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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

89-91

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U. [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Presence and Absence of God. Claremont Studies in the Philosophy of Religion, Conference 2008.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. VIII, 236 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 42. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-150205-7.

Rezensent:

Hendrik J. Adriaanse

Auch die klassische Unterscheidung zwischen Gottes Anwesenheit und Gottes Abwesenheit entkommt in unserer post- und anti­- the­istischen Zeit nicht der Neuprägung. Der Gottesglaubende – ob Jude, Christ oder Muslim – kann noch so sehr auf der Festigkeit des Sprachgebrauchs bestehen, die Frage ist heutzutage noch immer oder erst recht, was damit gemeint sein kann. Hier bietet die Einleitung des Bandherausgebers Ingolf U. Dalferth eine Fülle von Problemen und Perspektiven. Auf der Hand liegt z. B. die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Anwesenheit. Aber damit kann es nicht sein Bewenden haben. Weiter reicht der Gedanke, dass die beiden Begriffe eng miteinander zusammenhängen, so etwa, dass die menschliche Möglichkeit Gottes Anwesenheit zu verneinen, diese Anwesenheit geradezu beweist. Dieser Gedanke ergibt auch die Richtung, in der nach Dalferth die Lösung zu suchen ist: Die fraglichen Termini sind in einem selbstbezüglichen Sinn zu verstehen. Sie bedeuten die Art und Weise in der der Glaubende sich orientiert. Sie sind somit Teile eines besonderen Orien tierungsschemas. Mit diesem Begriff ist auch ihre temporale Di­mension angesprochen. Anwesenheit Gottes und Abwesenheit Gottes drücken Relationen aus, die das Subjekt lokalisieren in der nach heute, gestern und morgen artikulierten Welt. Höchst wichtig ist die weitere Unterscheidung zwischen Orientierung coram mundo und coram deo. Gottes Abwesenheit in der Welt ist nicht die Abwesenheit eines vorfindlichen Dinges oder Faktums, sondern ein Modus des Der-Welt-anwesend-werdens (a mode of God’s be-com­ing present to the world). In seiner Abwesenheit wird Gott anwesend als Abwesender. Hier erschließt sich die Perspektive auf eine haltbare Unterscheidung zwischen Gott als Gott und der Welt als Welt ohne Verwirrung oder Trennung zwischen göttlicher und geschöpflicher Wirklichkeit. So viel über die Einleitung.
Abgesehen davon enthält dieser Band noch zwölf andere Beiträge, die in ihrer Verschiedenheit den interdisziplinären Charakter der Religionsphilosophie illustrieren. In den ersten drei Stücken wird das Thema von den biblischen Befunden her angegangen. Überraschend ist der Versuch, den Begriff der Abwesenheit Gottes zuzuspitzen mittels einer Untersuchung der biblischen Texte über Vergewaltigung. Die Hauptthese ist, dass in narrativen Vergewaltigungsszenen die (israelitische) Gottheit abwesend ist. In dieser Abwesenheit bezeugt sich ein Mangel an Aufmerksamkeit für das wirkliche Opfer: die Frau.
Fraglich ist natürlich, inwiefern dieser Begriff von Gottesabwesenheit mit dem in anderen Kontexten vergleichbar ist. Diese Frage drängt sich auch schon angesichts der anderen biblisch-theolo­gischen Beiträge auf. Es ist dort z. B. von »Modi der Abwesenheit« die Rede und diese werden von »Wegen der Anwesenheit« unterschieden. Diese Unterscheidung findet ausdrücklich nicht in Termen einer binären Logik statt, sondern als Textur von Zeichen, d. h. als Semiose. Die Vergleichbarkeit ist auch in stofflicher Hinsicht fraglich. Der Stoff der Untersuchung, also der biblische Befund, wird hier nicht der hebräischen Bibel, sondern dem Lukas-Evangelium entnommen. Und der Protagonist in diesem Evangelium ist nicht eine Frau, sondern ein Mann und zwar ein Mann, der nicht nur gelebt hat und getötet wurde, sondern auch auferstanden ist.
