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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

84-86

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Weiß, Bardo

Titel/Untertitel:

Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie. 3 Teilbde.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2004. Teil 1: X, 660 S.; Teil 2: VII, S. 661–1608; Teil 3: VIII, S. 1609–2266. gr.8°. Je EUR 104,00. ISBN 978-3-506-71771-9 (Teil 1); 978-3-506-71327-8 (Teil 2); 978-3-506-71329-2 (Teil 3).

Rezensent:

Marie-Luise Ehrenschwendtner

Die Adressaten von Bardo Weiß’ »Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild« sind die Zeitgenossen heute und ihre Schwierigkeiten mit einem Gottesbild, das personale Züge trägt (1). Ausgangspunkt der Untersuchung des emeritierten Professors für Dogmatik an der Universität Mainz ist die Frage: »Stimmt es, daß zu jeder Art Mystik ein überpersonales oder apersonales Gottesbild gehört?« Das Ergebnis, zu dem W. nach einer 2248 Seiten umfassenden Untersuchung kommt, verwundert nicht: Religiöse Frauen des Mittelalters zweifelten die Personalität Gottes nicht an (2251), und jedes andere Ergebnis wäre ein unverzeihlicher Anachronismus. Für diese Frauen war Gott selbstverständlich ein Gegen­-über, ein Du, das ihnen in Liebe oder Ablehnung begegnet und nach dem sie sich sehnen, das aber letzlich unverfügbar bleibt. Inwieweit aber dieses Gottesbild dem Zeitgenossen hilfreich sein kann, leuchtet nicht ein – ohne Zweifel ist die christliche Tradition reich und vielfältig, aber kann »[d]as Wissen, daß unsere Frauen anders als heute mit dem genannten Problem umgegangen sind«, wirklich »die eigene Bemühung um Lösung entkrampfen«? Mehrere Jahrhunderte und ein verändertes historisches Bewusstsein lassen sich nicht ohne Weiteres überspringen.
In drei gewichtigen Bänden untersucht W. minutiös Texte, die mit 20 religiösen Frauen verbunden sind, aber nur in einer Minderheit von ihnen selbst aufgezeichnet wurden – inwieweit die Seelsorger und Sekretäre ihre eigene Bildung einfließen ließen, wird nicht angesprochen. W. beginnt mit Hildegard von Bingen (deren Status als »Mystikerin« sich mit guten Gründen bezweifeln lässt, und das Gleiche gilt für Elisabeth von Schönau) und endet mit der Wiener Begine Agnes Blanbekin. Die untersuchten Frauen kommen aus verschiedenen religiösen Richtungen: Beginen, Reklusen, Benediktinerinnen und Zisterzienserinnen treten auf; geographisch sind die meisten den heutigen Niederlanden und dem heutigen Belgien zuzuordnen. Die Gruppe von Mystikerinnen, die W. völlig übergeht, sind die Schwestern des Dominikanerordens, deren Schwesternbücher im 13. Jh. ihren Anfang nahmen und deren religiöse Lebenswelt nicht so verschieden von der ihrer weiter östlich oder nördlich lebenden Zeitgenossinnen war, wie W. anzunehmen scheint (3). Dabei übersieht er auch, dass zum Beispiel Mechthild von Magdeburgs Seelsorger Do­minikaner war und Agnes Blanbekin mit den Wiener Franziskanern assoziiert wird. Er scheut sich auch nicht, den Franziskaner David von Augsburg einzubeziehen – was also spricht gegen Heinrich Seuse oder Johannes Tauler?
