46 die nach Menzius die »moralische Seele«47 ausmachen.

Während Menzius davon ausgeht, dass bei allen Menschen diese vier Naturanlagen vorhanden sind, die er als »gut« betrachtet, verleugnet er jedoch die anderen Anlagen des Menschen, z. B. biologische Triebe, die auch bei Tieren zu finden sind, nicht. Und gerade dadurch ist der Mensch vom Tier zu unterscheiden. Das heißt nicht, dass ein Instinkt den Menschen zum Menschen macht, sondern entscheidend sind diese von den Tieren unterschiedenen guten Anlagen des Menschen. Ferner sollte man die biologischen Anlagen (z. B. Triebe) ordentlich kontrollieren und zugleich die vier guten Anlagen entwickeln, um schließlich die vier Kardinaltugenden zu erreichen. Das ist der Weg zum Menschsein. Diese Erklärung wurde als Ergänzung zur Lehre des Konfuzius über das Rén angesehen,48 weil er das Seelische, wie Vernunft und Gerechtigkeit, vom Körperlichen, wie Mund, Ohr und Auge, deutlich unterscheidet und es zum Wesen des Menschseins rechnet.49 Außerdem hat Konfuzius die Behauptung aufgestellt, dass in der vom Körperlichen unabhängigen Tätigkeit die Subjektivität der Seele zu finden sei.50

2.3.2 Xúnzǐ

Die Morallehre bei Menzius wie auch bei Konfuzius ist untrennbar von ihrem Glauben an die Moralität des metaphysischen Himmels. Nur darin findet man den Wert und den Sinn des Menschseins. Xúnzǐ aber vertritt eine dem Deismus nahestehende Meinung. Ob­wohl Xúnzǐ dem zustimmt, dass das Wesen des Menschen ihm von Natur aus angeboren ist,51 und er die Wirkung der Natur oder der Naturgesetze nicht bestreitet, vertritt er die Auffassung, dass sich die Wirkungen und Gesetze der Natur nicht auf den Willen oder Zweck des Himmels beziehen.52 Der Himmel selbst besitzt für ihn gar keine moralischen Qualitäten. Er ist für Xúnzǐ auch niemals ein Weltherrscher, dem alle Menschen gehorchen müssten. Der Himmel und der Mensch haben ihre je eigenen Aufgaben. Der Himmel hat seine Jahreszeiten, die Erde ihre Reichtümer und der Mensch das geordnete soziale Leben. Alle Dinge werden dadurch genährt und kommen so zum Werden und zur Vollendung.53 Weil die Menschen nicht sehen, aufgrund welcher Kräfte und Prinzipien diese Naturerscheinungen wirken, sondern nur das Ergebnis wahrnehmen, ist auch die menschliche Moralität nicht in einem metaphysischen Himmel zu suchen und zu finden. Für Xúnzǐ ist es der Mensch selbst, nicht der Himmel, der die Menschen zum Glück oder Unglück bringt, weil Ordnung und Chaos nicht beim Himmel liegen, sondern in der Hand des Menschen. Der Mensch scheint im Sinne Xúnzǐs in die Rolle eines irdischen Weltgestalters ein- und freigesetzt zu sein. In dieser Sichtweise sind Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Sitte ausschließlich menschliche Errungenschaften.

Es ist aber eine interessante Frage, wie Xúnzǐ von Moral reden kann, wenn der Mensch seiner Natur nach böse ist und die Ordnung der Gesellschaft vom Menschen abhängt. Wäre daraus nicht die logische Konsequenz zu ziehen, dass die Welt chaotisch sein muss? Im Gegensatz zu Menzius hat Xúnzǐ in seinen Aussagen über das Wesen des Menschen mit Nachdruck auf die Begierde des Menschen hingewiesen. Er lehrt,

– dass es der Natur des Menschen entspricht, vom Anfang sei-nes Lebens an nach seinem eigenen Vorteil zu streben. Folgt der Mensch seiner Natur, so herrschen Streit und Raub, vergessen ist jede Rücksichtnahme.

– dass der Mensch von Natur aus Neid und Hass empfindet. Folgt er seiner Natur, kommt es zu Aufruhr und Räuberei, und vergessen sind Treue und Zuverlässigkeit.

– dass Ohren und Augen des Menschen von Natur aus ihr eigenes Begehren haben, so dass der Mensch Wohlklang und Schönheit liebt. Folgt er seiner Natur, so kommt es zu Ausschweifung und Unordnung, vergessen sind Sittlichkeit, Pflicht und kultivierte Ordnung.54

Hier liegt die Betonung stets auf der Wirkung der Begierde. Warum ist der Mensch aber von Natur aus böse? Weil er die natürliche Begierde besitzt. Warum ist es böse, sie zu besitzen? Weil aus ihr das Böse stammt. Außerdem hat Xúnzǐ noch ein Argument für seine Lehre vorgebracht. Für ihn gilt nicht, dass das Streben des Menschen nach dem Guten ein Beweis für die gute Naturanlage des Menschen wäre. Sondern er argumentiert umgekehrt: Weil alle Menschen von Natur aus den Mangel an Gutem empfinden, streben sie nach dem Guten. Das zeigt, dass die Natur des Menschen böse ist.55 Mit anderen Worten: Alles, was der Mensch nicht in sich hat, sucht er sich von außen zu beschaffen. Xúnzǐ hat nicht deutlich dargestellt, woher eigentlich seiner Meinung nach die Güte kommt oder warum die Menschen nach dem Guten streben. Er hat aber bestätigt, dass es die Güte gibt, nach der die Menschen streben. Von Gewicht ist bei Xúnzǐ gerade das Streben nach dem Guten. Das ist die Grundlage für seine Lehre über die Moralität. Xúnzǐs Ansicht nach ist die Naturanlage dem Menschen vom Himmel verliehen. Sie ist nicht durch Lehren oder Dienen zu bekommen.56 Trotzdem besitzen alle Menschen die Fähigkeit, das Wesen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit zu erkennen und sie zu verwirklichen.57 Diese Fähigkeit ist bei Xúnzǐ nicht mit der moralischen Seele bei Menzius gleichzusetzen, weil sie kein gerechtes Verhalten sicherstellen kann. Deshalb ist die Verwirklichung der Moralität auch nicht im Inneren des Menschen zu suchen, sondern außerhalb des Menschen. In diesem Zusammenhang behauptet er, dass jeder Mensch durch Erziehung zu einem Edlen (Jūnzǐ) gemacht werden kann.

Weil Aufruhr und Räuberei Resultate menschlicher Begierden sind, benötigt man soziale Normen, um das Verhalten der Menschen zu regeln. Zusätzlich zum Gesetz hat Xúnzǐ mit Nachdruck auf die Sitte () hingewiesen. Über den Gedanken von Konfuzius hinaus betrachtet Xúnzǐĭ jedoch mehr als Sittlichkeit. Bei ihm wird in politischer Hinsicht zur Regel für das Verhältnis von Regierten und Regierenden oder ganz allgemein zum Inbegriff von Ordnung in der Gesellschaft. Xúnzǐ ist davon überzeugt, dass das Haben-Wollen (oder das Nicht-Haben-Wollen) sich bei allen Menschen auf die gleichen Dinge bezieht. Wenn die Menschen heftige Begierde empfinden, werden die Dinge knapp. Und wenn die Dinge knapp sind, entsteht Streit.58 Daraus ergibt sich die Folgerung: Um Frieden zu haben, müssen die Menschen kultiviert werden. Dafür spielen die Sitten () die entscheidende Rolle. Nach Xúnzǐ sollen sich die Sitten () umfassend auswirken. Er sagt: Ein Mensch kann ohne Sitte () kein wirkliches Leben führen; ein Handeln ohne Sitte () gelingt nicht; ein Staat ohne Sitte () kann keinen Frieden haben.59 Die Heiligen haben das gut verstanden. Sie haben deshalb die Sitte kodifiziert und überliefern lassen.60 Die Sitten sollen sich als Regulator in der Gesellschaft und im Staat geltend machen, um die Begierde der Menschen zwar zu erfüllen, die Menschen aber auch zu kultivieren. Denn bei der Erfüllung der Be­-gierde gibt es bestimmte Begrenzungen, die zu respektieren sind. Wenn die Menschen diese Begrenzungen akzeptieren und beachten, ist das Moral.61 In diesem Sinne ist Moralität bei Xúnzǐ zu verstehen.

