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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

86-88

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wiebel, Arnold [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rudolf Hermann, Aufsätze – Tagebücher – Briefe.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2009. 425 S. m. 1 Abb. gr.8° = Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie, 14. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-10205-8.

Rezensent:

Udo Kern

Arnold Wiebel ist ein produktiver »Nachlassverwalter« des Werkes von Rudolf Hermann. So hat er an dem 1992 von H. Assel edierten Briefwechsel zwischen R. Hermann und Jochen Klepper (1925–1942) mitgearbeitet. 1995 gab er eine unveröffentlichte Briefkorrespondenz zwischen Hermann und Iwand heraus. 1997 erschien der Band W.s zum Briefwechsel Hermanns mit dem Philosophen Hönigswald. Den Briefwechsel Hermann – Erich Seeberg aus den Jahren 1920–1945 veröffentlichte W. 2003. Hermanns Breslauer Antrittsvorlesung über Schleiermachers theologische Bedeutung (Mai 1919) publizierte er 2006. Eine dokumenten- und quellenreiche Hermann-Biographie von W. erschien 1998 in Bielefeld: »Rudolf Hermann (1887–1992). Biographische Skizzen zu seiner Lebensarbeit«.
Der 2009 im LIT-Verlag von W. herausgegebene Band »Rudolf Hermann, Aufsätze – Tagebücher –Briefe«, der nicht nur für den Hermann-Interessierten von Bedeutung ist, macht schlecht er­reichbare bzw. nicht zugängliche Publikationen R. Hermanns der Öffentlichkeit in gedruckter Buchform zugänglich (davor war das Buch, wie es im Vorwort heißt, »im Internet greifbar«). Dem knappen »Vorwort« mit einem Überblick des in diesem Band von Hermann Publizierten folgt in der »Einleitung« eine hilfreiche Charakterisierung der einzelnen Teile mit Begründung der Auswahl. Den Band beschließen tabellarische Lebensdaten Hermanns, Sach- und Personregister und eine »Bibliographie Arnold Wiebel«.
In diesem Band publiziert W. folgende Arbeiten Hermanns: 1.Aufsätze: Christus unsere Gerechtigkeit (1920), Die Sachlichkeit als ethischer Grundbegriff (1927), Kirche nach evangelischem Verständnis (Rez. 1948), 2. Vorträge und Predigten: Lessings Nathan der Weise und die Toleranzidee (1947), 100 Jahre Theologie (1959), eine Predigt aus den 20er Jahren über Hebr 11,6, eine Andacht über Hiob 28 (1925), 3. Hermanns wichtige Wissenschaftliche Tagebücher (1908–1940, die von 1908–1924 in Auszügen, vollständig die von 1924–1940), 4. Briefwechsel Hermanns mit J. Schniewind, Richard Hönigswald, P. Althaus, Frd. Baumgärtel, W. Dreß, Ch. Müller und Hans von Soden, 5. Erich Seebergs Artikel »Politik? Glaube!« (aus »Der Tag« vom 20.5.1934), auf den sich Hermann in einen Brief an Walter Dreß vom 1.6.1934 bezieht.
W.s verdienstvolle historisch-theologisch fokussierte Arbeit am Werk R. Hermanns trägt Früchte, die es dem heutigen Leser Hermannscher Schriften ermöglicht, theologiegeschichtlichen und theologisch-systematischen Ertrag im Gespräch mit Rudolf Hermann zu erhalten.
Weihnachten 1924 notiert der 37-jährige Rudolf Hermann (1887–1962) in seinem Wissenschaftlichen Tagebuch (zit. WT): »Der Glaube … ist Mut, den wir haben dürfen, weil wir alles, was wir vor Gott sein und werden sollen, durch ihn allein werden dürfen.« So geschieht »das Empfangen des eigenen Ich erst aus der Gemeinschaft mit dem göttlichen Du, das sich in Geschichte und Rede kundgegeben hat. Gerade darin, dass der unendliche Gott uns seiner Anrede würdigt, liegt das Höchste, was wir kennen.« (163) Das zu »realisieren« verlangt nach Hermanns Wissenschaftlichem Tagebuch, dass »der Christ immer wieder Gottes Wort … hören muss«, und dies dürfe nicht desavouiert werden als »Geistesknechtung, sondern entspricht … der Tatsache, dass er sich immer wieder vor Gott stellen muss«, denn das Stehen in »Gottes Gegenwart … macht den Christen aus« (213).
