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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

79-81

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Andreae, Johann Valentin

Titel/Untertitel:

Schriften zur christlichen Reform. Bearb., übers. u. kommentiert v. F. Böhling.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2010. 404 S. m. Abb. kl.8° = Gesammelte Schriften, 6. Lw. EUR 182,00. ISBN 978-3-7728-1432-7.

Rezensent:

Martin Brecht

Die Edition präsentiert mit diesem Band unter einem etwas un­scharfen Titel einen gewichtigen Komplex von Andreaes Schriften, die bisher so gesammelt nicht verfügbar waren. Es handelt sich um jene Gesellschaftsprojekte, die ihr Autor nach dem Erscheinen der Rosenkreuzer-Manifeste 1614 ff. nach und nach vorlegte. Nach der Auffassung des Herausgebers waren diese Projekte die Reaktion A.s auf den überraschenden publizistischen Wirbel, den die von ihm verleugneten Rosenkreuzer-Manifeste ausgelöst hatten. Da A. de­ren Veröffentlichung nicht gewollt hatte, wird man jedoch noch eine etwas andere Zielbestimmung in Betracht ziehen müssen: Hier wird die bereits entwickelte Alternative zu den einstigen Bruderschaftsplänen geboten, für die sich A. inzwischen entschieden hatte. Sie bewegte sich in der Nachbarschaft zu Johann Arndts Idealvorstellungen vom wahren Christentum. Schon zwischen dem jungen A. und Arndt hatte es wechselseitige Querverbindungen gegeben. In der Tat hat man die Sozietätsvorstellungen des reifen A. vor sich.
Zur Machart des Bandes insgesamt ist Folgendes zu sagen: Die Einleitung führt kundig in die abgedruckten Schriften ein. Auch wenn sich von den vorgestellten Plänen kaum etwas verwirklicht hat, hätte man das Gewicht des Schriftenensembles vielleicht noch stärker herausstellen können. Den fast durchweg lateinischen Originaltexten ist auch hier eine deutsche Übersetzung zur Seite gestellt, die eine zügige Wahrnehmung der Zusammenhänge erleichtert. Die Crux des Übersetzens zwischen detaillierter um­ständlicher Genauigkeit und flüssiger Sinndarbietung macht sich gerade bei A. stets bemerkbar. Die Wiedergabe geht nicht ohne Verluste an Nuancen ab, aber sie dürfte als Kompromiss hinnehmbar sein. Vom Herausgeber wird bereits darauf hingewiesen, wie stark die Sozietätspläne mit A.s sonstigen Schriften verwoben sind. Dies gilt nicht nur für die etwa gleichzeitige Utopie der Christianopolis, sondern auch für die meisten anderen Genera seiner Texte. So kehren die Metaphern im Beziehungssystem des Doppelromans Peregrinus und Civis wieder. Wo sich konkrete Einwirkungen oder Verbindungen zu anderen Gesellschaftsbildungen wie in England, Nordostdeutschland oder zu Comenius aufweisen lassen, ist das belegt und mit den einschlägigen Briefen im Anhang dokumentiert. Damit stellt sich heraus, dass A.s Vorhaben doch nicht so vage und substanzlos waren, wie es zunächst den Anschein haben mag. Die Kommentierung in den Anmerkungen verifiziert meistens ausreichend; gelegentlich bleiben auch Wünsche nach Erklärungen unbefriedigt oder wird eine Problematik nicht wahrgenommen. Aber hier wird man dem Herausgeber auch einen Spielraum zugestehen müssen.
Die Textgruppe umfasst insgesamt fünf sukzessiv entstandene Schriften. 1617 und 1618 sind die beiden Invitationes erschienen, wobei in beiden Fällen eine Einladung zur und nicht der Bruderschaft Christi gemeint gewesen sein dürfte, wie es der Titel der zweiten Schrift präzise ausdrückt. A. stellt sich die Menschen wesentlich als soziabel vor. Eigentlich stehen sie in der Gemeinschaft mit Gott oder mit Christus als Bruder. Das Lob dieser Ge­meinschaft, verbunden mit der Abweisung der irdischen Fehlbildungen, wird durchaus mit literarischem Schwung vorgetragen, auch wenn der Neulateiner sich mit erbaulicher Unmittelbarkeit immer schwergetan hat. Die zweite Invitatio bietet vor allem 24 Regeln zur Gestaltung und Bewältigung des christlichen Lebens. A. bedient sich damit einmal mehr einer seriellen Technik: Die Regeln sind freilich nicht besonders straff formuliert, sondern münden immer wieder auch in die Erörterung bestimmter Lebensumstände. Intendiert ist dabei ein gegenüber der Welt deutlich distanziertes christliches Leben.
