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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

183–186

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Welsch, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft.

Verlag:

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. 983 S. 8° = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1238. Lw. DM 148,-. ISBN 3-518-28838-5.

Rezensent:

Peter Dabrock

1. Spätestens seit den intensiv und hart geführten Debatten um die sogenannte "Pluralistische Religionstheologie" dürfte der gesamten theologischen Zunft überdeutlich sein, daß die Postmoderne nicht nur ein Thema außerhalb ihrer selbst ist, das man mehr oder weniger genüßlich oder besorgt, aber unbeteiligt beobachtet, sondern das sie in all ihren Vollzügen affiziert und somit verändert. Auch eine am Anselmschen Diktum von der "fides quaerens intellectum" orientierte Theologie, die Rechenschaft über ihre Hoffnung zu geben sucht (1Petr 3,15), kommt nicht umhin, die außerhalb der Theologie geführten vernunft- und sprachphilosophischen Auseinandersetzungen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch auf ihre Relevanz für die nachdenkende Begründung von Theologie zu hinterfragen. Zu diesem Zweck bietet der 1996 als stw-Band erschienene, großangelegte Entwurf zur "transversalen Vernunft" von Wolfgang Welsch wertvolle Anregungen. Mit der vorliegenden Monographie entfaltet der Magdeburger Philosoph das 11. Kap. seines 1987 veröffentlichten, vielbeachteten Buches "Unsere postmoderne Moderne", in dem er angesichts der postmodernen Herausforderungen eine Vernunft der Übergänge, eine "transversale Vernunft" postulierte.

2. Zwei Intentionen prägen W.s Entwurf: eine diagnostische und eine therapeutische. Zum einen versucht W., zunächst eher historisch orientiert, im Durchgang durch entscheidende philosophische Konzeptionen des 20. Jh.s und die zunehmenden Pluralisierungs- und Unordentlichkeitstendenzen in der Philosophie nicht wie Habermas als degenerativen, sondern als sinnvollen Prozeß zu begreifen, um anschließend mit seiner These von der "transversalen Vernunft" die Lösung für diese nicht mehr zu hintergehende geistige Situation anzubieten. Dieser doppelten Intention folgt der Aufbau der Untersuchung, die sich in zwei Teile gliedert: in den auf die problemanzeigende Einleitung (30-50) folgenden, problemorientierenden philosophiegeschichtlichen (53-424) und den darauf aufbauenden systematischen (425-949) Teil, der fragt, wie angesichts von Pluralität und Heterogenität noch vernünftige Übergänge zwischen verschiedenen Rationalitätssphären möglich sind.

3. Ausgangspunkt für W.s Entwurf ist seine These über die scheinbare Anachronizität seines Werkes: nicht Vernunft, sondern entweder im Namen von Rationalismus oder Irrationalismus vorgetragene Vernunftkritik ist an der Tagesordnung (30ff.) ­ angesichts der "desaströsen Realität und angesichts katastrophischer Welttendenzen" (37) wohl auch nicht ganz zu Unrecht. Doch begegnet man ­ so W. ­ den seit Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" standardisierten Hauptvorwürfen gegen die Vernunft ­ sie sei im Bündnis mit der Herrschaft und uniformiere die mannigfaltige Wirklichkeit ­ nicht adäquat, wenn man sich auf Diagnostiker-Schelte, unkritische Vernunftoption oder gar auf die Verabschiedung der Vernunft konzentriert (39-41). Vielmehr gilt es, die Pluralisierung als "Königsweg der kritischen Diskussion von Vernunft" (43) zu wählen, dabei allerdings nicht in die Belanglosigkeit des "anything goes" zu verfallen, sondern nach einer Vernunft-Konzeption Ausschau zu halten, die trotz Diversifizierungstendenzen neuzeitlicher Rationalität tragfähig bleibt.

4. Um das heute angemessene Problematisierungsniveau für Vernunftthematisierung und -kritik nicht leichtfertig zu unterschreiten, stellt sich W. der anspruchsvolle Aufgabe, eine problemorientierte Geschichte der Vernunftkritik unter dem Motto "Von der Einheit zur Pluralität der Vernunft ­ und ihren Problemen" (51) zu schreiben. Dieser erste Teil, der, wie der Vf. zu Recht bemerkt (427), auch selbständig gelesen werden kann, zählt zu den stärksten Ausführungen des Buches. Im Unterschied zu mancher Philosophiegeschichte, die ihre heimliche Systematik zu kaschieren sucht, bietet W. geradezu ein unter der genannten Leitperspektive stehendes Kompendium wichtiger Strömungen der Philosophiegeschichte des 20. Jh.s. Dabei geht er nicht chronologisch, sondern problemorientiert vor, so daß es nicht verwundert, wenn die Reihe der Autoren mit dem späten Wittgenstein, für den W. auch im zweiten Teil viel Sympathie aufbringt, abgeschlossen wird.