Ob die Lehre von der guten Veranlagung des Menschen bei Menzius oder die Lehre von der schlechten Naturanlage des Menschen bei Xúnzǐ in gültiger Weise begründet ist, bleibt fraglich. Wir haben nicht vor, hier in diese Grundsatzdebatte einzutreten.62 Wirkungsgeschichtlich betrachtet ist jedoch nicht zu leugnen, dass die chine­sische Kultur wesentlich von diesen beiden Ansätzen ge­prägt ist.

3. Die Bedeutung der Menschenwürde für den Konfuzianismus


Es gibt kein Wort im alten Chinesisch, das dem modernen Begriff Personalität entspricht. Aber die Frage, »was heißt es, Mensch zu sein«, ist oft in den klassischen Werken des Konfuzianismus diskutiert worden. Es wurde mit Beispielen dargelegt, wie die drei bedeutendsten Konfuzianer den Menschen vom Tier unterscheiden. Aber unbeschadet dieser differierenden Unterscheidungen sind sich alle drei Denker darin einig, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier eine entscheidende Rolle spielen muss und dass das, was für den Menschen spezifisch ist, für sein Leben Bedeutung besitzt.

3.1 Die Grundlage


Eine grundlegende Frage ist, ob es zwischen den Menschen Unterschiede gibt. Wenn ja, inwiefern? Die Antwort bei Konfuzius ist unklar. Für seine Lehre vom Menschen steht das Rén im Mittelpunkt, das den Menschen ausmacht. Ferner sagt er, von Natur aus seien die Menschen einander ähnlich.63 Diese Aussage wurde von den konfuzianischen Gelehrten als die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen bei Konfuzius aufgefasst.64 Unbestritten ist daher in der konfuzianischen Anthropologie, dass alle Menschen gleich sind. Menzius sagte: »Die Heiligen sind von derselben Art wie wir.«65 Weiterhin glaubt er fest daran, dass alle Menschen Idealmenschen sein bzw. werden können.66

Trotz unterschiedlicher Überzeugung von der Menschennatur ist Xúnzǐ sich in diesem Punkt mit Menzius einig. Er äußert die Überzeugung, dass die Natur der Edlen der Natur der Gemeinen gleich ist.67 Und es versteht sich von selbst, dass, wenn das Menschenwesen schon von Geburt an vorhanden ist, alle Menschen dem Wesen nach gleich sind. In diesem Sinne ist die Gleichheit aller Menschen zu verstehen. Aufgrund dieser Anschauung lehrt Menzius, dass der Strafrichter den Vater des Königs festnehmen lassen muss, der einen Menschen getötet hat, auch wenn der König das verhindern möchte.68 Ohne Unterschied zum biblisch-christlichen Glauben, dass alles gut ist, was von Gott geschaffen und gegeben ist (Gen 1,31), betrachten die meisten Konfuzianer das angeborene Wesen des Menschen als gute Gabe vom Himmel. Für Konfuzius ist die Natur des Menschen unter allen Naturen, die von Himmel und Erde verliehen sind, die alleredelste.69 Menzius hat es anders ausgedrückt. Er sagt: »Alle Menschen haben Ehre in sich selbst, ohne dass sie daran denken.«70 Interessanterweise hat auch Xúnzǐ behauptet, dass die Menschen das Wertvollste unter dem Himmel sind, weil nur sie nicht nur Materie, Leben und Empfin-dungen haben wie die Vögel und die anderen Tiere, sondern weil sie Gerechtigkeit () haben können.

Da der Wert des Menschen vom Himmel bestimmt wird, hängt er nicht von menschlichen Bewertungen ab. Die Menschen können und sollen nur diesen vorgegebenen Wert erkennen und unbedingt anerkennen. Dabei sehen die Konfuzianer die Heiligen und die Edlen im Gegensatz zu den kleinen Leuten oder den Gemeinen als Vorbilder von beeindruckenden, großen Menschen, die den Wert des Menschen nicht nur kennen, sondern auch in ihrem Le­ben praktizieren. Konfuzius sagte: »Ein willensstarker Mann von menschlichen Grundsätzen ( Rén) strebt nicht nach Leben auf Kos­ten seiner Menschlichkeit (Rén). Ja es gab sogar solche, die ihren Leib in den Tod gaben, um ihre Menschlichkeit (Rén) zu vollenden.«71 An einer anderen Stelle lehrt er: Man kann zwar drei Heeren ihren Führer wegnehmen, aber nicht einmal dem geringsten Mann aus dem Volk kann man seinen Willen (zur Menschlichkeit) wegnehmen.72

Für Konfuzius ist dieser Menschenwille von großer Bedeutung, weil ohne starken Willen zur Menschlichkeit (Rén) niemand die Güte, also die moralische Seele des Menschen (laut Menzius), be­wahren könnte. In diesem Sinne kommt hier die Selbstbestimmung des Menschen zur Sprache. Die Menschlichkeit (Rén) zu bewirken, hängt ganz vom Menschen ab,73 weil die Menschlichkeit (Rén) gar nicht weit vom Menschen entfernt ist. Für Konfuzius ist die Menschlichkeit (Rén) immer da, sobald Menschen sie sich wünschen.74 Es ist also nicht so, dass man das Gute nicht tun kann, sondern dass man es (oft) nicht tun will. Deshalb sollen alle Menschen unter keinen Umständen den Willen zur Menschlichkeit (Rén) herabsetzen, mit anderen Worten: das Personsein nicht in Schande bringen.75

Diese Grundidee hat Menzius in Zusammenhang mit seiner Lehre von den vier Naturanlagen erweitert. Für ihn besteht die Selbstbestimmung im moralischen Selbst des Menschen unabhängig von dem Zustand seiner Seele. In einer Erzählung hat er die Würde des Menschen mit Nachdruck in Bezug zum Schamgefühl (Xiūchǐ) bzw. zur Gerechtigkeit () dargelegt.76 Menzius ist davon überzeugt, dass alle Menschen von Natur aus die Gerechtigkeit mehr als das Leben lieben und die Ungerechtigkeit mehr als den Tod hassen. Gerechtigkeit ist nicht nur ein Ziel des Lebens, sondern sogar noch wertvoller als das Leben selbst. Verliert man aber das Schamgefühl, so verliert man zugleich die Selbstachtung.77 Verliert man aber die Selbstachtung, so ist die Gerechtigkeit nicht mehr von Bedeutung. Aufgrund dessen muss man das Leben (los-)lassen und sich an die Gerechtigkeit () halten. Sonst hat es keinen Sinn, von Menschenwürde zu reden. Reichtum und Rang können keine Menschenwürde bewirken, nur Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind dazu in der Lage.78 Die Menschenwürde besteht also in der Moralität und entsteht aus ihrer Verwirklichung.79

Generell lässt sich sagen, dass der Konfuzianismus das Thema der Verwirklichung der Menschenwürde unter zwei Aspekten dis­kutiert hat.

