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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

69-71

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Douteil, Herbert

Titel/Untertitel:

Die Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld. Edition des Codex Campililiensis 151 (um 1355). Hrsg. v. R. Suntrup, A. Angenendt u. V. Honemann. 2 Bde.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2010. Bd. 1: Einführungen, Text und Übersetzung. XL, 557 S. 4°. Bd. 2: Verzeichnisse, Quellenapparat, Register, Farbtafeln der Bildseiten der Handschrift. VI, 695 S. 4°. Geb. EUR 159,00. ISBN 978-3-402-12805-3.

Rezensent:

Johannes Schilling

Was die Protestanten sich nicht mitunter entgehen lassen! In RGG4 findet man weder unter den Lemmata noch im Register Autor und Werk dieses Buches – einer wahrhaften Wunderkammer der Auslegungsgeschichte. Freilich steht solche Art der Schriftauslegung seit einem halben Jahrtausend unter dem Verdikt des Reformators: Nach dem Paradigmenwechsel der reformatorischen Schriftauslegung waren derlei Künste obsolet geworden. In einer Tischrede von 1540 wird Luther wie folgt zitiert: »diß ist mein letzte vnd beste kunst: Tradere scripturam simplici sensu, denn literalis sensus, der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr vnd kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist« (WA.TR 5, 45 Nr. 5285).
Die Concordantiae caritatis (CC) sind das umfangreichste typologische Werk des späten Mittelalters, das »in der Reihe der großen typologischen Text-Bild-Zyklen deren krönenden Abschluss bildet« (1, IX). Doch ist dieser Bilderzyklus nicht, wie die Biblia pauperum oder das Speculum humanae salvationis, chronologisch nach dem Leben Jesu Christi geordnet, sondern nach dem Kirchenjahr, nach Sonn- und Herrentagen und nach den Heiligenfesten. So beginnt das Werk mit dem Ersten Adventssonntag und reicht im Kirchenjahr bis zum 25. Sonntag nach Pfingsten. Es folgt der Heiligenteil, in dem man von Andreas bis Katharina eine große Schar von Heiligen findet: Anna, von der der Autor einleitend erklärt: »Qvamuis scripture autentice de sancta Anna minime memorentur, tamen ob filie ipsius reuerenciam non incongrve potest dici: Signum magnum apparuit in celo: Mulier amicta sole, luna sub pedibus eius, et in capite eius corona stellarum XIJ« (1, 414) – und Elisabeth, Maria Magdalena und Afra, Benedikt von Nursia und Franz von Assisi. Bemerkenswert sind in einem aus einem Zisterzienserkloster stammenden Codex Illustrationen und Texte über den Ordensgründer Bernhard von Clairvaux: fol. 205v zeigt zentral den Tod des Heiligen, darum vier Bibelworte aus dem Psalter, der Weisheit Salomonis, dem Lukasevangelium und dem Sprüchebuch, darunter einen goldenen Tisch, Ptolomäus, eine Tamariske und ein Chamäleon. Auf der gegenüberliegenden Seite beginnt der Text: »Beatissimus pater noster multis miraculis in uita clarus hodie est gaudens ad celestia subleuatus« (1, 430). – Als dritten Teil ent­halten vollständige Handschriften der CC eine Erklärung des Dekalogs und eine Gegenüberstellung von Hauptsünden und Tugenden sowie zum Teil weitere Texte (1, XXX f.), in der Lilienfelder Handschrift etwa auch eine Darstellung des Apostolikums (fol. 262v; 1, 554 f.) mit der Zuordnung der einzelnen Glaubensartikel zu den zwölf Aposteln. Die Ausstattung der bebilderten Handschriften folgt im Wesentlichen einem einheitlichen Schema.
Der Verfasser der CC, Ulrich von Lilienfeld (gest. 1358?), der vielleicht den Klosterneuburger Altar des Nikolaus von Verdun mit seinem typologischen Programm kannte (1, XXV), war von 1345–1351 der 17. Abt des noch heute blühenden niederösterreichischen Zis­terzienserklosters und soll resigniert haben, um sein Werk zu vollenden – eine frühe Form von Amtsverzicht um eines wissenschaftlichen Lebenswerkes willen. Der edierte Codex ist das unter Aufsicht des Autors um 1355 fertig gestellte Urexemplar der CC, ein Pergamentcodex von (jetzt) 263 (statt 269; vgl. 1, XV) Blättern. An mehreren Stellen hat er seinen Namen unter die Texte gesetzt: »Vlricus«, »Hec Vlricus« oder »Hec frater Vlricus« dokumentieren seine Autorschaft (vgl. etwa fol. 254v, 255v, 257r, 258v; 1, 526.528. 532.536).
