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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

77-79

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Müller, Tom

Titel/Untertitel:

»ut reiecto paschali errore veritati insistamus«. Nikolaus von Kues und seine Konzilsschrift De reparatione kalendarii.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2010. 368 S. gr.8° = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, 17. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-402-10456-9.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die Arbeit wurde im Rahmen eines interdisziplinären Promotionsprojektes verfasst und 2009 als philosophische Dissertation von der Universität Trier angenommen. Ausgangspunkt ist die Frage nach dem richtigen Ostertermin, denn so viel wusste man im ganzen Mittelalter, dass – bedingt auch durch die manifesten Fehler des sog. Julianischen Kalenders – Probleme bestanden. »Das intensive und fortwährende Interesse des Nikolaus von Kues an Fragen und Erkenntnissen der Astronomie im Allgemeinen wie auch der sich daraus ergebenden Teildisziplinen der Kosmologie oder eben der Chronologie und der Komputistik im Speziellen« (54) veranlassten ihn, sich im Rahmen seiner kirchenreformerischen Bemühungen mit dem Thema zu befassen – und das zum Lobe Gottes. Ja, er sah das Kalenderproblem als »heilsrelevant« an (234.283). Darum kritisiert M., dass in der bisherigen Cusanus-Forschung die Kalenderschrift, die er für eine Auftragsschrift des Basler Konzils und für »eine grundlegende Schrift zur Kirchenreform« hält, »in den Bereich der naturwissenschaftlich-mathematischen Schriften ›abgedrängt‹« worden sei, da sie in den Bereich der »Mathematikotheologie« (so Flasch) falle. Ganz im Gegenteil, so M., sei für Nikolaus das Kalenderproblem der offensichtlichste Punkt gewesen, »der auf die Notwendigkeit einer Kirchenreform hinwies« (256 f.). Er bemüht sich, »die ihm vorliegende Situation durch ihr historisches Zustandekommen in ihrer Verbesserungswürdigkeit zu positionieren« (220).
Damit wird M.s Anliegen sehr deutlich. Doch für diese Erkenntnisse hat er einen weiten Anmarschweg zurückgelegt. Insgesamt ist die Arbeit ziemlich weitschweifig. Im 1. Kapitel (13–85) befasst M. sich mit Nikolaus, mit seiner Biographie, seinem Schrifttum und mit der für die Kalenderschrift in irgendeinem Zusammenhang stehenden Forschung. Im Kapitel 2 geht es um »Kalender und Osterfestberechnung« (87–127), in Kapitel 3 werden die »Vorgänger des Cusanus in der Kalenderfrage« ziemlich ausführlich – nicht nur inhaltlich, sondern auch biographisch – vorgestellt (129–156). Erst in Kapitel 4 geht es um die »Geschichte der Reparatio kalendarii« (157–179), deren »Zentrale Aspekte« in Kapitel 5 behandelt werden (181–263). Schließlich werden in Kapitel 6 noch »Folgezeit und Rezeptionsgeschichte« (265–279) berücksichtigt. Eine Conclusio beschließt die Darstellung (281–283).
Im Anhang beigegeben ist eine Textedition der Kalenderschrift; sie stellt »eine bearbeitete Abschrift der Kueser Abschrift« (Codex Cusanus 219 der Bibliothek des St.-Nikolaus-Hospitals in Kues) dar (289–319). Hinzu kommt ein Abdruck des Textes der Papstbulle Gregors XIII. Inter gravissimas, mit welcher der Papst 1582 die Ka­lenderreform befahl (321–325), und das Prooemium der Explicatio des Christoph Clavius (327–329). Siglen- und Literaturverzeichnis folgen, ebenso ein Glossar zur Kalenderrechnung und ein Register.
Die Texteditionen sind sehr zu begrüßen, da noch immer keine kritische Edition im Rahmen der Heidelberger Opera omnia vorliegt, obwohl offiziell die Edition 2004 für abgeschlossen erklärt wurde. Die Originalfassung dürfte Nikolaus 1436 auf dem Basler Konzil verfasst haben. Die Handschrift C aus dem Codex Cusanus 219 dagegen stellt eine Überarbeitung dar, die Nikolaus im Rahmen der von ihm in dieser Zeit verfertigten Sammlung seiner Schriften wohl um 1462 vorgenommen und damit autorisiert hat. Das ist für M. ein Hinweis darauf, wie wichtig Nikolaus diese Schrift war, während die Cusanus-Forschung sie sträflich vernachlässigt habe. Dass diese Zusammenstellung »vielleicht unter dem Eindruck des neu erfundenen Buchdrucks« erfolgt sei (178), bleibt freilich reine Spekulation.
Ganz wichtig ist es M., die Bedeutung der Kalenderschrift als Teil der cusanischen Bemühungen um eine Kirchenreform darzustellen. Das war ja ein, nein, das Thema, das Nikolaus zeitlebens intensiv beschäftigt hat. Es sei erinnert an die drei Bände De concordantia catholica (1433) und an die Reformatio generalis (1459), aber ebenso an seine der Reform gewidmete Legationsreise im Auftrage des Papstes (1451/52) und an seine reformerischen Bemühungen als Bischof von Brixen bzw. als Generalvikar der römischen Kirche. Ebenso wichtig ist es M. hervorzuheben, dass Nikolaus auch mit der Kalenderschrift bemüht ist, »den Schöpfer auf dem Wege seiner Schöpfung erkennen zu wollen«, wobei dies aber hinsichtlich der mangelhaften Erkenntnisfähigkeit der menschlichen mens in Bezug auf die Dinge der Welt als nur auf konjekturalem Wege möglich erscheint (45).
Nikolaus ist überzeugt, sein verbesserter Kalender würde mehr als 1000 Jahre lang das richtige Osterdatum liefern (85), auch wenn er weiß, dass »ein vollkommen genauer Kalender wohl grundsätzlich nicht erreicht werden kann« (213). Nicht ganz einsichtig wird dem Leser, warum der genaue Termin von Ostern »heilsrelevant« sein soll. Sicher: Eine Nachfolge Christi besteht für den spätmittelalterlichen Christen mehr als für den heutigen in einer »imitatio vitae Christi im Jahreslauf« (258). Zu berücksichtigen ist, dass für die mittelalterlichen Theologen weniger Weihnachten als vielmehr der Tag der Ankündigung der Geburt Jesu (25. März) als Tag der Inkarnation und damit vielfach als Datum des Jahresanfangs galt (205 f.).
Wie angedeutet, stellt M. recht ausführlich – dem interdisziplinären Auftrag wohl geschuldet – die astronomisch-physikalischen Berechnungen im Zusammenhang mit der Kalenderfrage in der Antike und im Mittelalter dar. Ebenso widmet er seine Aufmerksamkeit seiner Tätigkeit beim Basler Konzil, während die Rezeptionsgeschichte (mit Recht wird neben Hermann Zoestius, Christoph Clavius und anderen vor allem Michael Stifel genannt) dann doch etwas kurz kommt und somit die Bedeutung der Kalenderschrift für die erst durch Gregor XIII. verfügte Kalenderreform zwar mehrfach angesprochen wird, aber in ihrer Bedeutung deutlicher hätte gewürdigt werden können (trotz 246: Der cusanische Vorschlag lebe zwar nicht numerisch-komputistisch, aber sehr wohl pragmatisch im heutigen Kalender fort). Eine Übersetzung der Kalenderschrift nach Codex C ins Deutsche wäre wünschenswert gewesen.
M. legt eine interessante Monographie zu einem bisher vernachlässigten Thema vor. Dafür sei ihm gedankt.