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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

91-92

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Lucian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Jenseits. Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit.

Verlag:

Göttingen: Wallstein 2007. 267 S. 8° = Geschichte der Religion in der Neuzeit, 1. Kart. EUR 26,00. ISBN 978-3-8353-0201-3.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Dieser Band eröffnet die neue Reihe »Geschichte der Religion in der Neuzeit«, die der Bochumer Historiker Lucian Hölscher herausgibt. Das Thema des Jenseits eignet sich in besonderer Weise als Auftakt der Reihe, führen doch die elf Beiträge facettenreich vor Augen, dass und wie sich die Profilierung der Rede vom Jenseits in der Neuzeit selbst der Geschichte der Religion in der Neuzeit verdankt und wie sich »Diesseits« und »Jenseits« als »unentbehrliche Kategorien neuzeitlicher Religiosität« (11) etabliert haben. Dabei stehen »weniger die Vorstellungen vom Jenseits selbst als vielmehr die Umstände ih­rer Bezeichnung als Jenseits« (8) im Zentrum der Untersuchungen.
Grundlegend für das Verständnis des neuzeitlichen Wandels ist zuerst der Beitrag von Walter Sparn. Hier wird gezeigt, wie es in der frühen Neuzeit zur Naturalisierung des Weltraums und der Weltzeit kommt, wie im Rahmen theologischer Aufklärung die protes­tantische Theologie des 18. Jh.s »die chiliastische Modifikation der überlieferten Jenseitsvorstellung aktiv mitgestaltet« (25) und sich unter den Bedingungen der Aufklärung »an der Abschaffung der Rede von einer Hölle und an der restlosen Metaphorisierung der Rede von einem Himmel« (ebd.) beteiligt hat. Zur Vermeidung direkter weltanschaulicher Konfrontation habe man sich auf einen positivistischen Offenbarungsbegriff verlegt, mit dem an die Stelle der Rede vom »Jenseits« das »Reich Gottes« trat (vgl. 39). Martin Mulsow erweitert das nähere Verständnis des Übergangs von herkömmlichen Jenseitsvorstellungen zum »modernen Himmel« im 18. Jh. durch den Blick auf die kosmologisch-spekulativen Konstruktionen im Wolffianismus. Hier würden zwar »die Straf- und Lohninstanzen nach dem Tod noch extern räumlich (auf den Planeten)« (41) verortet, aber doch nicht mehr als »offenbarungstheologisch gegeben«, sondern als »immanent begründet« (ebd.) in Anspruch genommen.
Wie der Herausgeber schon in der Einleitung vermerkt, etablierte sich das abstrakte Nomen »Jenseits« erst nach 1800, und zwar literarisch ausgehend von F. Schiller (vgl. »Die Räuber«) und philosophisch durch G. W. F. Hegel. Wie Hegel das Jenseits unter den Bedingungen einer sich selbst entfremdeten Welt als »unverzichtbare Leerstelle« (79) im Denken und Bewusstsein interpretiert, zeigt prägnant Christian Link. Simone Thielmann erschließt die Entwick­lung des Jenseits-Begriffs in der Unsterblichkeitsdebatte zwischen Philosophen, Naturwissenschaftlern und ›Mystizisten‹ um die Mitte des 19. Jh.s. Die Ablösung des christlichen Rationalismus durch einen naturwissenschaftlichen Monismus in der freireligiösen Bewegung untersucht Todd Weier. Welche eschatolo­gischen Vorstellungen der zwischen 1890 und 1970 im deutschsprachigen Raum meistgelesene Abenteuerschriftsteller Karl May in seinen Werken vermittelt, zeigt Diethard Sawicki. Mays Jenseitsvorstellung er­weise sich dabei als »Bestandteil eines spiritistisch imprägnierten Weltbildes, das May selbst durch die Bezeichnung ›Spiritualismus‹ kennzeichnete, um zu zeigen, dass er die Existenz der Geisterwelt und ihre Bedeutung für das Diesseits für unbestreitbar halte, ja, diese Geisterwelt sogar als die eigentlich wahre ansehe« (136).
Dass es aber auch »eine lange, wenngleich marginale europä­ische Tradition (gab), in der das Konzept einer jenseitigen Welt respektive eines kategorial differenten Himmels keinen Platz« (138) hatte, zeigt Helmut Zander anhand der monistischen Bestreitung der Dichotomie von Diesseits und Jenseits in den Konzeptionen von Ernst Haeckel, Wilhelm Bölsche und Rudolf Steiner. Volkhard Krech führt vor Augen, dass es die junge Religionswissenschaft war, die in verschiedenen Ansätzen zur systematischen Erfassung der Jenseitsvorstellungen diesem Konzept »zu akademischer Anerkennung« (10) verhalf. Darüber hinaus präsentiert er zwei konträre Formen der Kompilation: Während Max Weber »die Entwicklung des Jenseitsglaubens unter religionssoziologischen Gesichtspunkten in seiner religionsgeschichtlichen Stufenabfolge integriert« (171) habe, habe sich Gerardus van der Leeuw in »seinem ›phänomenologischen‹ Ansatz gegen eine Ableitung aus historischen und sozialen Sachverhalten« (172) gewandt.
Die letzten drei Beiträge widmen sich der konfessionsspezi­fischen Rezeption der Rede von »Jenseits« und »Diesseits« in der modernen evangelischen und katholischen Theologie. Alf Christophersen untersucht die Stationen der Auseinandersetzung und An­eignung der Rede vom Jenseits in der protestantischen Theologie im Rekurs auf Albrecht Ritschl, Ernst Troeltsch, Paul Tillich, Emanuel Hirsch und Rudolf Bultmann. Bernhard Lang zeigt sodann, wie sich im Medium der Aufnahme des Wortpaares »Diesseits-Jenseits« die neuscholastische, die lebensphilosophische und die moderne Theologie in ihrer Verarbeitung der neuzeitlichen Herausforderungen gegenüber dem scholastischen Weltbild profilieren. Michael N. Ebertz demonstriert abschließend unter der Frage »Tote haben (keine) Probleme?« auf der Basis von Predigtanalysen die »Zivilisierung der Jenseitsvorstellung in katholischer Theologie und Verkündigung«. Das Auffinden von Informationen zu einschlägigen Personen und Sachthemen erleichtern am Ende des Bandes ein Personen- und ein Sachregister. Allein ein Verzeichnis mit Informationen zu den Autoren vermisst man in diesem sehr lesenswerten und neuzeitgeschichtlich ausgesprochen wichtigen Band, der das »eschatologische Bureau« (Ernst Troeltsch) auf neuer Ebene öffnet.