3.2 Menschenwürde im Bezug auf das ganze Volk


Aufgrund der Auffassung von der Gleichheit aller Menschen gibt es in Bezug auf Menschenwürde keine Unterschiede unter den Menschen. Das heißt, dass alle Menschen an Würde gleich sind. Aber das Volk als die Gesamtheit aller Menschen hat den Vorrang vor allen einzelnen Personen. Als Menzius über die Herrschaft der Fürsten lehrte, hat er aus einer klassischen Schrift des Konfuzianismus Shàngshū (Das Buch der Urkunden)80 zitiert: »Der Himmel sieht, wie mein Volk (das Volk des Fürsten) sieht, er hört, wie mein Volk hört.«81 Damit ist gemeint, dass das Volk das Wichtigste ist und die Herrschaft unbedingt nach dem Wunsch des Volkes ausgeübt werden muss. Subjekt des Staates ist das Volk.82 Deshalb sagte er: »Das Volk ist am wichtigsten, die Götter des Landes und Kornes83 kommen in zweiter Linie, und der Fürst ist minder wichtig.«84

Xúnzǐ ist der ähnlichen Meinung, wenn er sagt, vom Himmel ist das Volk nicht für den Fürsten geboren, sondern der Fürst für das Volk gegeben.85 Aufgrund dieser Auffassung hat das Volk unab-hängig von der Verwirklichung der Moralität den absoluten Vorrang vor dem Fürsten und dem Staat, denn der Wille des Himmels enthüllt sich in den Wünschen des Volkes. In diesem Sinne sollen alle Fürsten und der Staat die Menschenwürde achten, und darauf begründet soll die Fürstenherrschaft ihre eigene Rechtmäßigkeit prüfen. Falls die Fürsten ihre Herrschaft nicht mit Menschlichkeit und Gerechtigkeit für das Volk ausüben, sondern rein mit macht­orientierter, listenreicher und auf Strafen beruhender Herrschaftspolitik führen und damit den Staat in Gefahr bringen oder der Staat das Volk gefährdet, ist es richtig, das Volk zur Revolution aufzurufen. 86 Das ist das Grundprinzip der konfuzianischen Staatslehre. Nicht zu übersehen ist aber, dass im Zusammenhang mit dem Begriff Würde hier nicht die Menschenwürde jeder Person gemeint ist. Der Wert oder die Würde in der Staatslehre des Konfuzianismus betrifft nur das Volk. Als Einzelner einer unmenschlichen Herrschaft gegenüber kann man trotz der Verletzung der Menschenwürde nichts anderes tun, als die Tugend in würdiger Weise zu bewahren. Wie Konfuzius lehrte: »Wer den Namen eines bedeutenden Staatsmannes verdient, der dient seinem Fürsten gemäß dem Weg der Menschlichkeit ( Dào); wenn das nicht geht, so tritt er zurück.«87

3.3 Menschenwürde im Bezug auf die individuelle Person


Wie gesagt: Menschenwürde ist vom Himmel verliehen. In diesem Sinne besitzen alle Menschen dieselbe Würde als dignitas interna und zugleich denselben Wert. Aber in der Verwirklichung der Menschenwürde ergeben sich insofern verschiedene »Würden«, als die Menschen sich selbst das Ziel der moralischen Güte setzen müssen und es anstreben sollen.

Menzius hat die Würde im Sinne der Ehre in zwei Klassen geteilt. Er sagt: »Es gibt himmlische[n] Ränge/Adel (Tiān-jué) und menschliche[n] Ränge/Adel (Rén-jué). Menschlichkeit (Rén), Ge­rechtigkeit (), Loyalität (Zhōng), Treue (Xìn), unermüdliche Liebe zum Guten: das sind die himmlischen Ränge. Fürst sein oder Hoher Rat oder Minister: das sind die menschlichen Ränge. Die Vorfahren pflegten ihre himmlischen Ränge, und die menschlichen Ränge kamen danach von selber.«88 Seiner Meinung nach liegt der Wunsch nach Ehre allen Menschen am Herzen. Aber die Ehre, z. B. den Titel »Fürst«, »Hoher Rat« oder »Minister« zu erstreben, ist nicht die wahre Ehre.89 Obwohl Menzius die himmlischen Ränge (Tiān-jué) mit Menschlichkeit (Rén), Gerechtigkeit (), Loyalität (Zhōng), Treue (Xìn) und Liebe zum Guten bezeichnet und manche als innewohnende Anlage und Fähigkeit zur Moralität versteht, sind sie nicht als Elemente der Menschenwürde gemeint.90 Weiter heißt es: »Heutzutage pflegt man seine himmlischen Ränge, um die menschlichen zu erlangen. Wenn man die menschlichen Ränge erreicht, so wirft man die himmlischen Ränge weg. Das ist aber die schlimmste Verblendung. Und schließlich führt es doch zum sicheren Untergang«.91 An diesem Zitat ist deutlich zu sehen, dass die himmlischen Ränge nicht dem Menschen als Menschenwürde angeboren sind. Sie sind die Würde, die man bei erfolgreicher Verwirklichung der Moralität erzielen kann. Ebenso kann andererseits der Titel eines Fürsten, Hohen Rates oder Ministers auch echte Ehre sein, wenn sie die Herrschaft oder das Amt menschlich ausüben, obwohl nach der Ansicht von Menzius solche Würde als menschlicher Rang einen niedrigeren Wert hat im Vergleich zum himmlischen Rang.

Der Unterschied zwischen himmlischem Rang und menschlichem Rang ist für den Konfuzianismus von großer Bedeutung. In der Gesellschaft wie auch in der Politik gibt es viele verschiedene Titel, die entsprechende Würde anzeigen. Daraus entsteht ein System, in dem sich alle Menschen gemäß ihrem eigenen Titel oder Rang zueinander verhalten. Das gehört eigentlich zur Sitte () im Sinne des Konfuzianismus. Die Funktion der Sitte ist es, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Dafür haben die Konfuzianer die Lehre von der Richtigstellung der Bezeichnungen aufgestellt, d. h. alle Menschen müssen auf ihrem Platz gemäß ihrer Bezeichnung ihre Aufgaben erfüllen. Auf die Frage nach der Staatsregierung antwortete Konfuzius: »Der Fürst sei Fürst, der Diener sei Diener; der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn«.92 Das erste Wort des Wortpaares bedeutet jeweils die Bezeichnung oder den Titel, und das zweite die Aufgabe. Was er damit gesagt hat, ist die Entsprechung zwischen Auszeichnung und tugendhaftem Verhalten. Wer einen Titel trägt, muss die entsprechende Aufgabe angemessen erfüllen, sonst ist er der Bezeichnung unwürdig. Um eine gute soziale Ordnung zu erhalten, muss jeder im Verhältnis zu den anderen seine Bezeichnung und seine Aufgabe beachten. Wie Menzius behauptet: Wer Herrscher sein will, muss seiner Herrscherpflicht genug tun; wer Diener sein will, muss seiner Dienerpflicht genug tun. 93 Würde und Pflicht sind voneinander untrennbar. In diesem Sinne richtet sich nicht nur die Unterschicht nach der Sitte, sondern auch die Oberschicht. Es berichtet Shǐjì, dass, als der Fürst seine Herrscherpflicht nicht auf dem richtigen Weg erfüllt und Konfuzius als seinem Diener keinen entsprechenden Respekt gezollt hat, Konfuzius den Fürsten deswegen verlassen habe.94 Im Zusammenhang mit der Sitte vertritt Menzius die gleiche Meinung. Bezüglich der Aufnahme eines Amtes sagte er: Wenn ein Fürst das Amt mit Achtung in höflichen Formen anbietet, kann man es annehmen. Wenn dann später seine Höflichkeit zu wünschen übrig lässt, so soll man ihn verlassen.95 Respekt oder Würde kann nur in einer Wechselbeziehung gegenseitig verwirklicht werden. Deshalb äußerte Menzius: »Als Geringer einen Höheren schätzen, heißt einen Ehrwürdigen verehren; als Höherer einen Geringeren schätzen, heißt einen Tugendhaften ehren. Verehrung der Ehrwürdigen und Ehrung der Tugendhaften sind in gleichem Maße Pflicht.«96

Alle Menschen wünschen sich Ehre. Aber aller Ehre, einschließlich der himmlischen und der menschlichen Ränge, liegt die Menschlichkeit (Rén) als Voraussetzung zugrunde. Die Menschlichkeit (Rén) bedeutet für Menzius97 den höchsten himmlischen Rang. Ähnlich lehrte Xúnzǐ, dass ein Jūnzǐ (Schamane, Edelmann) auch ohne menschliche Ränge die höchste Hoheit besitzt.98 Die moralische Beziehung zwischen Menschen ist das Wesentliche. In diesem Punkt stimmen alle bedeutenden Konfuzianer miteinander überein. Deshalb bemühen sich die treuen konfuzianischen Anhänger nicht um menschliche Ränge, sondern um Moralität. Nach Menzius’ Darstellung kann z. B. ein Fürst nicht seinen Kummer stillen, obgleich ihm als Sohn des Himmels große Ehre zuteil ist. Nur wenn er seinen Eltern gehorcht, vermag er seinen Kummer zu stillen. 99 Mit einem Wort: Die Würde des Menschen hängt ganz von seiner Moralität ab.

