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Ausgabe: | Januar/2011 |
Spalte: | 96-99 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Dogmatik |
Autor/Hrsg.: | Herms, Eilert |
Titel/Untertitel: | Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XXXI, 496 S. gr.8°. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150249-1. |
Rezensent: | Gunther Wenz |
Nach Maßgabe eines Votums des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2001 zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen »Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis« (EKD Texte 69) versteht sich die Evangelische Kirche in Deutschland als eine Kirchengemeinschaft von bekenntnisverschiedenen evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Grundlegend für dieses Selbstverständnis und das in ihm vorausgesetzte Verständnis von Kirchengemeinschaft ist die ekklesiologische Unterscheidung von Grund und Gestalt der Kirche, wie es gemäß dem Votum das evangelische Verständnis der Kirche und das Modell von Kirchengemeinschaft bestimmt, zu der sich 1973 konfessionsdifferente Kirchen in der Leuenberger Konkordie zusammengefunden haben. Nähere Aufschlüsse, wie die Unterscheidung von Grund der Kirche und ihrer Gestalt, Ordnung, Bestimmung und Einheit zu fassen sei, sind neben dem Votum u. a. dem 1995 im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft herausgegebenen Text »Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit« zu entnehmen. Vergleicht man die genannten Dokumente mit einschlägigen Schriften von Eilert Herms, so bedarf es keiner großen exegetischen Kunstfertigkeit, um von der Argumentationsstruktur her und zum Teil bis in den Wortlaut hinein Übereinstimmungen zu entdecken. Mögen bei der Abfassung der Papiere, wie einst bei der Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung, einige andere geschlafen haben – einer jedenfalls war hellwach bei der Sache, um seinem gedanklichen Einfluss wirkungsvolle Geltung zu verschaffen.
Im theologiegeschichtlichen Rückblick wird man H. vielleicht einmal als den Normaldogmatiker der Evangelischen Kirche in Deutschland im ausgehenden 20. und im beginnenden 21. Jh. bezeichnen. Wie wenige Theologen neben ihm hat er den theologischen und theologiepolitischen Kurs der EKD der vergangenen Jahrzehnte im Rahmen der Leuenberger Kirchengemeinschaft geprägt. Er hat dies in bewunderungswürdiger Geradlinigkeit, mit Gedankenklarheit, argumentativer Kraft und der ihm eigenen unermüdlichen Energie getan. Dafür gebührt ihm uneingeschränkter Respekt. Seine engagierten Leistungen in Theologie und Kirche verdienen Anerkennung auch vonseiten derer, die ihm nicht in jeder Hinsicht zu folgen bereit waren und die in ekklesiologischer, bekenntnistheologischer und ökumenischer Hinsicht abweichende Akzente setzten. Unter systematischen Gesichtspunkten ist und bleibt das entscheidende Problem das Verständnis von Grund und Gestalt der Kirche in ihrem differenzierten Verhältnis zueinander. Hierauf wird sich die künftige Interpretation sowohl der H.schen Ekklesiologie als auch der von ihm entscheidend geprägten kirchen offiziellen Texte zu konzentrieren haben. Worin meine eigenen konzeptionellen Vorbehalte bestehen, habe ich mehrfach deutlich gemacht und brauche das hier nicht zu wiederholen (vgl. etwa: Kirchengemeinschaft aus evangelischer Sicht, in: epd-dokumentation 43/2002, 27–35).
Das Wort Gottes, wie es im Evangelium Jesu Christi definitiv ausgesprochen ist, um in der Kraft des Heiligen Geistes wirksam zu sein, schafft die Kirche als Zeugin für das sie schaffende Wort Gottes und erhält sie als das Instrument seiner dauernden Selbstvergegenwärtigung in der Welt sub contraria specie. Die Kirche ist Geschöpf und Werkzeug des Geistes. Unter diesem Grundsatz und Titel sind in dem vorliegenden Sammelband 16 zum Teil bereits anderwärts publizierte, zum Teil noch unveröffentlichte Beiträge zur erfahrbaren Sozialgestalt der Kirche vereint, die nach H.s zutreffendem Urteil konstitutiv zu ihrem geschichtlichen Wesen hinzugehört. Sie werden später durch Sammlungen von Texten zur gesellschaftlichen Relevanz der Kirche sowie zur Stellung des Institutionengefüges der wissenschaftlichen Theologie in ihr ergänzt werden. Vorausgegangen sind bereits zwei Trilogien von Aufsatzsammlungen zu ähnlich gelagerten Themen: Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie (1990); Gesellschaft gestalten. Beiträge zur Sozialethik (1991); Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens (1992) sowie Phänomene des Glaubens (2006); Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen (2007); Politik und Recht im Pluralismus (2008).
Die Kirche ist nach reformatorischem Verständnis keine »civitas platonica«. Ihr Wesen ist zwar verborgen, aber nicht einfachhin unsichtbar. Vielmehr gehört es wesentlich zu ihr, in der sozialen Welt als ein dauerhaftes soziales Gebilde zu existieren, das durch seine sichtbare Gestalt von anderen sozialen Gebilden unverwechselbar unterschieden und für die teilnehmende Erfahrung von jedermann zugänglich ist. Das Verhältnis der unveräußerlich zu ihrem Wesen gehörenden leibhaften Sozialgestalt der Kirche zu ihrem Ursprung ist nach H. unvermeidlich vermittelt durch eigenes verantwortliches Handeln von Menschen, jedoch so, dass dieses Handeln – und zwar auch als Handeln der Glaubenden bzw. von kirchlichen Amtsrepräsentanten – elementar zu unterscheiden ist vom Handeln Gottes, welcher allein zu gewährleisten vermag, dass sich durch menschliche Vermittlung hindurch und mittels der erfahrbaren Sozialgestalt der Kirche deren vorgegebener Grund auf evidente Weise vermittelt. Der Grund der Kirche darf mit ihrer Sozialgestalt nicht gleichgesetzt werden. Nur wenn die durch das Vorgegebensein ihres Grundes für sie gesetzten Grenzen von ihr geachtet werden, kann Kirche sein, was zu sein sie bestimmt ist.
