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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

81-84

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902). Hrsg. v. Ch. Albrecht in Zusammenarbeit m. B. Biester, L. Emersleben u. D. Schmid.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XXI, 1093 S. u. 4 Tfn. gr.8° = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 1. Lw. EUR 259,00. ISBN 978-3-11-020923-5.

Rezensent:

Hermann Fischer

Nach dem Erscheinen von bisher acht – mit Untergliederung sogar neun – Bänden der Troeltsch-KGA legt Ch. Albrecht zusammen mit seinen Mitarbeitern nun Band 1 der Gesamtedition vor. Hier kommen die Publikationen Troeltschs von seinen Anfängen 1888 bis 1902, also bis weit in seine Zeit als Heidelberger Ordinarius, zum Abdruck. Allerdings gilt das nur mit Einschränkungen, sofern nach den Editionsprinzipien der Troeltsch-KGA die Rezensionen und Kritiken sowie die in diese Zeit fallenden Artikel für Lexika und Enzyklopädien anderen Bänden der Troeltsch-KGA zugewiesen sind. Die ebenfalls diesem Zeitraum zugehörigen Abhandlungen, die T. in den II. Band seiner »Gesammelten Schriften« aufgenommen hat, werden in KGA 10 erscheinen.
Die Bedeutung des vorliegenden Bandes besteht u. a. darin, dass nach der Eröffnung mit einer kleinen, wenig bekannten, für den jungen T. aber sehr aufschlussreichen Studie »Von der Münche- ner Kunstausstellung« (1888) und den »Thesen zur Erlangung der theo­logischen Lizentiatenwürde« (1891) die 1891 veröffentlichte und seitdem nicht mehr publizierte Dissertation »Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon«, der zugleich die Würde einer Habilitationsschrift zuerkannt wurde, wieder greifbar ist (81–338), jetzt mit handschriftlichen Marginalien und Zusätzen T.s kritisch ediert. Diese Monographie nimmt in T.s Werk insofern eine – auch durch die damalige Göttinger Promotions- und Habilitationsordnung veranlasste – Sonderstellung ein, als T. sich später für die Analyse eines zentralen Themas der Dogmatik nie wieder in dieser extensiven Weise auf theologiegeschichtliche Detailarbeit eingelassen und mit der Umkehrung der historischen Reihenfolge das Verständnis historischer Prozesse originell bereichert hat. Selbst wenn T. sich in dieser Untersuchung mit Johann Gerhard und Melanchthon einer vergangenen, wenngleich sehr prominenten Ausprägung protestantischer Theologie zuwendet, nimmt er mit der Klärung der prinzipientheoretischen Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung eine Aufgabe in Angriff, die der Theologie als Problem ihres Verhältnisses zur Wissenschaft auch unter den Bedingungen des neuzeitlichen Bewusstseins gestellt bleibt. Schon die protestantische Schulorthodoxie war nach seinem Urteil in hohem Maße an den zwischen Theologie und Wissenschaft bestehenden »Fugen und Nähten« interessiert. Ihr ging es nicht lediglich um das »Ideal der blossen Fixirung des Glaubensinhaltes oder des kirchlichen Bewusstseins«, sie entsprang vielmehr »dem apologetischen Bedürfnis einer Auseinandersetzung zwischen den positiven Religionsvorstellungen und dem übrigen Wissen eines Culturvolkes« (85). Diese Aufgabe aber bleibt, und die übrigen Beiträge des Bandes widmen sich denn auch auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Schwerpunkten gerade solcher Klärung des Verhältnisses von Theologie und Wissenschaft.
Es bleibt etwas verwunderlich und vielleicht nur durch den Umfang erklärlich, dass T. seine gewichtige Abhandlung »Die Selbständigkeit der Religion« von 1895/96 (364–535), die mit dem Aufsatz »Geschichte und Metaphysik« von 1898 (617–682) – als Antwort auf die Kritik seines Lehrers Julius Kaftan – eine weitere Ausführung und Präzisierung erfährt, nicht später in einen Band sei­ner »Gesammelten Schriften« aufgenommen hat. In beiden Pub­likationen, mit 172 u. 66 Seiten schon so etwas wie eine Mo­nographie, erörtert T. grundlegende religionsgeschichtliche und religions­philosophische Probleme und skizziert Positionen, die später wei­terentwickelt werden. An der These, »daß die Religion ein im Zentrum selbständiges, aus eigener Kraft sich entwickelndes und ge­staltendes Lebensgebiet sei« (364; vgl. auch 371), hat er zeit seines Lebens festgehalten, selbst wenn ihn die religionsphi­losophischen Debatten später zu modifizierten Begründungen genötigt haben. Auch in methodischer Hinsicht wird die folgenreiche Unterscheidung zwischen historischem und dogmatischem Ansatz vorbereitet. »Der Historismus selbst läßt sich nicht wieder abschütteln und der Supranaturalismus nicht wieder zurückrufen« (682; vgl auch 621).
