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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

105-106

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter, Lüscher, Kurt, u. Christoph Müller

Titel/Untertitel:

Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2009. 235 S. m. Abb., Kt. u. Tab. gr.8°. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-290-17523-8.

Rezensent:

Hans-Günter Heimbrock

Dieses Buch mit seinem etwas spröde daherkommenden Titel ist aus der interdisziplinären Kooperation eines Soziologen, eines Alttestamentlers und eines Praktischen Theologen hervorgegangen. In drei großen Kapiteln wird die jeweilige Fachperspektive vom betreffenden Fachautor entwickelt. Jedem Kapitel ist eine ausführliche Liste relevanter Fachliteratur beigegeben. Ein abschließendes Kapitel nimmt die interdisziplinäre weiter Diskussion auf.
Im ersten Teil »Ambivalenz. Eine soziologische Annäherung« (17–67) entwickelt der Konstanzer Soziologe Kurt Lüscher das Konzept »Ambivalenzen« auf dem Hintergrund eines breiten Spektrums kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Forschungslinien. Ein vorzüglicher Forschungsbericht, der bei der ersten Begriffsverwendung durch den Züricher Psychiater E. Bleuler An­fang des 20. Jh.s einsetzt, führt durch Psychiatrie, Psychoanalyse, Soziologie, Kulturanthropologie bis hin zu Kostproben aus Literatur- und Musikwissenschaft. Darauf bezogen wird dann eine Definition von Ambivalenzen (45) präsentiert, diese gegen andere verwandte Begriffe abgegrenzt und hinsichtlich ihres Potentials für Forschung erörtert. Das Kapitel bietet materialiter anthropologische Grundinformationen zum Thema, präzisiert gleichzeitig definitorische und methodische Zugangsweisen. »Ambivalenzen« wird hier aufgefasst als begriffliches Konstrukt, in dem spannungsreiche und oszillierende Erfahrungen gefasst werden können, die auf die innerpsychische, interpersonale und kollektive Identitätsbalance bezogen sind. Der Begriff kann nach Auffassung Lü­schers sowohl zur Deutung kultureller Sachverhalte als auch als Ana­lyse-Konstrukt für sozialwissenschaftlich-empirische Forschung ge­nutzt werden. Das Konstrukt erweist sich exemplarisch fruchtbar an der Analyse intergenerationaler Beziehungen.
Im nächsten Kapitel »Israel, seine Ahnen und die Völker. Ambivalenz als Grundkategorie der biblischen Erzählungen und der Erfahrungen Israels mit seinen Nachbarn« (69–122) nimmt der Berner Alttestamentler Walter Dietrich den angesprochenen literaturwissenschaftlichen Darstellungsfaden auf und zeigt an ausgewählten Partien der Genesis in exegetischen Erzählrekonstruktionen und bibeltheologischen Reflexionen die Fruchtbarkeit der Perspektive »Ambivalenzen«. Anhand der Erzählkompositionen und Tradierungsstränge soll deutlich gemacht werden, wie in den Texten Er­zählcharaktere, familiale Beziehungen, Stammesbegegnungen und schließlich auch Gottesbilder unterschiedliche Gestaltungen von Ambivalenz aufweisen. Seine leitende These ist: »Es gibt Gründe für die Annahme, dass ein wesentliches gedankliches und literarisches Mittel bei dieser Art erzählter Konfliktbewältigung die Inszenierung von Ambivalenzen ist.« (70) Diese Hypothese wird – in der Regel im Modus kommentierter Nacherzählung – extensiv durchgearbeitet. Dabei stehen m. E. viele evidente Beweisführungen neben zuweilen etwas weniger einleuchtenden Interpreta- tionen (z. B. 102: das Glaubensverständnis in Abrahams Opfer). Plausibel ge­macht werden kann aber auch von Dietrich am exegetischen Material die bereits vom Soziologen eingebrachte Be­­hauptung, dass ein be­stimmter Umgang mit Ambivalenzen, der jene nämlich gerade nicht zum Verschwinden bringen will, sich kreativ und konstruktiv im Blick auf Handlungsfortschritte und Lebensgestaltung auswirkt. Der Beitrag endet mit einer Notiz zu »Überschüssen« biblischer Gotteserfahrungen im Blick auf Ambivalenzerfahrungen (117). Im Blick auf das Geltungspotential narrativer Komplexität der drei Religionen wüsste man als theologischer Leser allerdings gern mehr.
Im dritten großen Beitrag entfaltet der Berner Kollege Chris­toph Müller unter dem Thema »Ambivalenzen in Kasualien. Wahrnehmungen und Umgangsweisen bei Taufen, kirchlichen Trauungen und Bestattungen« (123–192) die praktisch-theologische Fruchtbarkeit des leitenden Konzeptes. Ausgehend von Fallbeispielen setzt Müller konkrete Erfahrungen beteiligter Menschen und ihre Deutungen in Beziehung mit übergreifenden Reflexionen zu Aspekten des Ambivalenz-Konstrukts. Praxisgesättigt ist dieser Zugang nicht zuletzt deshalb, weil auf Material aus einem größeren Forschungsprojekt zu familalen und kirchlichen Ritualen zurückgegriffen werden kann. Unter den zahlreichen erhellenden Einsichten sei hier insbesondere die gelungene empirisch-theologische Herausarbeitung der Ambivalenz von Kasualien zwischen kirch­-lichem und familialem Ritual hervorgehoben. Auch 50 Jahre nach Bohren ist das immer noch aktuell. Als beeindruckend empfinde ich neben der Wahrnehmungsleistung dieses Beitrags im Blick auf die Erschließung konkreter – gelungener wie misslungener – Um­gangsweisen mit Ambivalenzen im Sinne von Lüschers Deutungsfunktion des Begriffs schließlich auch die Beispiele zur Gestaltung von Ambivalenzen vornehmlich in Taufen und Bestattungen.
Das abschließende Kapitel rekapituliert die vorgeführten Analysen in kommentierender Weise und notiert weitere Anschlussfragen der Fächer. Hier wird der trialogische Prozess des Bandes am deutlichsten greifbar. Vielleicht hat der Alttestamentler den schwie­rigsten Part im Trio. Denn der Weg von seiner methodischen Fachorientierung hin zum Umgang mit »Ambivalenz« scheint am weitesten. Der formale und religionstheoretisch relevante Zu­sam­menhang zwischen Erzählung und Ambivalenz kommt im Schlussteil deutlicher zur Geltung.
Erkenntnisgewinn für die Theologie sehe ich vielfältig in diesem sehr anregenden Band: In Zeiten des Fundamentalismus wird einmal mehr belegt, wie Religionen bei genauerer Betrachtung ein Potential zur »Aufhebung« lebensnotwendiger Widersprüchlichkeiten in Kulturprozesse einbringen können. Das freilich erfordert eine solche theologische Rekonstruktion von Religion, die die Vorder- und Hinterbühne des Alltags (193) nicht dem gereinigten und widerspruchsfreien Denksystem opfert, sondern wahrzunehmen und theoretisch zu verorten in der Lage ist.