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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

67-68

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Minns, Denis, and Paul Parvis [Eds.]

Titel/Untertitel:

Justin, Philosopher and Martyr: Apologies. Ed. with an Introduction, Translation, and Commentary on the Text.

Verlag:

Oxford-New York: Oxford University Press 2009. X, 346 S. gr.8° = Oxford Early Christian Texts. Lw. £ 95,00. ISBN 978-0-19-954250-5.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Nur 15 Jahre nach der Edition durch Miroslav Marcovich in den Patristischen Texten und Studien ist nun in den Oxford Early Christian Texts abermals eine Ausgabe der Apologien Justins erschienen. Die Editoren, Denis Minns und Paul Parvis, sind durch langjährige Erfahrung in der Arbeit an Text und Theologie Justins bestens für dieses Unternehmen ausgewiesen. Das merkwürdig kurze Intervall zwischen den beiden Editionen erklärt sich da­durch, dass die Arbeit von Marcovich nach einhelliger Forschungsmeinung erhebliche Probleme hinsichtlich der Editionsprinzipien und der konkreten Text(re)konstruktion aufwies und deshalb eine abermalige intensive Erarbeitung des für die Theologiegeschichte des 2. Jh.s so eminent wichtigen Textes unumgänglich geworden war. Der nun vorliegende Band bietet über die Rekonstruktion des griechischen Textes hinaus eine neue englische Übersetzung und eine knappe, aber inhaltlich gewichtige Kommentierung; außerdem wendet er sich, wie in einer Edition nicht anders zu erwarten, den Einleitungsfragen zu den Apologien und deren Verfassern zu.
Die Besprechung der Handschriften ergibt zunächst nichts Neues: Der Parisinus graecus 450 (= A) ist und bleibt das einzig relevante Manuskript, da es sich bei den beiden anderen Handschriften nur um Kopien der ersten handelt (das Manuskript des Claramontanus 82/Phillippicus 3081 [= B] ist zwar vollständig, aber, wie Philippe Bobichon unlängst gezeigt hat, lediglich ein Apograph von A; der Ottobonianus 274 [= C] enthält nur die Kapitel 1. apol. 65–67 und ist, wie Minns und Parvis jetzt erweisen, ebenfalls nur eine zudem schlechte Kopie von A ohne eigenständige Bedeutung). Der Zu­stand von A ist seinerseits beklagenswert; offenbar hat im Jahre 1364 ein Abschreiber seine sehr schlechte Vorlage nach bestem Wissen und Gewissen in einen ordentlichen Text verwandeln wollen und dabei mäßigen Erfolg erzielt (20 f.). Dies erklärt natürlich auch die Disparatheit der kritischen Ausgaben bis hin zu denen neuesten Datums (Munier 1995, Marcovich 1994; 17 f.). Eine streng »konservative« Editionstechnik kommt in diesem konkreten Falle wohl kaum in Betracht (21). Die offensichtliche Notwendigkeit von zahlreichen Emendationen führt aber mit einer gewissen Folgerichtigkeit zu der verwirrenden Vielgestaltigkeit des Textes der Apologien, wie sie zurzeit gegeben ist.
Der alten Debatte um die eigentliche Anzahl der Apologien (eine Apologie, zwei Apologien oder eine Apologie plus Appendix?) fügen Minns und Parvis nun eine neue These hinzu, die sie zugleich veranlasst hat, die Vielgestaltigkeit nicht nur des Textes, sondern auch seiner Zählung beherzt zu erweitern. Die sog. erste Apologie sei die eigentliche Apologie Justins, deren inhaltliche Geschlossenheit insbesondere dann vor Augen trete, wenn man die letzten zwei Kapitel der sog. zweiten Apologie an das Ende der ersten stelle. Die erste Apologie (= eigentliche Apologie) sei nämlich eine (wenngleich weitschweifige) Petition ( libellus), die gut als solche kenntlich werde, wenn man die Aufforderung zum Abzeichnen (subscribere) und zum Aushängen einer Antwort (proponere), wie wir sie im bisherigen Passus 2. apol 14 f. formuliert finden (2. apol. 14,1: ὑπογράφειν; προθεῖναι), an ihr Ende setze (24 f.). Dass die bisherige 2. Apologie dann nur noch als Torso stehen bleibe, entspreche ganz ihrem ursprünglichen Charakter als »series of disconnected fragments« (27), der durch den vorgeschlagenen