4. Auseinandersetzung über das Thema Menschenwürde


4.1 Auseinandersetzung über die Glaubensorientierung


Die christlich-theologische Auffassung von Menschenwürde setzt den Glauben an Gott voraus. Die Frage nach Woher, Wohin und Wozu ist ein wesentliches Anliegen der christlichen Anthropologie, die sich unbedingt auf Gott bezieht.

– Der Mensch ist dem Wort Gottes nach zu seinem Bild geschaffen, von daher kommt er.

– Der Mensch ist dem Plan Gottes nach zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt, dahin geht er.

– Der Mensch soll in der Begegnung mit Gott und den Geschöpfen wachsen und reifen, dazu ist er da.

Mit anderen Worten: Die Frage nach dem »Wozu« ist ohne die Antwort auf die Frage nach dem »Woher« und »Wohin« unbeantwortbar und die Bedeutung des Menschenlebens im Zusammenhang mit dem Wert und der Würde des Menschen hängt allein vom Willen Gottes ab. In diesem Sinne besteht kein großer Unterschied zum Glauben der Konfuzianer an den metaphysischen Himmel. Nicht zu übersehen ist aber, dass für den christlichen Glauben der Wille Gottes nicht nur in der Schöpfungsgeschichte offenbart ist, sondern auch in der Heilsgeschichte. Die Offenbarung Gottes hat ihren Anfang, und sie hat in Jesus Christus ihre Mitte, sie ist aber nicht abgeschlossen. Deshalb ist es sehr wichtig, die Menschenwürde in Bezug auf Gottes Willen zu setzen und erkennen zu wollen, sie nicht nur in der Schöpfungsgeschichte zu suchen, sondern auch in der Heilsgeschichte, insbesondere in Jesus Christus als dem Ebenbild Gottes (Hebr 1,3; Kol 1,15; Röm 8,29). Dabei gilt es freilich, den Blick nicht immer nur rückwärts zu richten, sondern auch vorwärts.

Auf der anderen Seite ist wegen des großen Einflusses agnostischen Denkens bei Konfuzius wie auch in gewisser Weise wegen des deistischen Denkens bei Xúnzǐ von der konfuzianischen Philosophie keine Zustimmung zum Gedanken einer Offenbarung zu erwarten, obwohl die Konfuzianer nicht grundsätzlich verneinen, sondern anerkennen, dass es den Willen bzw. das Prinzip des Himmels gibt. Die wesentlichen Eigenschaften Gottes im christlichen Sinne wie omnipotentia, omniscientia und omnipraesentia gelten für den Himmel nach Ansicht des Konfuzianismus nicht. Was übrig bleibt, ist nur die Liebe im moralischen Sinne. Der Begriff »Liebe« ist freilich genauso schwierig zu erklären wie der Begriff Rén. Es gibt im Konfuzianismus kein Dogma von der Liebe. Auch die Lehre vom Rén ist nicht wissenschaftlich fundiert im Sinne eines logisch begründeten, geordneten und für gesichert erachteten Wissens. Was für die konfuzianische Lehre charakteristisch ist, sind im Grunde Gefühl und Mitgefühl, Erzählung und Erklärung von Geschichten sowie das Geben und Annehmen von Vorbildern. Wenn man die Menschenwürde durch den Glauben an den Himmel begründet und nicht – wie im Christentum – durch den Glauben an Gott, der sich gegenwärtig durch sein Wort offenbart, dann ist der Blick nicht auf die Gegenwart zu richten, sondern man muss immer auf die Vergangenheit zurückgreifen. Darum wird in den klassischen Werken des Konfuzianismus nachdrücklich hervorgehoben, dass die Vorfahren, insbesondere die Fürsten Yáo und Shùn als Heilige und Jūnzǐ (Edle, Ehrenmänner), die Weisheit des Lebens vorbildlich dargestellt haben, auch in Bezug auf die Würde des Menschen.

4.2 Auseinandersetzung über die Verwirklichung des Guten


Die christliche Theologie kennt die Sündhaftigkeit sowie die Fehlbarkeit des Menschen. Obwohl Gott den Menschen ohne Fehler geschaffen hat100 und den Menschen als Sündern durch Jesus Christus die Rechtfertigung zuteil wird, sind alle Menschen un­vollkommen. Der reformatorischen Theologie zufolge ist die Menschheit durch den Sündenfall völlig verdorben. Auch als Ge­rechte begehen wir immer wieder Missetaten. Unsere Herzen sind unvermeidlich von bösen Gedanken besetzt. Das ist das Dasein des Menschen, das die Lehre vom simul iustus et peccator mit Nachdruck darstellt. Die christliche Gerechtigkeit erwächst deshalb auch nicht aus menschlichen Verdiensten. Sie wird nicht zur inneren Qualität des Menschen. Dass die Menschen das Gute tun können, ist ausschließlich eine Folge der ihnen zuteil werdenden Gnade Gottes. Obwohl das Wort Gerechtigkeit bei Luther auch ethische und juridische Bedeutung behält,101 ist es im theologischen Sinn immer mit der Gnade und Barmherzigkeit Gottes verknüpft. Der theologische Begriff Gerechtigkeit bedeutet für Luther immer iustitia passiva, weil für ihn die Gnadenlehre eine notwendige Vorbedingung für die Rechtfertigungslehre ist.

Im Widerspruch zu dieser Auffassung behaupten die Konfuzianer, dass alle Menschen mit ihrer angeborenen guten Naturanlage nach dem Guten streben und von sich aus das Gute verwirklichen können. Dadurch erwerben und verdienen sie sich Würde. Der Begriff »Verdienst« ist dabei nicht im Sinne von Luthers Theologie so zu verstehen, dass die Menschen durch ihr eigenes Bemühen heil werden bzw. das Heil erlangen können. Der Verdienstgedanke hat im Sinne des Konfuzianismus keine religiöse Bedeutung. Die Erlösungsfrage, die für die reformatorische Theologie das Wesentliche ist, ist in der konfuzianischen Lehre nie im reli­-giösen Sinne thematisiert worden. Das moralische Verdienst hat nichts zu tun mit dem ewigen Leben. Für die Konfuzianer entspricht die (individuelle) Würde dem moralischen Verdienst des Menschen. Alle Menschen haben in sich eine moralische Seele, die das moralisch Gute, nämlich die Tugend hervorbringt. Und Würde ergibt sich als eine Folge aus der Tugend. An diesem Punkt ist der entscheidende Unterschied zwischen dem christlichen Ansatz zum Verständnis der Menschenwürde und dem konfuzianischen deutlich zu sehen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass in diesem Unterschied der Glaubensorientierung und der Denkweise die hauptsächliche Differenz zwischen christlicher Theologie und konfuzianischer Philosophie liegt. Gemäß dem christlichen Glauben, dass Gott als Schöpfer den Menschen als sein Geschöpf bestimmt, gibt er dem Menschen das Maß und die Grenze. Dass Gott seinen Willen dem Menschen offenbart, ist für die Ethik des Menschen, die sich am Willen Gottes ausrichtet, orientierend. Aber wenn der Himmel schweigt und die himmlische Moralität im Menschen eingewurzelt ist, gibt der Mensch sich selbst das Maß und die Grenze, an denen er sich selbst gemäß seiner Moralität ausrichtet. Aus christlicher Sicht ist der Mensch aufgrund der Sünde unfähig, das Gute zu tun. Aus konfuzianischer Sicht ist der Mensch durch seine gute Naturanlage fähig, das Gute zu verwirklichen. Trotzdem ist die Übereinstimmung nicht zu verachten, die darin besteht, dass die dem Menschen von Gott oder vom Himmel gegebene Würde unantastbar ist und jeder Mensch als Mensch gleiche Würde besitzt. Diese Würde ist die allen Menschen gemeinsame Würde, die niemand verachten oder verletzen darf. Auf dieser Grundlage ist es sinnvoll, sich auch über die konkrete Praktizierung und Umsetzung der Menschenwürde im Konfuzianismus und in der christlichen Theologie auseinanderzusetzen.

