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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

73-74

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Johrendt, Jochen, u. Harald Müller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. X, 356 S. gr.8° = Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge, 2: Studien zu Papstgeschichte und Papsturkunden. Lw. EUR 58,00. ISBN 978-3-11-020223-6.

Rezensent:

Heinrich Holze

Der anzuzeigende Band eröffnet die neue Reihe der Göttinger Akademie der Wissenschaften »Studien zu Papstgeschichte und Papst­urkunden«. Er dokumentiert die Referate eines Studientages, der im Januar 2006 im Deutschen Historischen Institut in Rom durchgeführt wurde. Thema der Beiträge ist der Aufstieg der römischen Bischöfe des Hochmittelalters zu Päpsten, die der lateinischen Kirche nicht nur im Anspruch, sondern auch in der Praxis lenkend vorstanden und damit aus der stadtrömischen Beschränkung in eine universale Führungsposition rückten. Einleitend beschreiben die Herausgeber Jochen Johrendt und Harald Müller die Fragen, die sich hinsichtlich der Durchdringung und Zentralisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter stellen. Sie verweisen auf die päpstliche Programmatik, wie sie etwa im Dictatus papae formuliert wird, fragen nach dem Erfolg oder dem Scheitern dieser Tendenzen und nehmen von hier aus das Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie in den Blick.
Das erste Kapitel richtet den Blick auf das »Römische Zentrum«, wobei weniger die theoretischen Positionen des Papsttums als vielmehr die Mittel, mit denen das Zentrum die Peripherien einzubinden suchte, behandelt werden. Lotte Kéry analysiert die Prozesse der Sammlung und Deutung des päpstlichen Dekretalenrechts und seine Durchsetzung in Zentren wie Rouen und Bologna. Thomas Wetzstein beschreibt die damit gegebenen Austausch- und Transferprozesse als neue Kommunikationsräume des europäischen Hochmittelalters, in denen sich die Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie auflösten. Claudia Zey widmet sich den päpstlichen Legaten als Multiplikatoren päpstlicher Autorität, denen für die Aufrechterhaltung päpstlicher Obödienzen und Netzwerke in Zeiten von Schismen wesentliche Bedeutung zukam. Harald Müller behandelt das Wirken der delegierten Richter, in denen sich der wachsende Einfluss päpstlicher Autorität und die Durchsetzung römischer Rechtsnormen im hohen Mittelalter zeigten.
Das zweite Kapitel wendet die Aufmerksamkeit der »kirchlichen Peripherie« zu. Ingo Fleisch richtet den Blick auf die Iberische Halbinsel und beschreibt das Wirken der päpstlichen Legationen und Gesandtschaften im 12. Jh. Przemysław Nowak zeigt, dass Polen in der päpstlichen Kirchenpolitik des 12. Jh.s weitgehend am Rande stand, auch im alexandrinischen Schisma nicht umkämpft war und nur bei kirchenorganisatorischen Fragen und bei Bischofsabsetzungen von sich reden machte. Nocolangelo d’Acunto lenkt den Blick auf die traditionsreiche Mailänder Kirchenprovinz und zeigt an ihr die erheblichen Widerstände auf, denen die zentralisierenden Tendenzen päpstlicher Kirchenpolitik in der Lombardei begegneten. Jochen Johrendt analysiert die Verhältnisse in der Provinz Kalabrien, wo das Nebeneinander griechisch-byzantinischer, arabisch-muslimischer und normannischer Traditionen dem päpstlichen Streben nach römischer Zentralisierung deutliche Grenzen aufzeigte. Deutlich anders waren die Verhältnisse im Erzbistum Salzburg, wo sich, wie Rainer Murauer in seiner Darstellung der geistlichen Gerichtsbarkeit aufzeigt, die Rezeption des päpstlichen Rechts schon frühzeitig behauptete. Auch im Erzbistum Köln setzten sich, wie Stefan Weiss in seinem Beitrag nachweist, römische Gebräuche durch, doch gab es auch gegenläufige Tendenzen, die sich aus der einflussreichen Stellung des Erzbischofs innerhalb des Reichs erklären. Im Unterschied dazu erweist sich Frankreich als eine kirchliche Region, die den universalen Tendenzen des Papsttums am weitesten entgegen kam. Rolf Grosse dokumentiert in seinem Beitrag die engen kanonischen, rechtlichen und personellen Beziehungen zwischen der Kurie und Frankreich, die mit Blick auf diese Region im 12. und 13. Jh. eine Unterscheidung zwischen rö­mischem Zentrum und kirchlicher Peripherie gegenstandslos werden lassen.
In seinem abschließenden Beitrag fasst Klaus Herbers, dem die neue Reihe der Göttinger Akademie ihre Entstehung verdankt, die Ergebnisse des Studientages zusammen und benennt Aspekte der Weiterarbeit. Dazu gehört der Gedanke, dass es sich in dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie nicht um einlinige Prozesse handelt, sondern um wechselseitige Vorgänge, die beide Seiten prägten und veränderten. Voraussetzung ist jedoch nach Herbers die Überwindung eines räumlichen Verständnisses von Zentrum und Peripherie wie auch dessen Prägung durch heutige geographische Vorstellungen. Sein Hinweis, dass der Prozess der Vereinheitlichung weitaus differenzierter als bislang vermutet verlaufen ist, macht deutlich, dass nicht nur Legaten und kanonisches Recht, sondern auch rituelles und symbolisches Handeln eine wesentliche Rolle gespielt haben. Schließlich weist Herbers darauf hin, dass es auch gegenläufige Tendenzen gegeben habe, die als Desintegrationsprozesse bezeichnet werden können, in denen sich kulturelle Konflikte zeigten.
Der Tagungsband wird durch zwei Register zu Orts- und Personennamen, die Querverbindungen zwischen den Beiträgen ermöglichen, abgerundet. Der Band bietet insgesamt gewichtige Beiträge zu einem zentralen Thema der abendländischen Kirchengeschichte. Freilich wäre eine disziplinäre Ausweitung der Perspektiven sinnvoll gewesen. Dass dieses kirchengeschichtlich bedeutsame Thema ohne Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirchengeschichte, die zweifellos eigene Akzente gesetzt hätten, verhandelt wurde, ist schade und zeigt, dass in interdisziplinärer Hinsicht noch einiges zu leisten ist.