Das Werk wurde im späten Mittelalter relativ breit überliefert. Von den gegenwärtig 40 bekannten Handschriften sind sieben (außer dem Lilienfelder heute in Budapest, New York, Eichstätt, München, Manchester und Paris; vgl. 1, XXII) bebildert, die übrigen reine Texthandschriften. Sie stammen fast ausschließlich aus klös­terlichem Besitz, überwiegend aus Benediktinerklöstern und Au­-gus­tinerchorherrenstiften, doch gibt es auch Handschriften zisterziensischer, franziskanischer, dominikanischer und kartäusischer Provenienz (1, XXII f.). Eine noch breitere Rezeption war den CC wegen ihres großen Umfangs sowie der »Künstlichkeit der typologischen Bezüge« (1, XXXIV) offenbar nicht beschieden. In der Tat mutet es eigenartig an, wenn man etwa in der Darstellung über die Beschneidung Jesu in dem entsprechenden Abschnitt »Natura« eine »Konkordanz« zwischen Christus und dem Stier lesen kann (1, 30).
Der Lilienfelder Codex war der Forschung spätestens seit 1861 bekannt; zahlreiche – in dem am Ende der Einleitung chronologisch geordneten Literaturverzeichnis zusammengestellte – Arbeiten ha­ben sich mit ihm beschäftigt, eine Edition des großen Werkes lag jedoch bisher nicht vor. Kein Wunder, handelt es sich doch darum, ein in der Einrichtung der Seiten komplexes und kompliziertes Werk in typographischer Gestalt angemessen wiederzu­geben.
In der Einleitung gibt der Hauptherausgeber Rudolf Suntrup aufgrund eigener früherer Arbeiten eine konzentrierte, handbuchartige Darlegung der Typologie und »Einordnung der Concordantiae Caritatis in typologische Text-Bild-Zyklen des Mittelalters« (1, XXIV–XXVI). Ein weiteres Kapitel unterrichtet über »Werktitel, Zweck, Aufbau und Inhalt« der CC. Die Gattung des Werks ist nicht leicht zu bestimmen. Handelt es sich um Predigten, Predigtskizzen oder so etwas wie eine Postille? Sicher zutreffend ist die Meinung, es habe auch der privaten Meditation von Klerikern gedient. Ulrich hat eine Vielzahl von Quellen direkt oder indirekt benutzt, unter denen Hieronymus’ »Liber interpretationis Hebraicorum Nominum« hervorsticht und die im Register aufgeschlüsselt werden.
Die CC enthalten das »ewangelium« und »auctoritates de prophetis«, und das mit bildlichen Darstellungen, »quia picture sunt libri simplicium laicorum« (fol. 2r). Wie die CC funktionieren, erläutert der Autor in seinem Prolog (1, 4), den man als kurzgefasste Einführung in die Methode der Typologie lesen kann. Auch sonst ist Ulrich daran gelegen, dass Leser und Benutzer verstehen, was sie sehen (vgl. 1, 528).
Die Edition ist das Werk von Pater Dr. Herbert Douteil CSSp, der daran bis 1979 gearbeitet hatte. Zwischen 1994 und 1999 übernahm der Münsteraner Germanist Rudolf Suntrup Douteils Materialien »zu treuen Händen«, und viele weitere Hände haben seitdem gemeinschaftlich an der Druckvorbereitung und Drucklegung des Werkes gewirkt. Suntrup schildert die Geschichte, ja, das Schicksal der Veröffentlichung, und als Benutzer kann man am Ende nur dankbar vermerken: finitum est feliciter. Wie viel wissenschaftliche, auch editorische Arbeit kommt am Ende nicht zum Ziel?!
Band 2 enthält ein Quellenverzeichnis, ein Verzeichnis abgekürzt zitierter Autoren sowie der anonymen Werke, Sammeltexte und biblischen Bücher, einen Quellenapparat, der Similien nachweist, ein Quellenregister, ein Register der Bibelstellen, ein Register der Namen, Begriffe und Bedeutungen sowie ein Wortregister, das vierfach unterteilt ist: Verzeichnet sind 1. die lateinischen Wörter der Verse, 2. Lateinische Wörter mit ihrer von Ulrich gegebenen mittelhochdeutschen Übersetzung, 3. Mittelhochdeutsche Übersetzungen lateinischer Wörter (Umkehrung des Registers 2) und 4. Mittelhochdeutsche Wörter, die Ulrich in den Versen und zur Übersetzung lateinischer Begriffe verwendet. Hinzu kommen statistische Angaben zum Wortregister der lateinischen Verse und der mittelhochdeutschen Wörter. Diese Register werden sich im Ge­brauch bewähren; sie sind auf ihre Weise eine clavis mediaevalis, und man darf getrost davon ausgehen, dass dieser Schlüssel viele Schlösser schließt. Am Ende enthält der Band die Farbtafeln der Bildseiten der Handschrift, die nicht nur ein Augenschmaus sind, sondern den Betrachter das Werk verstehen lassen. Abgebildet sind alle Bildseiten, alle textierten Bildschemata sowie ausgewählte Textseiten (zur Auswahl vgl. 418).