4.3 Auseinandersetzung über die Praktizierung der Menschenwürde


Die Politik Chinas ist in ihrer Tradition auf das Ganze gesehen »ethisch-politisch«. Das Wort Staat wird in den chinesischen Schriftzeichen gebildet aus zwei Wörtern, nämlich Familie und Land. Dieser Ausdruck bringt eine Idee zur Sprache, die in der chinesischen Kultur von wesentlicher Bedeutung ist, dass nämlich der Staat als Gemeinschaft von Landleuten auf dem Fundament der Familie in seiner spezifischen Form gegründet werden soll, nämlich in der Form der menschlichen Beziehung in der Familie. Aus dieser Auffassung folgt, dass die Staatspolitik das Verhalten der Eltern bzw. des Vaters zu den Kindern zum Vorbild nehmen soll. Die Beziehung zwischen dem Fürsten und dem Volk ist im Sinne der konfuzianischen Lehre mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn identisch. Darin kommt die konfuzianisch-politische Einstellung zum Ausdruck, dass man unter allen Umständen erst sein Haus regeln muss, bevor man sich anschickt, den Staat zu ordnen. 102 Die Fürsten als Heilige sollen das Volk lieben und Mitleid mit dem Land haben.103 Darauf begründet der Konfuzianismus die Lehre vom höchsten Wert und von der Würde des Volkes, die als gemeinsame Würde den Vorrang vor der individuellen Würde der Fürsten haben soll. Angesichts dieser konfuzianischen Gedanken ist die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen das Wichtigste, weil sie die Grundlage für die Befriedigung der gemeinsamen Wünsche des Volks ist. Darauf müssen alle Fürsten achten.

Die Menschenwürde ist die Grundlage der Menschenrechte und die Menschenrechte sind die Verwirklichung der Menschenwürde. Konfuzius hat die schlechten Fürsten heftig dafür kritisiert, dass »sie unersättlich in ihrer Lust auf schöne Frauen sind, unermüdlich im Verderben der Tugend. Sie sind müßig, träge, hochmütig und nachlässig. Sie raffen mit Macht alle Güter des Volkes an sich. Sie verletzen die Gefühle der Menge, indem sie Leute bestrafen, die auf dem rechten Wege sind. Sie streben nur nach Befriedigung ihrer Lüste, ohne dabei auf das rechte Verhalten zu achten. Sie handeln nicht nach der Sitte«. 104 Bedauerlicherweise liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die klassische konfuzianische Lehre die Verwirklichung der Würde des Volkes als gemeinsame Würde aller Menschen des Öfteren auf verschiedenen Ebenen und in wesentlichen Bereichen des Menschenlebens behandelt hat.105 In einer vom Konfuzianismus geprägten Gesellschaft besteht keine Möglichkeit, zum Beispiel durch demokratische Entscheidungen rechtliche Maßnahmen gegen die Verletzung der Menschenwürde durch schlechte Politik durchzusetzen. In gewisser Hinsicht wird die Natur des Menschen der konfuzianischen Auffassung nach zu positiv eingeschätzt. Aufgrund dieser optimistischen Sicht der Menschennatur ist im Prinzip ein Aufruhr gegen die Verletzung der Menschenwürde nicht nötig, wie wir oben am Beispiel der passiven Reaktion (durch Rücktritt) auf die Verletzung der Würde aufgezeigt haben. 106 Das unterscheidet sich deutlich von der westlich-christlichen Sichtweise, derzufolge aus der Menschenwürde als ge­meinsamer Würde, die für alle Menschen gleich ist, für be­stimmte Gebiete der menschlichen Lebenswelt Konsequenzen abgeleitet und hinsichtlich ihrer Realisierung überprüft werden müssen – und zwar so, dass unverbrüchlich gültige Menschenrechte im Rechtssystem konkret formuliert und verankert werden müssen.

Die konfuzianische Lehre richtet ihre Aufmerksamkeit auf die unterschiedliche Würde der einzelnen Menschen, die als Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens mit der Sitte zusammenzufügen sind, um ein sittlich-politisches System zu bilden. Die Sitte ist von allen Lebensbedingungen der Menschen am wichtigsten.107 Denn der rechte Weg und die Geisteskraft wie auch die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit bleiben ohne Sitte und Sittlichkeit unvollkommen.108 Obwohl die Sitte in diesem Sinne alle Menschen glei­chermaßen betrifft, ergeben sich in den Sitten doch auch bestimmte Unterschiede zwischen den Menschen. So sagt Xúnzǐ: Sitte bedeutet, dass es Klassen von Ansehen und Schande gibt, Unterschiede von Alt und Jung, Maße von Armut und Reichtum.109 Der richtige Weg des Verhaltens in den menschlichen Beziehungen ist, dass der Kleintugendhafte dem Großtugendhaften zu dienen hat.110 Unter dem Gesichtspunkt der konfuzianischen Lehre kann die Sitte das Ansehen und die Schande in einen ordnungsgemäßen Zustand bringen und den Eigenbedarf oder die Begierde verschiedener Schichten befriedigen, wenn Gewissenhaftigkeit und Mitgefühl als Wurzel der Sitte wahrgenommen werden.111

Zusammenfassend lässt sich sagen: Im Sinne der Personalität gibt es keinen Unterschied zwischen dem Fürsten und dem Volk; im Sinne des Wertes ist das Volk wichtiger als die Fürsten, aber umgekehrt sind die Fürsten würdevoller als das Volk im Sinne der politischen Stellung. Dieser Anschauung nach ist die unterschiedliche Würde der Menschen stets in einer dialektischen Beziehung zu verstehen.112 Jeder besitzt seine eigene Würde, die je nach seiner Stellung in der Gesellschaft anerkannt wird. Aber alle Menschen müssen nach der moralischen Norm der Sitte die Würde der anderen achten,113 und so wird die Würde durch die Moralität be­stimmt. Andererseits müssen alle Menschen ihrer eigenen Stellung angemessen in der Gesellschaft die Tugend in die Praxis umsetzen, sonst verlieren sie ihre Würde.

5. Zur Begründung der Menschenwürde


Zum Abschluss gibt es noch einen Punkt, auf den wir die Aufmerksamkeit richten wollen: Die Frage der Menschwürde wird in der westlich-christlichen Tradition in der Regel unter Berücksichtigung des Kontextes der europäischen Kultur behandelt. Im Vordergrund steht dabei traditionell der christliche Glaube, der einen prägenden Einfluss auf die gesamte europäische Kultur ausgeübt hat. Zu dieser kontextuellen Zuordnung muss aber angemerkt werden, dass aufgrund der Säkularisierung und des Pluralismus die christ lichen Begründungen für Menschenwürde sich für die jüngere Generation immer weniger von selbst verstehen, sondern eigens argumentativ vermittelt werden müssen.

Im Blick auf die chinesische Kultur ist mit Recht zu sagen, dass die konfuzianische Lehre von der Würde des Menschen besser zum kulturellen Kontext Chinas passt. Wenn der Glaube an Gott nicht als notwendige Vorbedingung für die Menschenwürde vorhanden ist, dann sollte man lieber die Moralität am Steuer sitzen lassen als die Willkür des Menschen.

Obwohl Xúnzǐ eine Wesenslehre über die schlechte Veranlagung des Menschen aufgestellt hat, ist seine Lehre für die meisten Konfuzianer nicht überzeugend. Andererseits steht sein Grundgedanke von der Fähigkeit des Menschen zur Moralität dem Grundgedanken von Konfuzius oder Menzius nicht fern. Im Grunde kann man Menzius’ Lehre von der guten Naturanlage des Menschen als die Orthodoxie der konfuzianischen Anthropologie betrachten. Aber gerade wegen dieses Glaubens haben die Konfuzianer das Problem der Begierden des Menschen, im christlichen Sinne gesagt: das Problem seiner Selbstsucht, nicht ernst genug genommen, das aus theologischer Sicht als das Grundproblem der Ethik bezeichnet werden muss. Weiterhin wird im Konfuzianismus die Möglichkeit des Menschen überschätzt, der Versuchung, vor allem der Versuchung der Macht, aus eigener Kraft durch moralisches Handeln zu widerstehen. Deshalb wird dem Sittensystem, das von innen wirkt, der Vorzug vor dem Rechtssystem, das von außen wirkt, gegeben. Im Bezug auf die Frage nach der Würde ist der Rechtsschutz für die Menschenwürde nie zum Thema gemacht worden, weil (und so­lange) die politischen Führer als vertrauenswürdig angesehen wurden (und werden). Idealerweise sind sie die Leute, die die besten Tugenden besitzen und dem Volk gegenüber moralisch handeln. Aufgrund dessen blieb die Menschenwürde in der chinesischen Kultur wie auch in der Politik stets abstrakt und wurde in tausenden von Jahren nicht als Grundprinzip der staatlichen Ordnung oder des gesellschaftlichen Zusammenlebens anerkannt.