Als Ausgangspunkt seiner historischen Analysen wählt W. das klassische Einheitspostulat von Vernunft-Konzeption. In problemverschärfender Reihenfolge befragt W. nun eine stattliche Anzahl von Autoren nach ihrer Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielfalt und den sich daran ausrichtenden Vernunftkonzeptionen: Hegel, Husserl, Ritter, Horkheimer/Adorno und auch Habermas werden insofern einer Gruppe zugeordnet (53-140), als sie trotz unterschiedlicher Wahrnehmung von Entzweiung "Einheit als Therapeutikum" (140) der Vernunftkrise präferieren.

Auf Heidegger aufbauend (141-164), der allerdings noch zu ontologisch fixiert ist, suchen demgegenüber die französischen, italienischen und amerikanischen Denker Foucault, Glucksmann, Vattimo, Rorty, Derrida, Lyotard, Deleuze, Goodman und der in Wien geborene Wittgenstein Differenz so ins Recht zu setzen (165-424), daß "Pluralisierung selbst (als) die einzig verbleibende Chance" gesehen wird, um den "Krisensymptomen" der Vernunftbegründung in der Philosophie adäquat zu begegnen (140). Diese Präsentation der oft komplizierten Wendungen der neueren Philosophiegeschichte zeichnet sich nicht nur durch die nie aus dem Blick geratende Generalperspektive und zahlreiche interessante Detailanalysen aus, sondern insbesondere auch durch die selten anzutreffende Elementarisierung des komplizierten Stoffes. So kann der Leser oder die Leserin das am Ende des historischen Kapitels erreichte Fazit gut nachvollziehen: neben der zunehmenden Pluralisierung und Unordentlichkeit als Standarddiagnosen der Vernunftkritik muß diese ihrerseits Anspruch auf Vernünftigkeit erheben (423 u. ö.). Daher drängt das philosophiegeschichtliche Vorspiel zur systematischen Aufarbeitung: wie kann sich Vernunft der geschichtlichen Situation entsprechen, ohne in einen obsoleten Ursprungsgestus zu verfallen?

5. Bei der systematischen Problementfaltung bedient sich W. der nicht erst seit Kant klassischen Unterscheidung von "Verstand" und "Vernunft" als den beiden Momenten des einen reflexiven Vermögens des Menschen (zur Geschichte dieser begrifflichen Differenzierung vgl. 804-826). Dabei richtet sich Verstand, von W. als bereichsspezifische Rationalität aufgefaßt, auf Gegenstände, während Vernunft das Verhältnis der Rationalitäten zueinander kritisch thematisieren soll. Entsprechend unterteilt W. diesen zweiten Hauptteil nochmals in zwei Hauptstücke: "Die Verfassung der Rationalität" (441-610) und "Das Konzept der transversalen Vernunft" (611-949). Läßt man sich überhaupt auf die sicher nicht unproblematische Differenzierung von bereichsspezifischen Rationalitäten und rationalitätskritischer Vernunft ein, überzeugt W.s Analytik, daß die heute diagnostizierte "Unordentlichkeit" nicht aus der Pluralität der Rationalitätstypen, sondern aus der Paradigmenpluralisierung und -vernetzung herrührt.

Damit stellt sich W. wiederum dezidiert gegen Habermas, der auf die ausgewogene Trennung und Kohärenz des kognitiven, des moralisch-praktischen und des ästhetischen Rationalitätstyps zur Lösung des Pluralitätsproblems drängte. Durch genaue Analysen der drei Diskursarten (461-526) wendet sich W. vom Trennungstheorem zum Verflechtungsbefund. Da er aber die Diversifizierung der Rationalitäten nicht leugnet, muß er sie tiefer ansetzen: er findet den tieferen Grund in der Paradigmenpluralisierung (unter Paradigmen versteht W. unterschiedliche rationale Bearbeitungen desselben Gegenstandsfeldes; also für die Theologie z.B. Wort-Gottes-Theologie vs. Erfahrungstheologie). In den Paradigmen, nicht in den Rationalitätstypen werden die entscheidenden Gegensätze und Verflechtungen binnen- und transsektoriell aufgebaut, hier liegt der Grund für die Unübersichtlichkeit im Ganzen der Rationalität, die aus sich diese Pluralität nicht kritisch korrigieren kann (624-636; 671-697).