Bei näherem Hinsehen wird so die methodische Abgrenzung einer Gruppe von Mystikerinnen, die – anders als ihre späteren Ge­schlechtsgenossinnen, so die Annahme – durch ihre Beichtväter ausschließlich einer Mönchstheologie im Sinne Jean Leclercqs ausgesetzt waren, zur historischen Fiktion. Ein zusätzliches Problem ist, dass W. seine Untersuchungsobjekte quasi in einem historischen Vakuum seziert. Er betrachtet nicht die instutionellen Voraussetzungen und Besonderheiten, den jeweiligen spirituellen Hintergrund und auch nicht den speziellen intellektuellen Kontext; Fragen der Volkssprachlichkeit oder der Lateinkenntnisse werden nicht thematisiert; wie die Bibliotheken der Frauen bestückt waren, ob ihnen überhaupt Bibliotheken zur Verfügung standen, ja, ob sie überhaupt des Lesens kundig waren, bleibt offen. Die Annahme, dass die Texte der Mystikerinnen als »eine Art ›teamwork‹, ein Gemeinschaftswerk« entstanden sind, an dem Beichtväter, geistliche Berater, Mitschwestern und Gleichgesinnte beteiligt waren (8), ist zwar zutreffend, reicht aber als Bestimmung des Kontextes nicht aus. So wird die Frage nach dem Gottesbild der deutschen Mystikerinnen »auf dem Hintergrund der Mönchstheologie« anachronistisch, denn W. findet zwar zuhauf Ähnlichkeiten in Motiven und Begriffen, aber sein erkenntnisleitendes Interesse ist allein das Vorkommen eines Begriffs ohne Rücksicht auf den Kontext.
So werden die drei Bände zu einem Katalog von Motiven, von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, dessen Ordnungsprinzip thematische Ähnlichkeit ist. Ein Blick auf Kapitel 3.3.1 »Bilder für das Licht: Die Sonne« mag als Beispiel dienen (322–333). W. beginnt mit der Verwendung der Sonnenmetapher bei Johannes von Fécamp, Bernhard von Clairvaux, Aelred von Rielvaux, Guerricus von Igny, Johannes von Ford, Hugo und Richard von St. Viktor und schreitet dann fort zu Hildegard von Bingen, dem Trudperter Hohelied, Marie von Oignies, Lutgart von Tongeren, Ida von Löwen und weiteren mittelalterlichen Autorinnen und Autoren. In der Zusammenfassung erfahren wir, dass Gott »[m]it der Heiligen Schrift … als Licht bezeichnet« wird (340) – welchen Erkenntniswert hat diese ohnehin zu erwartende Beobachtung? Auf welchen Wegen wanderten diese Motive, wie erreichten sie Männer und Frauen, die geographisch und zeitlich weit voneinander getrennt waren und deren Werke oftmals in nur wenigen Exemplaren zugänglich waren?
Das unbestreitbare Verdienst von W. ist, dass er im Rahmen seiner Vorgaben einen nahezu vollständigen Motivkatalog erstellt hat und diese Fülle von Bildern und Prädikaten für Gott geordnet und dem Leser zugänglich gemacht hat; der erste Band vereinigt Bilder, die den unerkennbaren, unverfügbaren Gott, die Majestät und den Schöpfer beschreiben; der zweite Band behandelt Gottes Allmacht, seine Weisheit und gütige Zuwendung zum Menschen nach den auf Gott angewandten Kernbegriffen; im dritten Band wendet sich W. der Wahrnehmung Gottes als streng und gerecht, als Liebender und Geliebter zu. Die Untersuchung schließt mit »Weitere[n] Bilder[n] und Metaphern für Gott«, Metaphern aus der Natur und dem menschlichen Bereich, die mittelalterliche Autoren einsetzten, um Gottes Aktivitäten und fürsorgliches Handeln zu beschreiben. Gerade hier wird besonders deutlich, dass vielen der Motiv­ähnlichkeiten und -wanderungen weniger ein intensiver Austausch von theologischer und spiritueller Terminologie zugrunde liegt als vielmehr der intensive Umgang aller dieser Autoren, ob männlich oder weiblich, mit der Bibel, mit der Bilderwelt des Alten und Neuen Testamentes, die die religiösen Frauen (und Männer) tagein, tagaus in Lektüre, Liturgie, Privat- und Gemeinschaftsgebet hörten, meditierten, sangen, studierten und so verinnerlichten.
W. bleibt so das Verdienst, der Forschung eine kaum zu überbietende Kompilation von Motiven zum Gottesbild der deutschen Mystikerinnen (und ihrer zeitgenössischen Theologen) zusam­mengestellt zu haben; ein Register würde es dem Leser erleichtern, mit der Materialfülle umzugehen. Die Bibliographie zur Sekundärliteratur ist rudimentär (2264–2266), aber das war wohl eine Vorentscheidung W.s (11).