Im Unterschied zu diesem sozial-politischen Zustand der Menschenwürde in China zieht die Frage nach der Menschenwürde im Westen große Aufmerksamkeit auf sich. Die Menschenwürde wird philosophisch, soziologisch, theologisch und religiös begründet. Mit den Begründungen verbindet sich der Anspruch auf Anerkennung und Achtung der Menschenwürde, die im Rechtssystem konkretisiert werden muss. Jedoch ist noch nicht ausdiskutiert, mit welchem Ziel die politisch Führenden, die selbst jeweils »ein Mensch« sind, die Würde des Menschen bewahren und schützen sollen. Hat das Handeln der Politiker nichts mit der Moralität der Menschen zu tun? Das Gesetz, im Sinne der reformatorischen Theologie, kann keine (echte) Bekehrung ermöglichen, sondern lediglich das Evangelium kann das Herz des Menschen ändern. Obwohl es unzulässig ist, den chinesischen Gedanken von Moralität mit dem Evangelium des christlichen Glaubens gleichzusetzen, ist nicht zu übersehen, dass das Evangelium im Sinne der Botschaft von der göttlichen Liebe die Grundlage einer christlich geprägten Gesellschaft ist und darum weiterhin ein notwendiger Bestandteil der staatlichen Politik in Deutschland sein sollte.

Wie bereits ausgeführt, ist Moralität nach der konfuzianischen Auffassung in erster Linie wichtig für das würdevolle Leben des einzelnen Menschen. Durch Selbstkultivierung kann sich jeder Re­spekt bei den anderen verschaffen. Und die Selbstkul­tivierten achten auch die Würde aller anderen Menschen. Po­litiker als lieben­de Menschen im christlichen Sinne oder als moralische Menschen im konfuzianischen Sinne sehen die Bewahrung der Menschenwürde als ihre politische Aufgabe an. Auf dieser Grundlage kann für die konfuzianische Lehre von der Würde des Menschen und für die christliche Auffassung von der Menschenwürde wechselseitig ein besseres Verständnis entstehen. Pflicht und Recht, Selbstinitiative und Verpflichtung müssen untrennbar beieinander bleiben. Präzise gesagt: Für die Bewahrung der Menschenwürde ist die Bildung der Personalität, also der Anspruch auf moralische Selbstkultivierung, genauso wichtig wie der Anspruch auf Achtung der Unantastbarkeit unter allen sozial-politischen Umständen.

6. Fazit


Folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem chinesisch-konfuzianischen und dem westlich-christlichen Verständnis von Menschenwürde ergeben sich.

6.1 Gemeinsamkeiten


Beide Traditionen kennen und gebrauchen:

a) den Würdebegriff im Rahmen ihrer Lehre vom Menschen als einen wichtigen Begriff;

b) verstehen Würde als Anspruch bzw. Anrecht auf Achtung;

c) arbeiten mit der Unterscheidung zwischen einer Würde, die mit dem Dasein gegeben ist, und einer Würde, die vom Menschen erst erworben werden muss;

d) und sie unterscheiden zwischen der Würde der Allgemeinheit und der Würde des Individuums.

6.2 Unterschiede


Beide Traditionen unterscheiden sich vor allem in den folgenden vier Punkten.

a) In der chinesisch-konfuzianischen Tradition fallen die Unterscheidungen zwischen Individuum und Allgemeinheit so­wie zwischen erworbener und gegebener Würde faktisch zusam­men, im Christentum nicht. Die westlich-christliche Tradition kennt zwar auch im Blick auf das Individuum die Unterscheidung zwischen einer erworbenen und einer gegebenen Würde. Aber nur die Letztere kann »Menschenwürde« genannt werden. Diese Auffassung gibt es im Konfuzianismus so nicht.

b) In der chinesisch-konfuzianischen Tradition ist die Würde der Allgemeinheit eine Würde des Volkes. In der westlich-christlichen Tradition ist sie eine Würde der Menschheit. Wie groß und gewichtig dieser Unterschied ist, muss sich zeigen, wenn man fragt, wie umfassend der Begriff »Volk« in der chinesisch-konfuzianischen Tradition zu verstehen ist und wie er sich zum Begriff »Menschheit« verhält.

c) Die chinesisch-konfuzianische Tradition geht davon aus, dass der Mensch seine Begierden aus eigener Willensanstrengung be­herrschen und so individuelle Würde erwerben kann. Die christ­-liche Tradition geht nicht davon aus, macht aber auch die Würde des Menschen nicht davon abhängig.

d) Die chinesisch-konfuzianische Tradition zieht aus ihrem Verständnis von Würde keine Konsequenzen, die den Einzelnen ge­genüber der Allgemeinheit (Staat) schützen. Für die westlich-christliche Tradition sind diese Konsequenzen (als Abwehrrechte) hingegen ganz wesentlich.

Summary


Comparing the Chinese-Confucian conception of human dignity with Western Christian concepts one can observe important similarities as well as serious differences. In both traditions the notion of dignity is known and used in their doctrines of men as an important concept. Both traditions consider dignity as claim of respect, differentiate between an idea of dignity which is given with the exis­tence and an idea of dignity which is to be acquired by men. And both traditions differentiate between the dignity of commonality and that of the individual.

There are also differences in the following aspects:

a. While in the Chinese-Confucian tradition both differentiations – between individual and common dignity and between acquired and given dignity - virtually coincidence with each other, they don’t in Christianity.

b. In the one case common dignity means dignity of a people, in the other case it means dignity of humankind.

c. The Eastern tradition is convinced that man is able to master his concupiscence by his own will and thus gain individual dignity. The Christian tradition does not share this view, but considers dignity independent from a specific way of life and behavior.

d. The Chinese tradition does not draw any consequences from its concept of dignity which protect the individual against the state. For the Western tradition exactly these consequences are of central significance.

*) Hinweise zur Literatur: Die in den Fußnoten angegebenen Quellentexte von Lún Yü (Lunyu), Mèngzǐ (Mong Dsï) und Lǐjì (Li Gi) sind meistens zitiert aus: Asiatische Philosophie – Indien und China, Digital Bibliothek, Band 94, übersetzt von Richard Wilhelm (Berlin: Directmedia Publishing 2003). Wo nötig, wurde die Übersetzung vom Verfasser verbessert. Wenn nicht auf diese Veröffentlichung hingewiesen wird, sind die Zitate aus der chinesischen Original-Ausgabe vom Verfasser selbst ins Deutsche übersetzt worden.

Lǐjì: Das Buch der Riten ist das umfangreichste der kanonischen Bücher der Konfuzianer, die bedeutende Sammlung der Schriften von Konfuzianern in der Zeit der streitenden Reiche (zwischen 475 v. Chr. und 221 v. Chr.) und von Schülern des Konfuzius. Teile werden aber auf ihn selbst zurückgeführt.

Lúnyü: Die Analekten, eine Zusammenstellung von Lehrgesprächen (436–402 v. Chr.), stammen überwiegend von den Schülern des Konfuzius.

Mèngzǐ: Eine Schriftensammlung, die aus eigenen Schriften von Menzius und aus Berichten seiner Schüler über ihn zusammengestellt wurde. Sie er­schien wahrscheinlich 240 oder 239 v. Chr.

Xúnzǐ: Die Schriftensammlung des Xúnzǐ, die zum großen Teil von Xúnzǐ selbst stammt und der nur weniges von seinen Schülern hinzugefügt wurde.