6. Dennoch hat die Gemengelage und Unübersichtlichkeit der Rationalitätstypen, Diskursarten und Paradigmenverbände und -netze für W. nicht das letzte Wort über das Reflexionsvermögen des Menschen. Im zweiten Hauptstück will der Vf. die Rationalitätssituation mit dem Konzept der "transversalen Vernunft" kritisch und konstruktiv bearbeiten: da die bereichsspezifischen, darin durchaus effizienten Rationalitäten immer an ihren Gegenstand gebunden und somit beengt bleiben, kann ausschließlich die Vernunft die zur Unübersichtlichkeit tendierende Pluralität bewältigen. Um dies zu beweisen, muß W. einen schwierigen Spagat vollziehen: Einerseits darf Vernunft nicht mehr eine transrationale Metaposition einnehmen, weil sich W. sonst implizit doch dem alten Einheitsgestus verschreiben würde; sie darf also keine Substanz sein, muß offen, pluralitätsbewußt, tolerant, gerecht, polyperspektivisch, nicht exklusiv, grenzbeachtend und situationsadäquat sein. Andererseits muß sie dem alten Ideal von Vernünftigkeit entsprechen und anders als die bereichsspezifische Rationalität aufs Ganze gehen (637-670); da sie dies nicht aus einer Überlegenheitsattitüde heraus oder in vertikaler Bewegung darf, bezeichnet W. Vernunft als zwischen den Rationalitäten auf horizontaler Ebene übergehende: als transversale Vernunft.

Insgesamt überzeugt auch hier die Analyse, daß die Entkopplung von Ganzheitsvision und Einheitsdenken eine sinnvolle Entwicklung darstellt und Pluralität und Ganzheit keinen Gegensatz bilden müssen (637-670). Auch der prinzipielle Gedanke der Vollzugsform der Transversalität (748-765), den W. in "Die postmoderne Moderne" noch (angemessener) als "materiale Übergänge" bezeichnet hatte, eröffnet dem vernunftkritischen Denken neue Horizonte, insofern tatsächlich die diversifizierte Pluralität schwerlich das Ende der Reflexion sein kann. Auch die Charakterisierung einer solchen Position als Vernunft der Schwäche, die genau im Wissen um die Grenze ihre Stärke hat, gibt zu denken (803-828).

7. Und doch bleiben Fragen: Obwohl W. immer wieder beteuert, daß die transversale Vernunft keine Metaposition einnehme, und obwohl er durch das breite philosophiegeschichtliche Kapitel beansprucht, das Problembewußtsein der "Dialektik der Aufklärung" zu verschärfen und somit ihre Schatten nicht mehr beseitigen zu können, verfällt W. in einen aufklärerischen Gestus, wenn er das Vermögen der transversalen Vernunft umschreibt:

Dies zeigt sich nicht nur daran, daß sie wie Kants Vernunft "rein", "formal" (632 ff.; 760), "ort-" (760) und "zeitlos" (757) ist, sondern auch daran, daß sich die optischen Metaphern (Indiz für aufklärerischen Optimismus) häufen, während akroamatische (nach Levinas oder Waldenfels Indizien für die Achtung der bleibenden Fremdheit der Differenz) fast vollständig fehlen. Bleibende Fremdheit gibt es letztendlich für die überall souverän (759; 910) agierende Vernunft nicht (715; 756) ­ ist sie denn nicht konstitutiv an eine kontingente Existenz gebunden (Merleau-Ponty)? Ganz offensichtlich kann man diesen zwar transformierten, aber ungebrochenen Vernunftoptimismus nur teilen, wenn man eben die Ergebnisse sogenannter Rationalitätstypen (hier hätte sich nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch das "simul iustus et peccator" theologischer Anthropologie angeboten) nicht mehr als konstitutiv relevant für die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen des Reflexionsvermögens des Menschen beachtet.

8. Trotz dieser Anfragen bleibt W.s "transversale Vernunft" ein philosophisch anregender Entwurf, der die Problemkonstellation der Postmoderne nicht nur präzis analysiert, sondern sich darüber hinaus mit der Diagnose nicht zufrieden gibt. Künftige Reflexion auf theologische Vernunft wird dieses Problemniveau nicht mehr unterschreiten dürfen, andererseits aber aus der allenfalls nach W. ungenügenden Partikularperspektive auch dem Denken zu denken geben (E. Jüngel), wenn sie gegen die Reinheit - auch der transversalen - Vernunft opponiert.