In weiteren, heute nur noch schwer zugänglichen Abhandlungen erörtert T. den durch das neuzeitliche Bewusstsein erzwungenen Wandel der Theologie als Wissenschaft. Da die Notwendigkeit zu solchen Veränderungen ihre Ursache in spezifischen geschichtlichen Entwicklungsprozessen hat, werden sie von T. – zum Teil weiträumig – ausgeleuchtet. In dem Aufsatz »Die wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theologie« (805–840) geht T. dabei bis auf das Urchristentum zurück und umreißt in diesem Zusammenhang Grundlinien eines Verständnisses von Wissenschaft und Theologie, von Vernunft und Offenbarung und von lex naturae und lex Christi, die später in das erste große Kapitel seiner »Soziallehren« eingegangen sind. Die einschneidenden Veränderungen im Verhältnis der Theologie zur Wissenschaft vollziehen sich aber erst mit der beginnenden Neuzeit, und in der Analyse dieses Zeitraums ergeben sich in den Publikationen manche Überschneidungen, so etwa in den Studien »Die historischen Grundlagen der Theologie unseres Jahrhunderts« (539–560) oder »Theologie und Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts« (898–923). In großen Zügen werden die produktiven Möglichkeiten, die sich aus diesem Wandel für die Theologie ergeben, diskutiert. Es kommen aber auch die enormen Probleme und Schwierigkeiten zur Sprache, manchmal mit Einschluss resignativer Töne. So kann etwa schon 1895 als Quintessenz eines durch unterschiedliche Faktoren be­dingten Umformungsprozesses festgehalten werden: »Wir müs-sen uns darein ergeben, die Schmerzen einer unvermeidlichen Krisis zu tragen« (560). In »Zur theologischen Lage« (685–704) be­gründet T. seine kritische Distanz gegenüber der Theologie seines Lehrers Albrecht Ritschl und meint, dass sich »die Absperrungsmaßregeln der Ritschlschen Schule« gegen die aus der modernen kritischen Historie ebenso wie die aus der modernen Philosophie und Naturwissenschaft entspringenden Probleme nicht werden halten lassen. Nach seinem Urteil läuft die Entwicklung darauf zu, »daß die Dogmatik nicht in fortschreitender Erneuerung, sondern in fortschreitender Zersetzung begriffen ist«. Wohl bleibt ein ge­wisses Maß von Dogmatik für die Kirche als Institution unentbehrlich, aber die Religion selbst kann auch ohne Dogmatik leben (704). In den Kontext von Überlegungen zur Neugestaltung der Theologie gehören auch die Gedächtnisrede für Richard Rothe (722–752) und die für »Die christliche Welt« geschriebene Skizze über Rothe (706–712), weil T. der theologiegeschichtlichen und systematischen Konzeption Rothes wichtige Anregungen verdankt, etwa für das Verständnis des protestantischen Subjektivismus (735), für die Unterscheidung von Alt- und Neu­protestantismus (741), für die Entfaltung der dogmatischen Theologie als Ethik (742) bzw. für das »Programm einer völlig undogmatischen und untheologischen Theologie« (748).
Mehr theologiegeschichtlich ausgerichtet ist die umfängliche Abhandlung »Leibniz und die Anfänge des Pietismus« (854–894). Obwohl es sich um gegensätzliche geistige Gebilde handelt, entdeckt T. doch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Leibniz und dem Pietismus (879). Seine Sympathien für die Philosophie von Leibniz, diese »grandiose logische Dichtung« (874), halten sich bis in die Spätzeit durch, und im Blick auf den Pietismus hat T. immer wieder dessen Bedeutung für die Erneuerung der Frömmigkeit hervorgehoben, wenngleich dessen Drängen auf Gemeinschaftsbildung Tendenzen zu »einer supranaturalen und das heißt konservativen Religionsbetrachtung« beförderte (910). Zwei kurze Texte erinnern aus konkretem Anlass an Melanchthon (»Das Werk Melanchthons« [599–601], »Der 400jährige Geburtstag Melanchthons« [605–608]), ein Nachruf ist dem Neutestamentler Karl Holsten gewidmet (611 f.)
In mehreren Beiträgen führt T. eine scharfe Klinge gegen Positionen des Atheismus und des Materialismus (»Zur Abwehr und Berichtigung gegen den Verfasser der ›Religiösen Liquidation‹« [563–574], »Moderner Halbmaterialismus« [577–596]). Ernst Haeckel als Philosoph hat in dem gleichnamig betitelten Aufsatz (769–800) keine Chance. Die Auseinandersetzung mit dessen damals viel gelesenem Buch »Die Welträthsel« (1899) ist ein temperamentvoller Verriss. Das Werk wimmelt von »grotesken Abenteuerlichkeiten« (774), der von Haeckel propagierte Monismus ist lediglich »eine platte Erneuerung des gewöhnlichsten Materialismus« (781). – Der Vollständigkeit halber seien noch die beiden kleinen Texte »Sudermanns Heimat« (341–357) und »Erinnerung an Siebenbürgen« (756–765) erwähnt.
In einer »Einleitung« (1–38) skizziert Ch. Albrecht umsichtig und kenntnisreich die theologiegeschichtlichen wie werkgeschichtlichen Zusammenhänge der frühen Schriften T.s und macht deren Profil sichtbar. Dabei wird besonders die Debatte um die Methodenfragen ins Bewusstsein gerückt. T. geht es in diesen Studien wie überhaupt in seinem Lebenswerk um die Anschluss­-fähigkeit der Theologie an die Frage- und Problemstellungen in den anderen Wissenschaften und in eins damit um die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt. Diese Aufgabe stellt sich heute unter verschärften Bedingungen, aber die Grundzüge der Auseinandersetzung und die Gründe für deren Notwendigkeit hat T. in luziden Analysen ausgearbeitet. Das macht deren Lektüre auch noch nach über 100 Jahren lesenswert, spannend und anregend, jetzt zudem erleichtert durch die vorzüglichen Biogramme, Verzeichnisse und Register, die dem reichhaltigen Band – wie schon seinen Vorgängern – mit auf den Weg gegeben sind. Für einen erneut mustergültig edierten Band der Troeltsch-KGA ist dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern zu danken.