Fussnoten:

1) Vgl. Martin Honecker, Art. Menschenrechte, Menschenwürde, ethisch, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon (Stuttgart: Kohlhammer 82001), Sp. 1051.
2) Das Thema »Menschenrechte« hat bei den chinesischen Intellektuellen in der jüngeren Diskussion Aufmerksamkeit erweckt, nicht nur bei Juristen oder Soziologen, sondern auch bei Philosophen des Konfuzianismus, z. B. SUN Lung-kee, TU Wei-ming, LEE Ming-huei, HUANG Chun-chieh, ZHENG Lik-wai usw.
3) Im Zentrum – Menschenwürde: Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung, Christliche Ethik als Orientierungshilfe, hrsg. v. Bernhard Vogel (eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. 2006).
4) Falls wir nach dem Wort »Würde« in einem heutigen Deutsch-Chinesischen Wörterbuch suchen, finden wir die Übersetzung Zūn Yán. Dieser Ausdruck ist aus zwei Wörtern zusammengesetzt: Das Wort Zūn bedeutet Hoheit und Respekt, Yán heißt Strengsein und Ernsthaftigkeit. Wenn wir das Wort Zūn Yán in einem Chinesisch-Deutschen Wörterbuch nachschlagen, finden wir als deutsche Übersetzung Begriffe wie Ehrenhaftigkeit, Ehrwürdigkeit oder Würdigung. Im Allgemeinen hat dieser Begriff keine religiöse Be­deutung, sondern eine ethisch-gesellschaftliche.
5) Vgl. Gregor Paul, Konzepte der Menschenwürde in der klassischen chinesischen Philosophie, in: Menschenwürde im interkulturellen Dialog, hrsg. v. Anne Siegetsleitner u. Nikolaus Knoepffler (Freiburg i. Br.: Alber 2005), 67.
6) Vgl. Lún Yü, Buch VII, 20.
7) MOU Zong Shan, 19 Vorlesungen über die chinesische Philosophie, in Chinesisch (Taipei: Taiwan Studentenbuchhandlung 1999), 79.
8) Lǐjì (oder Li Gi, Mitte und Maß, aus dem Buch der Sitten), Kap. 31, 1.
9) XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur, in Chinesisch (Taiwan: Commerz Verlag 1988), 86.
10) Vgl. Hubert Schleichert, Klassische chinesische Philosophie (Frankfurt a. M.: Klostermann 1980), 77.
11) Lún Yü, Buch VI, 20.
12) Ebd., 11.
13) Mong Dsï, Buch VII, B25.
14) Lún Yü, Buch XVII, 19.
15) Mong Dsï, Buch V, A5.
16) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte des chinesischen Gedankens über die Menschennatur (s. o. Anm 9), 88–89.
17) Vgl. HUANG Jun-jie, Konfuzianismus und Menschenrechte – Menzius’ Perspektive, in: Konfuzianische Gedanken und die moderne Welt, hrsg. v. LIU Shu-hsien (Taipei: Institut für chinesische Literatur, Geschichte und Philosophie 1997), 36.
18) »Wer seiner Seele auf den Grund kommt, der erkennt sein eigentliches Wesen. Erkenntnis dieses eigentlichen Wesens ist Erkenntnis des Himmels. Wer seine Seele bewahrt, der ernährt sein eigentliches Wesen, das ist der Weg, dem Himmel zu dienen.« Mong Dsï, Buch VII, A1.
19) Vgl. Julia CHING, Konfuzianismus und Christentum, übers. v. Detlef Köhn (Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1987), 83 f.
20) Mong Dsï, Buch VII, A19; FENG You-lan, Überblick über die chinesische Philosophie, auf Chinesisch (Beijing: Beijing Universität 1996), Kap. 7.
21) HUANG Jun-jie, »Konfuzianismus und Menschenrechte – Menzius’ Perspektive« (s. o. Anm. 17), 36.
22) Lún Yü, Buch III, 3.
23) KANG You-wei, Kommentar zu Zhōngyōng (Das Buch der Mitte) (Taiwan: Commerz Verlag 1987), Kap. 19. Vgl. auch Shaoping GAN, Die chinesische Philosophie (Darmstadt: Primus, 1997), 50.
24) Lǐjì (oder Li Gi, Mitte und Maß, aus dem Buch der Sitten), Kap. 26.
25) Vgl. Lún Yü, Buch XII, 22.
26) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über Menschennatur (s. o. Anm. 9), 91.
27) Lún Yü, Buch XII, 2,
28) Vgl. Lún Yü, Buch VI, 28.
29) Vgl. Lún Yü, Buch IV, 5.
30) Vgl. Lún Yü, Buch XV, 34.
31) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 22, 15.
32) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur (s. o. Anm. 9), 174 f.
33) Vgl. Lún Yü, Buch XII, 1.
34) Vgl. Lún Yü, Buch XX, 3.
35) Vgl. Lún Yü, Buch XII, 1.
36) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur (s. o. Anm. 9), 163.
37) Andres TANG, »Die Gemeinschafts-Gedanken von Konfuzius, Menzius und Xúnzǐ, in: Meilenstein des Dialogs zwischen Konfuzianismus und Chris­tentum (Hong Kong: Chinese University 2001), 224 f.
38) Vgl. TU Wei-ming, Menschennatur und Selbstkultivierung, auf Chinesisch (Taipei: Linkingbooks 1992), 11.
39) Vgl. Heiner Roetz, Konfuzius (München: Beck 2006), 79.
40) Für einen Überblick zum Thema vgl. Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie (München: Beck, 2006), 97–108.
41) Vgl. Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 34, Teil 8, Kap. 29, 6.
42) Eigene Übersetzung der chinesischen Ausgabe Lǐjì (Li Gi), Kap. 43, 1.
43) Vgl. Mong Dsï, Buch IV, B19.
44) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 9, 19.
45) Mong Dsï, Buch II, A6.
46) Ebd.
47) Hier habe ich das eigene Wort X īn (wörtlich: Herz) von Menzius mit »Seele« übersetzt. Für das Wort Seele gibt es ein passenderes chinesisches Wort: Hún. Aber X īn ist ein Synonym für Hún, das für Gefühl und Denken des Menschen steht. Damit wird angezeigt, dass Menzius im Sinne der chinesischen Kultur die Einheit des Leiblichen und Seelischen im Menschen betont.
48) Vgl. FENG You-lan, Überblick über die chinesische Philosophie (s. o. Anm. 20), Kap. 7.
49) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, A7.
50) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur (s. o. Anm. 9), 173 f.
51) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 1.
52) »Natur« bedeutet für Xúnzǐ »Himmel« oder »Himmel und Erde«.
53) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 17, 1–3.
54) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 1.
55) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 10.
56) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 4.
57) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 18.
58) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 19, 1, dazu auch Ralf Moritz, Die Philosophie im alten China (Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1990), 186.
59) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 2, 2.
60) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 9.
61) Vgl. FENG You-lan, Überblick über die chinesische Philosophie (s. o. Anm. 20), Kap.l 13.
62) Zum Beispiel widerspricht Julia Ching der Begründung Menzius’ für seine Wesenslehre vom Menschen mit dem Gleichnis von dem in einen Brunnen fallenden Kind. Sie argumentiert, dass es nur als Beispiel für die Reaktion eines bereits durch den Erziehungsprozess hindurchgegangenen Menschen dienen kann und nicht als Beispiel unerzogener Natur. Siehe Julia CHING, Konfuzianismus und Christentum (s. o. Anm. 19), 92. XU Fu-guang hat eine Kritik an Xúnzǐ geübt. Er behauptet, dass die Aussagen Xúnzǐs für seine Lehre über die schlechte Veranlagung des Menschen einander widersprechen. Vgl. XU Fu-gu­ang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur (s. o. Anm. 9), 255 f. Auch LAO Ssu-kuang ist der gleichen Meinung, vgl. LAO Ssu-Kuang, Es­sentials of Chinese Culture, auf Chinesisch (Hong Kong: Chinese University 1998), 20.
63) Vgl. Lún Yü, Buch XVII, 1.
64) Vgl. HONG Jia-yi, Personalität im Frühkonfuzianismus und der Wiederaufbau der Personalität im 21. Jahrhundert in China, in: Konfuzianismus und das 21. Jahrhundert (Beijing: Hua-xia Verlag 1996), 542; XU Ru-zong, Konfuzianische Anthropologie, auf Chinesisch (Beijing: Volksverlag 2006), 360.
65) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, A7.
66) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, B22.
67) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 23, 16.
68) Vgl. Mong Dsï, Buch VII, A35.
69) Unter den »Naturen verliehen von Himmel und Erde« ist die vom Menschen die edelste. Vgl. Xiào Jīng (Das Buch der kindlichen Ehrfurcht), Kap. 9.
70) Mong Dsï, Buch VI, A17.
71) Lún Yü, Buch XV, 8.
72) Vgl. Lún Yü, Buch IX, 25.
73) Vgl. Lún Yü, Buch XII, 1.
74) Vgl. Lún Yü, Buch VII, 29.
75) Vgl. Lún Yü, Buch XVIII, 8.
76) »... Ich liebe das Leben, und ich liebe auch die Gerechtigkeit (). Wenn ich nicht beides vereinigen kann, so lasse ich das Leben und halte mich an die Ge­rechtigkeit (). Ich liebe wohl auch das Leben, aber es gibt etwas, das ich mehr liebe als das Leben; darum suche ich es nicht mit allen Mitteln zu erhalten. Ich hasse wohl auch den Tod, aber es gibt etwas, das ich noch mehr hasse als den Tod; darum gibt es Lebensbedrohungen, denen ich nicht ausweiche.