Es ist hier nicht der Ort zu versuchen, derlei Schwierigkeiten zu lösen. Stattdessen seien einige kurze Hinweise auf die sonstigen Beiträge gegeben. Sie sind in drei Hauptabteilungen gegliedert. Eine von ihnen enthält Texte über jüdische Theologie und Philosophie, wiederum drei an der Zahl. Nacheinander kommen an die Reihe eine Studie über ein Hauptmotiv im chassidischen Denken, eine Grundstruktur in Spinozas Gotteslehre und eine zentrale Thematik bei Rosenzweig. Besonders aufschlussreich fand ich die Darlegung über die Verbergung der Verbergung Gottes im frühen Chassidismus. Der verdoppelte Ausdruck geht auf Dtn 31,18 zu­rück, wo der hebräische Text wie die Buber-Rosenzweigsche Übersetzung liest »Ich aber berge, ich verberge mein Antlitz an jenem Tag«. Der Baal-Schem-tow gab diesem Bibelwort folgende Auslegung: »Ich werde die Verbergung vor ihm verbergen, so dass er nicht erkennen wird dass es eine Verbergung des Antlitzes ist.« Der Beitrag besteht in einer Ausarbeitung der drei Hauptmotive, die von den frühen Chassidim für diese doppelte Verbergung namhaft gemacht wurden, nämlich Illusion, Verfremdung und Selbsttäuschung. In dem letztgenannten und bedrohlichsten Motiv scheint, so der Autor Jerome Gellman, die spätere, von dem Philosophen Paul Ricœur so benannte »Hermeneutik des Verdachts« durch. Interessant ist auch Gellmans Auflistung von nicht weniger als sieben möglichen Bedeutungen, in denen man sagen könnte, dass Gott vor einer Person S verborgen ist.
Eine zweite Hauptabteilung befasst sich mit zeitgenössischer Religionsphilosophie. Repräsentativ ist der Beitrag von Anselm K. Min, dem Verfasser eines vielzitierten Aufsatzes über das Nennen des unnennbaren Gottes bei Levinas, Derrida und Marion. Die Möglichkeit Gott in der Welt wahrzunehmen, steht nach Min un­ter dreierlei Bedingung: ontologisch, epistemologisch und phänomenologisch. Mit der letztgenannten Bedingung kommt der Zeichencharakter des Gott-Erkennens ins Spiel. Zeichen geben den Gegenstand nur indirekt zu erkennen. Unabdinglich sind die Aufgabe der Interpretation, die Arbeit des Subjekts, sich von Vorurteilen zu befreien und die Gemeinschaft des Glaubens zu suchen. Allerdings bleibt nach Min die ontologische Bedingung die fundamentalste.
Unter dem Namen »Literatur und Politik« werden schließlich noch zwei weitere Kreise des Themas gezogen, einen, in dem Simone Weils Denken mit dem durch den Pulitzerpreis gekrönten Roman The Road zusammengeschaut werden und einen, in dem das Problem religiöser Neutralität im Bereich des Staates angegangen wird. Die These, mit der dieser letztgenannte Beitrag schließt und die auch als Abschluss unserer ganzen Reihe von Hinweisen auf die einzelnen Beiträge im vorliegenden Band dienen möge, lautet im Geiste von Charles Taylor, dass Neutralität nicht notwendig zur Säkularisierung im Sinne von Glaubensverlust führt, sondern vielmehr zur Säkularisierung im Sinne einer Verschiebung in der Verfassung des Glaubens ( a shift in the conditions of belief). In diesem Sinn ist Säkularisierung aber nicht unverträglich mit Religion, kann dagegen sogar kongenial mit ihr sein.
Was ergibt sich daraus für die zwei Grundbegriffe, die das Thema dieses Bandes bilden? Ich meine: mehr als man vielleicht auf den ersten Blick denken möchte. Das plausibel zu machen, dürfte aber einen weiten Weg erfordern, für den hier kein Raum ist.