Theologisch bedeutsam ist, dass Hermann die Offenbarung Gottes in der Geschichte mit dem Schuldgedanken verbindet. Im August 1920 schreibt er (vgl. 151–154 [WT]): »Religion [ist] die Auffassung der Wirklichkeit als Geschichte« (152). Menschen werden wir durch die Geschichte. Durch die religiöse Geschichtsoffenbarung werden wir Personen. Durch unsere persönliche innere Geschichte werden wir als Reichs-Gottes-Individuen konkrete Personen. Gott offenbart sich in der konkreten Geschichte. »Die Geschichte ist die Sphäre der Schuld.« (152) Geschehene Vergehen kann der Mensch nicht gutmachen. Der Mensch, der sich der Schuld stellt, muss sich als geschichtliches Wesen begreifen. – Das Werk Christi ist ein Werk in der Geschichte. »Wir bleiben schuldig und ungerecht.« (153) Alles eigene Wiedergutmachenwollen des Menschen entwendet ihn der neuen Zeit Gottes. »Christus ist unsere Gerechtigkeit, wenn wir uns an die paradoxe Tatsache seines Bleibens in unserer Geschichte halten« (153) Christi Gerechtigkeit als uns aliene iustitia macht, dass wir als gerecht angesehen werden. Die Versöhnung mit Christus verankert Hermann inkarnatorisch: Sie ist »nicht erst mit dem Tod Jesu, sondern schon mit der Menschwerdung gegeben«, die als »Menschwerdung Geschichtswerdung ist« (154).
Auffallend oft thematisiert Hermann in seinem Wissenschaftlichen Tagebuch das Thema Sünde bzw. Sündenvergebung. Den Sündenbegriff darf man »nicht dem ›Kirchenvolk‹ erleichtern« (221) und seine Tiefe nicht nivellieren. Die Sünde ist Widerspruch des Willens des Menschen gegen Gottes Willen. Da die Sünde »kein kausal bedingter Vorgang« ist, kann sie nicht natürlich erklärt werden. Jedoch muss der Widerspruch der Sünde verständlich gemacht werden, indem er als »Grundelement der Erfahrung aufgewiesen wird« (168). Er ist auf unser je eigenes Leben bezogen, betrifft auch unsere Leiblichkeit, ist »eine Form unserer Lebensgestaltung« (169). »Allgemeine Sündhaftigkeit« des Menschen »darf getrost gepredigt werden« (186). Für den Menschen ist die Sünde »ein unvermeid­liches Verhängnis« (229). Sie kann nur durch das Kreuz Christi aufgehoben werden. »Für Karfreitagsgedanken ist das menschliche Herz immer wieder zu erwecken.« (187)
Hermann geißelt das »Verlernen« des Sündenbekenntnisses, welches »durch Stumpfsinn oder … Resignation« erkauft werde (157). Er will Sündenvergebung »als positives Prinzip sittlichen Lebens« verstehen (204). Sie ist »Quelle eines heiligen, den Menschen erneuernden Ehrgefühls« (204). Durch die Sündenvergebung geschieht 1. »Außergeltungssetzung der Vergangenheit«, ihm folgend 2. »Zusammenrücken des Anderen«, 3. »ein neues Leben« (205). Evangelische Lehre sei es, dass Vergebung der Schuld Änderung des Menschen und neues sittliches Leben ermöglicht (159). Vergebung bedeutet nicht Aufgabe unseres Lebenswerkes zugunsten momentanen frommen Lebensglücks, sondern dass »in der Gemeinschaft mit Gott unser Leben ein Ganzes« wird (160). »Gottes Vergebung« ist »Kraft zum sittlichen Handeln.« (191) Die Vergebung ist »das Entscheidende, das Imputative auch entscheidend für das Effektive 1) als Erledigung, die Entledigung und damit Beflügelung« gibt, »2) als Anhängigmachen, als Unruhe-Triebfeder, die Gemeinschaft mit Gott zu bewahren.« (192) Sündenvergebung ist nach Hermann »die wichtigste Angelegenheit des Lebens, die dem Leben eine Einheit gibt« (179). Hermann urgiert: Der »Christ hat die Sündenvergebung zum Mittelpunkt seines Lebens«, indem er »die innere Sicherheit seines Menschseins auf die Bedeutung der Sünde und die Bedeutung dessen, dass sie vergeben ist« gründet (179).
Diese exemplarischen Hinweise aus dem von W. veröffentlichten Hermann-Band mögen signalisieren, dass es sich lohnt, mit Hermann in einen kritischen affirmativen Diskurs zu treten, der auch heute theologisch-systematisch und theologiegeschichtlich produktiv sein kann. So ist W. für die Herausgabe des Bandes zu danken, eingedenk auch der enormen editorischen Bemühungen. Bedenkenswert ist aktuell zudem eine Sentenz Hermanns aus dem Jahre 1924: »Ein gut Teil in der Wirksamkeit eines Theologen wird sein unaufgedrängtes tatsächlich vorhandenes, zur Lebenshaltung gewordenes Christentum sein.« (157; 21.9.1924 [WT])