»Oberstes Ziel der Edition Douteils ist es, den Text der Lilienfelder Handschrift 151 in seiner Gesamtheit wiederzugeben« (1, XV). Denn diese Handschrift ist das Original, das den Wortlaut der CC fast vollständig wiedergibt. Der Codex ist nicht ganz unversehrt; es fehlen sechs Blätter, deren Texte nach einer Abschrift (New York, Pierpont Morgan Library, Hs. M 1045) ergänzt wurden.
Der Buchstabenbestand der Hs. ist erhalten; Abbreviaturen sind aufgelöst. Die Zeilenenden der Hs. werden im edierten Text mit »/« bezeichnet. Absatzgliederung und Interpunktion folgen dem Gefälle der Argumentation und fördern das Verständnis des Textes. Wenn ich recht sehe, sind hochgestellte »o« in Ordinalzahlen zu »0« mutiert; statt Lucae »IIJ0« und ähnlichen Stellen ist also »Lucae IIJo« zu lesen. Der Rezensent wird sich nicht anschicken, die Arbeit der Editoren noch einmal zu machen. Aber die stichprobenartigen Kollationen der Handschrift mit den Transkriptionen haben mich von der Zuverlässigkeit der Ausgabe überzeugt, und es gibt keinen vernünftigen Grund daran zu zweifeln, dass die gesamte Bearbeitung mit hohem Sachverstand und akribischer Sorgfalt erfolgt ist. Das kann man nicht von allen Editionen sagen. Man darf sich wohl glücklich schätzen, dass neue Möglichkeiten der Textverarbeitung diese Edition ermöglicht haben – im Bleisatz und Buchdruck wäre eine Aus­gabe unerschwinglich gewesen. Ästhetisch ist sie jedoch nicht ganz so schön ge­worden, wie es im Bleisatz und Buchdruck möglich gewesen wäre (aber nur einmal, in der Einleitung, gibt es ein Hurenkind; 1, XXIII). Da die lateinischen und deutschen Texte einer Doppelseite der Handschrift jeweils auch auf eine Doppelseite der Edition zu bringen waren, ist der Satz nicht immer elegant und der Zeilenfall manchmal nicht ganz dem Lesefluss entsprechend.
Die Übersetzung ist sehr zuverlässig; bei Namensetymologien wird sogar ins Deutsche übersetzt; so etwa, wenn der lateinische Satz »Jacob subplantator interpretatur« mit »Jakob heißt zu Deutsch »Niedertreter«« (1, 101) wiedergegeben wird. In der überwiegenden Zahl solcher Fälle liest man für »interpretatur« aber zutreffend »heißt übersetzt«. Innerhalb der Übersetzung gibt es immer wieder Anmerkungen zum Verständnis der Texte, Hinweise auf im Deutschen nicht wiederzugebende Wortspiele u. a., aber auch etliche zur Textkritik. In diesen Fällen hätte man erwägen können, in der Edition den korrekten lateinischen Text zu bieten und die Fehler, Verschreibungen und Eigenheiten der Handschrift in einem textkritischen Apparat zu sammeln.
Die Veröffentlichung der Concordantiae caritatis ist eine editorische Großtat – dem Autor, den Herausgebern, den vielen Hilfskräften, dem Stift Lilienfeld als dem Eigentümer, dem Verlag Aschendorff und den Förderern gilt Respekt und Dank für diese – bescheiden formuliert – »gut erschlossene Lese- und Studienausgabe« (1, XX). Wenn Mittel aus der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder stets so angelegt würden, könnte man diese Initiative uneingeschränkt begrüßen. Als Hauptaufgabe von Edition und Übersetzung sah es Douteil in einem für die geplante Edition von 1979 verfassten Vorwort an zu »zeigen, von welch großer Bedeutung Ulrichs Hauptwerk für die gesamte mittelalterliche Theologie, mittellateinische und mittelhochdeutsche Philologie, Kunstwissenschaft und Naturwissenschaftsgeschichte ist und wie sehr es uns Denken und Fühlen unserer Vorfahren erschließt« (1, XV Anm. 26). Dieses Ziel ist nun erreicht: Die Concordantiae Caritatis sind eine stupende Enzyklopädie, ein beeindruckender thesaurus mediaevalis, eine echte Wunderkammer der Auslegungsgeschichte.