Die Societatis Christianae Imago (1620) formuliert das Gemeinschaftsprojekt konkreter als bisher. Wieder ist die Vereinigung als gottgewollt verstanden. Beflissen wird zugleich versichert, dass vorgegebene Rechtsverhältnisse dadurch nicht tangiert würden. So beschränkt sie sich auch auf die reine lutherische Religion, ist aber sonst für jedermann offen. An der Spitze steht ein dafür qualifizierter deutscher Fürst mit einem Geheimen Rat aus zwölf Kollegen. Hervorgehoben sind die Ressorts für die Religion, Tugenden (mit Sittenzucht) und Gelehrsamkeit; ansonsten ist dasselbe Spektrum des Bildungssystems bis zur Geschichte, Naturwissenschaft und Philologie repräsentiert, das auch in der Christianopolis vorgeführt wird. Insgesamt soll so das Gemeinwesen ideal verwaltet werden. Die Geschäftsbeschreibung der einzelnen Ressorts benennt die damals akuten Reformanliegen. Am ausführlichsten wird der Sektor Wissenschaft behandelt. Der Herausgeber bringt mit der Christlichen Gesellschaft auch die damalige Entwicklung einer Armenfürsorge in Calw in Verbindung. Selbst wenn weitere Zu­sam­menhänge bestehen mögen, bildete die Gründung einer Gesellschaft in Calw doch einen Komplex für sich.
Ebenfalls 1620 ist Christiani Amoris Dextera porrecta (Die ausgestreckte Hand der christlichen Liebe) erschienen. Ausgegangen wird wiederum von der auf Christus ausgerichteten Sozialität des Menschen. Die in dieser Freundschaft mit Christus geltenden Regeln samt der Ablehnung welthaften Verhaltens werden expliziert. Die in der Organisationsbeschreibung der Imago zu kurz gekommene christliche Handlungsanweisung wird in dem Angebot der christlichen Liebe nachgeschoben.
Zur Zielgruppe der beiden Schriften gehörten nachweislich die lutherischen Adligen in Österreich. Vielleicht hat A. diese Schriften deshalb entgegen seiner sonstigen Übung unter Umgehung der Zensur bei dem Tübinger Buchhändler Eberhard Wild veröffentlicht. Er ist damit alsbald in das Häresieverfahren gegen Wild verwickelt worden. A. hatte jedoch nichts vorgebracht, was sich ihm zum Vorwurf machen ließ. Außer an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg ließ A. die beiden Schriften durch den geistesverwandten Joachim Morsius noch Jahre später im norddeutschen Raum und darüber hinaus verteilen. Der Herausgeber hat das zwar gleichfalls dokumentiert, aber die Reichweite dieser Aktivitäten nicht ganz erfasst, erstrecken sie sich doch zweifellos bereits gezielt bis hin zum Kanzler Gustav Adolfs von Schweden. Auf die Anregung A.s geht auch die Gründung der Gesellschaft Antilia durch den Rostocker Juristen Heinrich Hein zurück. Über Hein gelangten die Schriften an Samuel Hartlib aus Elbing, der dann die Sozietäts­pläne A.s nach England vermittelte.
Das Specimen Verae Unionis cum Christo (Erweis der wahren Vereinigung mit Christus) wurde erst 1642 gedruckt, ist aber schon 1628 im Zusammenhang von A.s Freundschaft mit Saubert und anderen Nürnbergern entstanden. Über konkrete Organisationsformen oder fassbare Zeitbezüge schweigt sich die Schrift aus. Herausgestellt werden das richtige Bekenntnis unter Ablehnung häretischer Gruppierungen (bis zu den Rosenkreuzern) sowie das konsequente christliche Leben. Nichtsdestoweniger richtet sich der dringliche Appell universal an alle christlichen Stände. Dokumentiert wird die positive Reaktion von Comenius. A. versagte sich dem Calvinisten jedoch mit fadenscheinigen Gründen.
Außer den einschlägigen Briefen sind als weiterer Anhang die in den Hartlib-Papers aufgefundenen Leges Societatis Christianae beigegeben, die aber höchst wahrscheinlich nicht von A. stammen. Insgesamt sind mit der Edition die eigentlichen Sozietätspläne A.s für die Forschung erschlossen und bewertbar. Abgesehen von der bedeutsamen Idee scheint davon kaum etwas geblieben zu sein. Man sollte dabei freilich das immense Geflecht seiner Korrespondenz nicht vergessen.