Eingriff ebenfalls wiederhergestellt werde. Diese Fragmentenserie sei entweder (Material für) eine (fiktive) Begleitrede Justins zur Präsentation seiner Petition oder aber eine Notizensammlung für die alltägliche Praxis kontroverser zeitgenössischer Diskussionen, die vielleicht erst nach Justins Tod zu dessen Ehren von seinen Schülern lose zusammengestellt worden sei. Kodikologisch können Minns und Parvis darauf verweisen, dass 2. apol. 14 f. genau einen Folio einer Handschrift, die A als Vorlage diente, gefüllt haben muss, dessen ursprünglicher Ort hinter dem Hadrianreskript 1. apol. 68,5–10 später vertauscht worden sei. Mithin werden aus bisher 2. apol. 14 f. nun 1. apol. 69 f.
Der vorgeschlagene Rekonstruktionsversuch ist in sich stimmig, wobei man ihm eine gewisse Kühnheit und Radikalität nicht absprechen kann. Man kann diese Radikalität verwerfen und man kann wohl auch bedauern, dass die auch an anderen Stellen verwirrende Zählung der Kapitel der Apologien nun um ein weiteres verwirrendes Detail bereichert ist; die Kapitel 1. apol. 69 und 1. apol. 70 hatten wir jedenfalls bisher noch nie! Auf der anderen Seite aber imponieren die innere Stringenz des Vorschlags und die deutlich verbesserte Stringenz des neuen Aufbaus der (ersten) Apologie (zur Übersicht: 49–56). Die Frage bleibt nur, ob man eine derartige Stringenz überhaupt erwarten bzw. sie zum Kriterium für Editionsentscheidungen machen darf. Minns und Parvis argumentieren mit dem üblichen Aufbau einer Petition (»well-set pattern«, 24, unter Hinweis auf die epigraphischen Studien von Hauken), an den Justin sich unbeschadet der ungewöhnlichen Breite seiner Ausführungen hätte halten müssen (25). Vergleichstexte der apologetischen Literatur des 2. Jh.s lassen aber auch die Grenzen eines solchen auf der Prämisse einer konsequenten Einhaltung von Gattungsgesetzmäßigkeiten beruhenden Arguments deutlich wer­den.
Die Edition des eigentlichen Textes kann in einer Rezension nicht nachgezeichnet werden, da sie auf vielen hunderten von Einzelentscheidungen beruht. Insgesamt lässt sich aber sagen: Gegenüber der Edition von Marcovich ist die neue Ausgabe zu bevorzugen, weil sie zahlreiche unangemessene philologische Glättungen in den Apparat zurückversetzt. Über die eine oder andere (neue) Emendation, die vor allem auf inhaltlichen Überlegungen beruht, wird man unterschiedlicher Meinung sein, an manchen Stellen wird durch die behutsamen Konjekturvorschläge der neuen Edition eine bessere Deutung bislang nur schwer verständlicher Sätze möglich.
Die neue englische Übersetzung ist von durchweg sehr guter Qualität und findet den schwierigen Weg zwischen philologischer Treue gegenüber der Ausgangs- und sprachlicher Orientierung an der Zielsprache; die Übersetzung von Barnard aus dem Jahre 1997, die noch auf dem alten, eng am Manuskript A orientierten Text von Goodspeed (1914) beruhte, ist komplementär hinzuzuziehen.
Die Kommentierung ist knapp gehalten. Angesichts der Länge des Quellentextes war es zumal in einer zweisprachigen Ausgabe nötig, auszuwählen und sich auf das Wichtigste zu beschränken. Die Kommentierung bietet vor allem immer wieder ausführliche Begründungen für die Textkonstituierung an der jeweiligen Stelle (z. B. 2; 219,3; 223,3; 227,1 u. ö.), an vielen Stellen gibt sie Erläuterungen zum Inhalt (123,2; 125,2; 127,5; 195 f.,5.6; 201,5; 229,7; 243,1) und legt, wo erforderlich, Rechenschaft für die gewählte Übersetzung ab (135,4; 185,1 u. ö.).
Ein wichtiges Buch liegt vor, das für die Justinforschung eine neue Grundlage geschaffen und gegenüber der Ausgangslage eine echte Verbesserung bereitgestellt hat. Nach Bobichons kritischer Ausgabe des Dialogs (2003) ist nun auch für die Arbeit an den Apologien eine neue Basis gegeben. Die Diskussion um den »echten« Text der Schriften Justins wird gleichwohl weitergehen, was nicht am mangelnden Bemühen der gelehrten Editoren älterer und neuester Zeiten liegt, sondern am schwierigen Überlieferungsbefund.