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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

72-73

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hopf, Margarethe

Titel/Untertitel:

Der Weg zur christlichen Vollkommenheit. Eine Studie zu Walter Hilton auf dem Hintergrund der romanischen Mystik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. XI, 256 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 95. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-525-55219-3.

Rezensent:

Reinhold Rieger

Walter Hilton († 1395) war, wie die Vfn. darlegt, einer der meistgelesenen englischen Autoren des Spätmittelalters, dessen Hauptwerk, The Scale of Perfection, in lateinischer Übersetzung auch auf dem Kontinent geschätzt wurde. Sowohl Theologen als auch Laien, Frauen und Männer, Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft lasen bis ins 20. Jh. dieses zur Mystik gerechnete Werk, das den Weg zur christlichen Vollkommenheit aufweisen wollte. Im 20. Jh. kam auch ein wissenschaftliches Interesse an Hilton und der englischen Mystik auf. Die Vfn. bespricht in ihrer Einleitung die Forschungsgeschichte, die Hilton im Rahmen des Kreises der »mittelenglischen Mystiker« betrachtet, und verteidigt dabei den Begriff der Mystik in seiner Anwendung auf diesen Kreis. Sie rechnet Hilton zur romanischen Mystik, die sich an Bernhard von Clairvaux orientiere und durch eine nicht spekulative, affektive Willensmystik gekennzeichnet sei. Hilton sei aber nicht nur Mystiker, sondern auch Seelsorger gewesen.
Im ersten Teil der Untersuchung rekonstruiert die Vfn. den Le­bensweg Hiltons, der in Cambridge um 1365–1370 Rechtswissenschaften studierte. Anschließend war er eine Zeitlang Eremit, bevor er um 1386 in Thurgarton Augustiner-Chorherr wurde. Außer dem erwähnten mittelenglischen Werk hat Hilton lateinische Schriften meist in Briefform zur Sündenlehre, zur Bilderverehrung, zum Ordensleben, zu geistlichen Übungen verfasst. Unter den englischen Schriften Hiltons ist vor allem Mixed Life populär geworden, das die aus Aktion und Kontemplation gemischte Lebensform als Ideal beschreibt. Außerdem gibt es Kommentare zu Psalmen und zum Benedictus. Der historische Kontext der Arbeit Hiltons spielt in seinen Schriften keine Rolle: Weder das Große Abendländische Schisma noch nationalkirchliche Tendenzen in England finden Resonanz. Von den englischen Reformtheologen Ockham und Wiclif unterscheidet sich Hilton dadurch, dass er sich auf das Heil des Einzelnen konzentriert. Er untergräbt die Autorität der Kirche nicht. – Theologisch schätzt die Vfn. Hilton als konservativ ein, er habe sich nicht an den modernen Debatten beteiligt, sondern auf der Spur des Augustinismus eine zisterziensische Mystik, also eine monastische Theologie gepflegt.
Im zweiten Teil geht die Vfn. auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund Hiltons ein und stellt die Autoren vor, die sich »als in besonderer Weise prägend für Hilton erwiesen haben« (102). Dies weist sie aber in diesem Teil ihrer Arbeit nicht nach. Sie behandelt die Auffassungen Augustins, Bernhards von Clairvaux, Wilhelms von St. Thiery, Aelreds von Rievaulx, Richards von St. Viktor und Bonaventuras im Hinblick auf die Kernthemen Hiltons, die Gottebenbildlichkeit und Gottesliebe. Es wäre vielleicht gut gewesen, die traditionsgeschichtliche Analyse in den dritten Teil zu integrieren, wo diese Themen bei Hilton interpretiert und wo die Bezüge zu den anderen Theologen angesprochen werden. Beim gewählten Verfahren bleibt der traditionsgeschichtliche Teil isoliert und erst nach der Lektüre des dritten Teils zu Hiltons Theologie wird klar, warum bei den besprochenen Autoren diese Themen in den Mittelpunkt gestellt werden. Warum Aelred in die Traditionsgeschichte aufgenommen wurde, obwohl doch die Vfn. zum Ergebnis kommt, es sei »unwahrscheinlich, dass Hilton von Aelred beeinflusst ist« (181), ist fraglich.
Im dritten Teil, der die Theologie Hiltons behandelt, arbeitet die Vfn. den »Leitgedanken« Hiltons heraus, die christliche Vollkommenheit durch die vollkommene Gottes- und Nächstenliebe zu suchen. Dieser Weg zur Wiederherstellung der verlorenen Gott­ebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit werde durch Christi Tod eröffnet und führe über Glaube und Erfahrung zu einer willensmäßigen Vereinigung mit Gott. Voraussetzung sei die Demut, die die eigene Nichtigkeit anerkenne und sich ganz auf die Gnade Gottes verlasse. Die beste Methode, die christliche Vollkommenheit zu erreichen, sei das regulierte Ordensleben, das den drei evangelischen Räten als Mittel zur Gottesliebe folge.
In einem vierten Teil ordnet die Vfn. das Werk Hiltons in den Zusammenhang der mittelenglischen Mystik des 14. und 15. Jh.s ein und vergleicht es mit den Werken Richard Rolles, des anonymen Autors der Wolke des Nichtwissens, Margary Kempes und besonders Julianas von Norwich. Deren Werk Revelations stammt aus derselben Zeit wie Hiltons Scale of Perfection. Dadurch wird der Stellenwert Hiltons in diesem Kreis deutlich. Ein Hauptunterschied besteht darin, dass Juliana eigene mystische Erfahrungen beschreibt, während Hilton die mystische Betrachtung von außen darstellt. Gemeinsam ist allen das Thema der Liebe zu Gott und den Nächsten als Ziel des christlichen Weges.
Mit ihrer Studie zu Walter Hilton hat die Vfn. einen für die spätmittelalterliche Frömmigkeit repräsentativen Autor erschlossen, der besonders durch seine volkssprachlichen Werke breite Wirkung erzielte.