Kirchliche Zeugenschaft setzt die Unterscheidung von Zeugen und Bezeugtem voraus und lebt von der Gewissheit, dass in, mit und unter dem Zeugnis des Zeugen das oder besser: der Bezeugte sich selbst zwanglos und auf überzeugende Weise zu bezeugen vermag. Dieser Grundsatz steht unter reformatorischen Bedingungen zweifelsfrei fest. Zwischen der Gestalt der Kirche in allen ihren Formen und dem Gehalt der ihr aufgetragenen Botschaft ist entsprechend zu differenzieren. Genauerer Klärung bedürftig bleibt, wie unter diesen Bedingungen die inhaltliche Bestimmtheit des Gehalts der christlichen Botschaft so gefasst werden kann, dass der Grund der Kirche, obwohl unverfügbar, als offenbarer Grund wahrzunehmen ist. H.s Antwort auf diese Frage ist in den ersten Beiträgen des Sammelbandes enthalten, welche die Basis für die nachfolgenden zu Amt, Verfassung und Lehrordnung der Kirche bilden. Signifikant für ihre Systematik ist die Kombination von Luther und Schleiermacher sowie die Abgrenzung gegenüber neuprotestantischen Ansätzen im Gefolge etwa von Ernst Troeltsch einerseits und bestimmten ekklesiologischen Implikationen und Konsequenzen der Dialektischen Theologie im Anschluss an Karl Barth andererseits. Besonderes Interesse verdient nach meinem Urteil der Text über Sakrament und Wort in der reformatorischen Theologie Luthers, dessen Publikation in der »Zeitschrift für Theologie und Kirche« nach Auskunft H.s am Veto zweier Herausgeber scheiterte. Sehr bemerkenswert ist fernerhin, was H. über die Heilige Schrift als Kanon im »kanon tes paradoseos« ausführt.
Niemand, heißt es in CA XIV, soll in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen, er sei denn ordentlich berufen. Wie dies theoretisch und praktisch aufzufassen sei, wird seit geraumer Zeit in den evangelischen Kirchen hierzulande und darüber hinaus intensiv und strittig diskutiert. H.s Sicht der Dinge ist u. a. einem Kommentar zu den einschlägigen Klärungsbemühungen innerhalb der VELKD und zu ihrer Fortsetzung im Rahmen der EKD zu entnehmen. Diskussionswürdig, aber auch diskussionsbedürftig scheint mir insbesondere die in Anschlag gebrachte »Differenz zwischen einem die Episkope wesentlich einschließenden und einem sie nicht einschließenden Lehr- und Sakramentsvollzug im Auftrag und Namen der Gesamtheit« (202) zu sein. Von möglichen Bedenken, die sich auf diese Unterscheidung beziehen, bleibt die im Folgeaufsatz begründete Tatsache unberührt, dass das evangelische Pfarramt in seinem Kern ein Leitungsamt ist und eine spezifische Verantwortung für die kirchliche Lehre impliziert. Im Unterschied zu einer unter evangelischen Theologen verbreiteten Auffassung geht H. dezidiert davon aus, dass es in den Kirchen der Reformation zusammen mit einem Amt der Leitung auch ein solches der Lehre gibt und geben muss. Wie und unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen dieses Lehramt zu gestalten ist, wird in einem eigenen Beitrag im Kontext von Überlegungen zum Verhältnis von Kirchengemeinde und Gesamtkirche sowie zur Kirchenverfassungstheorie verhandelt. Dies geschieht, wie stets bei H., präzise und begriffsscharf und damit in einer Weise, die sich von manchen kirchlichen Verlautbarungen, aber auch dem einen oder anderen akademischen Statement wohltuend unterscheidet.
Am 11. Februar 2009 hielt H. in der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen seine Abschiedsvorlesung über die Bedeutung der ökumenischen Bewegung der römisch-katholischen Kirche für die evangelischen Kirchen. Diese Vorlesung ist als letzter Beitrag in dem Sammelband abgedruckt und variiert in gewohnter Manier das Thema von Grund und Gestalt der Kirche, das für H.s Ekklesiologie wie für sein Ökumeneprogramm (vgl. E. Herms/L. Zak [Hrsg.], Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008) kennzeichnend ist. Als »Abschied vom Prinzipiellen« (O. Marquard) will H. sein universitäres Lebewohl ganz und gar nicht verstanden wissen. Im Gegenteil: Nicht ohne Wohlgefallen zitiert er den genervten Seufzer, den er mitunter zu hören bekam: »Herms sieht alles so schrecklich prinzipiell!« (445) Er wird dies voraussichtlich auch als Emeritus so halten, und das ist gut so und wünschenswert, solange die ekklesiologische Grund-Gestalt-Thematik nicht die Form einer evangelischen Fundamentaldoktrin annimmt, die einen dogmatischen Infallibilitätsanspruch gegen einen anderen austauscht.