Wenn es nichts gäbe, das der Mensch mehr liebte als das Leben, warum sollte ihm dann nicht jedes Mittel recht sein, um sein Leben zu behalten? Wenn es nichts gäbe, das der Mensch mehr hasste als den Tod, warum sollte er nicht alles tun, um der Lebensgefahr zu entgehen? Darum, dass er etwas, das ihm das Leben erhalten könnte, doch nicht benützt, und etwas, das ihn der Lebensgefahr entgehen ließe, doch nicht tut, muss es etwas geben, das man mehr liebt als das Leben und etwas, das man mehr hasst als den Tod. Nicht nur die Tugendhaften haben diese Gesinnung; sie ist allen Menschen gemeinsam. Die Tugendhaften verstehen es nur, sie nicht zu verlieren. Angenommen, es handle sich um einen Korb Reis oder eine Schüssel Suppe. Leben oder Tod hängen davon ab, ob man sie bekomme oder nicht bekomme. Wenn sie unter Beleidigungsworten angeboten werden, so wird selbst ein Landstreicher sie nicht annehmen; wenn sie mit einem Fußtritt hingeworfen werden, so wird selbst ein Bettler sich nicht herablassen, sie anzunehmen. Aber wenn es sich um Millionen handelt, dann nimmt man sie an, ohne allzu genau nach Ordnung und Recht zu fragen. Aber wie könnten die Millionen mein Ich bereichern! Ja, ich kann mir schöne Häuser und Paläste bauen, kann mir von Frauen und Mägden dienen lassen, und meine notleidenden Bekannten haben an mir einen Halt.

Was ich vorhin nicht angenommen hätte, da es ums Leben ging, das tue ich jetzt den schönen Häusern und Palästen zuliebe. Was ich vorhin nicht angenommen hätte, da es ums Leben ging, das tue ich jetzt dem Dienst von Frauen und Mägden zuliebe. Was ich vorhin nicht angenommen hätte, da es ums Leben ging, das tue ich jetzt der Retterrolle zuliebe gegenüber den notleidenden Be­kannten. Aber einem solchen Manne ist nicht mehr zu helfen, denn seine eigene Seele ist verloren gegangen.« (Mong Dsï, Buch VI, A10).

Vgl. auch Heiner Roetz, The ›Dignity within oneself‹: Chinese Tradition and Human Rights, in: Chinese Thought in a Global Context: A Dialogue Between Chinese & Western Philosophical Approaches, hrsg. v. Karl-Heinz Pohl (Leiden: Brill 1999), 245.
77) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur (s. o. Anm. 9), 177.
78) »Die Herren von Dsin und Tschu sind unermesslich reich. Sie haben ihren Reichtum; ich habe meine Menschlichkeit; sie haben ihren Rang; ich habe meine Gerechtigkeit: Warum sollte ich unzufrieden sein?« (Mong Dsï, Buch II), B2.
79) Vgl. XU Fu-guang, Geschichte der chinesischen Gedanken über die Menschennatur (s. o. Anm. 9), 82.
80) Der Überlieferung nach ist das Buch Shàngshū (Das Buch der Urkunden) das Lehrbuch des Konfuzius, das er für seinen Unterricht genutzt hat.
81) Mong Dsï, Buch V, A5. Vgl. auch Shàngshū (Das Buch der Urkunden), Kap. 28.
82) Vgl. HUANG Jun-jie, Konfuzianismus und Menschenrechte – Menzius Perspektive (s. o. Anm. 17), 38.
83) Die Götter des Bodens und des Korns sind die geistigen Repräsentanten der Naturbasis eines Staates. Hier ist eigentlich der Staat gemeint.
84) Mong Dsï, Buch VII, B14.
85) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 27, 65.
86) Vgl. Mong Dsï, Buch VII, B14, dazu auch Mong Dsï, Buch I, B8.
87) Lún Yü, Buch XI, 23.
88) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, A16.
89) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, A17.
90) Es ist ein Missverständnis von Gregor Paul, wenn er meint (Konzepte der Menschenwürde in der klassischen chinesischen Philosophie [s. o. Anm. 5], 71), dass »strukturell gesehen« tianjue dem westlichen Konzept einer naturg­ege­benen Menschenwürde gliche und »inhaltlich gesehen« tianjue aus der dem Menzius zufolge jedem Menschen eigenen, ihm innewohnenden Anlage und Fä­higkeit zur Moralität und dabei insbesondere zu (Mit-)Menschlichkeit und Rechtlichkeit, aber auch zur Kultur bestünde.
91) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, A17.
92) Lún Yü, Buch XII, 11.
93) Vgl. Mong Dsï, Buch IV, A2.
94) Shǐjì, Aufzeichnung des Historikers von Sima Qian (um 145 v. Chr. bis um 90 v. Chr), Teil 4, Kap. 17: Biographie des Konfuzius.
95) Vgl. Mong Dsï, Buch VI, B14.
96) Mong Dsï, Buch V, B3.
97) Vgl. Mong Dsï, Buch II, A7.
98) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 8, 11.
99) Vgl. Mong Dsï, Buch V, A1.
100) Vgl. Gen 1,26–31.
101) Vgl. Luthers Predigt De triplici iustitia (1518) und De duplici iustitia (1519).
102) Vgl. Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 1, Kap. 2, B5.
103) Vgl. Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 1, Kap. 5, Teil 2, F2.
104) Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 5, Kap. 16, 1. Vgl. auch Bd. 1, Kap. 5, Teil 2, F3.
105) Heiner Roetz (Konfuzius und die Würde des Menschen, ZEIT ONLINE, 47/1996) hat richtig gesagt, dass »der Konfuzianismus gar nicht den Begriff eines Individuums kennt, das als Träger von Rechten gegen den Staat oder das Kollektiv in Frage kommt«.
106) Vgl. Heiner Roetz, »The ›Dignity within oneself‹: Chinese Tradition and Human Rights« (s. o. Anm. 76), 250.
107) Vgl. Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 5, Kap. 16, 1.
108) Vgl. Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 8, Kap. 29, 5.
109) Vgl. Xúnzǐ, Kap. 10, 3.
110) Vgl. Mong Dsï, Buch IV, A7.
111) Vgl. Li Gi (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche), Bd. 4, Kap. 13,1.
112) Ferner hat Heiner Roetz die Ethik des Konfuzianismus als »Doppelstruktur« im dialektischen Sinne bezeichnet: »… a double structure of Confusican ethics, which tries to integrate abstraction and concreteness, general and particular, equality and inequality. An expression of this dialectics is the incorporation of the Golden Rule into the political theory …« (Roetz, The ›Dignity within oneself‹: Chinese Tradition and Human Rights« [s. o. Anm. 76], 245).
113) Vgl. Heiner Roetz, Konfuzius und die Würde des Menschen, ZEIT ON-LINE, 47/1996.