Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

88-89

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Angehrn, Emil [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 319 S. m. 15 Tfn. gr.8° = Colloquia Raurica, 10. Lw. EUR 74,95. ISBN 978-3-11-019480-7.

Rezensent:

Bernd Janowski

Anfang, Grundlage, Ursprung – es ist bekanntlich ein Unterschied, ob man mit dem »Anfang« eines Geschehens dessen zeitlichen Be­ginn, dessen seinsmäßige Basis oder dessen erkenntismäßige Begründung meint. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff »Ende«, den man entweder als Bezeichnung eines Abschlusses, eines Ab­bruchs oder auch eines Ziels verstehen kann. Schon das erste Wort der Bibel in Gen 1,1 – »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« oder wahrscheinlicher »Als Gott anfing, den Himmel und die Erde zu schaffen …« – enthält gleichsam den locus classicus des be­schriebenen Problems, insofern der hebräische Terminus bere’šît in der Septuaginta mit ἐν ἀρχῆ und in der Vulgata mit in principio wiedergegeben wird.
Welcher »Anfang« ist hier gemeint? Ein – wie der Kreationismus behauptet – historischer Anfangsmoment vor etwa 6.000 Jahren oder ein Grundgeschehen, das Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft der Menschheit und Israels hat? Die Antwort dürfte sein, dass, wer mit Gen 1,1 nach dem Anfang der Welt fragt, sich von der Vorstellung naturgeschichtlicher Werdeprozesse freimachen sollte, die den Rückschluss auf ein historisches Ur­sprungsdatum von Himmel und Erde nahelegen könnten (so im Anschluss an Ch. Link). Anders gesagt: Gen 1,1 macht nicht eine chronologische, sondern eine fundamentaltheologische Aussage.
Nun ist die Frage nach dem Anfang oder Ursprung nicht nur eine Frage der frühen Weltentstehungslehren des Alten Orients und der Bibel. Auch in der griechischen Philosophie, die im vorliegenden Band mit mehreren Beiträgen vertreten ist (A. Schmid, A. Schmitt, D. Frede, J. Halfwassen), der Philosophie der Neuzeit und der Ge­-genwart (D. Sturma, L. Hühn, I. Schüßler, G. Figal, E. Angehrn, T. Wesche), der Kunstgeschichte (G. Boehm) und der Psychoanalyse (J. Küchenhoff) spielen das Ursprungsdenken und die Ursprungskritik eine prominente Rolle. Der Band, der auf Vorträge anlässlich des 10. Colloquium Rauricum vom 24. bis 27.08.2005 in Augst bei Basel zurückgeht, enthält nach einer knappen Einleitung des Herausgebers (1 f.) folgende Beiträge:
C. Wilcke, Vom altorientalischen Blick zurück auf die Anfänge (3–59); A. Schmid, Der Himmel als Präsenz des Ursprungs. Intentionen antiker Physiko-Theologie (61–83); M. Stöckler, Urknall und Ordnung des Chaos. Philosophische Anmerkungen zum Anfang der Welt in der gegenwärtigen Kosmologie (85–107); A. Schmitt, Parmenides und der Ursprung der Philosophie (109–139); D. Frede, Die Suche nach den Prinzipien – von Platon zu Aristoteles (141–164); J. Halfwassen, Der absolute Ursprung bei Plotin (165–186); D. Sturma, Rousseau über Ursprung und Kontingenz der Kultur (187–202); L. Hühn, Die anamnetische Historie des Anfangs. Ein Versuch zu Schelling und Kierkegaard (203–213); I. Schüßler, Der erste und der andere Anfang des Denkens gemäß Heideggers Beiträgen zur Philosophie (215–231); G. Figal, Über Möglichkeiten voraussetzungslosen und dennoch geschichtlichen Denkens (233–245); E. Angehrn, Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik (247–274); G. Boehm, Kein Anfang. Kein Ende. Der Mythos der Stunde Null (275–298); J. Küchenhoff, Ursprungskonzepte in der Psychoanalyse und ihre klinische Bedeutung (289–310); T. Wesche, Der Anfang als Prinzip und Ursprung – im Anschluss an Kant (311–319).
Während die Philosophie in grundsätzlicher Weise nach den ersten Ursachen und Prinzipien der Dinge fragt, richtet sich im Alten Orient, wie C. Wilcke ausführlich zeigt, »der Blick zurück auf die An­fänge« zwar auch auf das umfassende Ganze von Welt und Mensch, zugleich aber immer auch auf die partikularen Anfänge. Der Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen und Ursachen- forschung zu betreiben, zeigt sich in Mesopotamien seit frühester Zeit im Blick auf den Alltag (Rechtsbegründung, Erforschung von Gründen und Steuerung von Folgen), im Blick auf den Ursprung der Kultur sowie im Blick auf den Anfang, die Erschaffung von Welt und Mensch. Schade, dass ein ägyptologischer oder auch biblischer Beitrag fehlt, der das Spektrum um zentrale religions- und kulturwissenschaftliche Aspekte – die trotz des vielversprechenden Terminus »Kulturwissenschaft« im Untertitel leider zu kurz kommen !– erweitert hätte. Dafür hätte man ohne Not auf den einen oder anderen Beitrag aus der Philosophie verzichten können.
Es ist schon so, dass »die Frage nach dem Ursprung … nicht auf eine Frage zu reduzieren und nicht durch eine Antwort zu beantworten (ist)« (Angehrn, 2). Sie gehört zu den prinzipiell offenen Fragen, die die Wissenschaft/en nicht abschließend beantworten, die sie aber ebenso wenig erübrigen kann/können. Dies, wenn auch nicht umfassend, so doch paradigmatisch vor Augen zu führen, ist das Verdienst des angezeigten Bandes.