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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

178 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Möhle, Hannes

Titel/Untertitel:

Ethik als Scientia Practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1995. 495 S. gr.8° = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Texte und Untersuchungen, NF 44. Kart. DM 98,-. ISBN 3-402-03995-8.

Rezensent:

Volker Leppin

Das vorzustellende Werk arbeitet das im Titel angegebene Thema ausführlich auf. Die Gliederung in acht Kapitel folgt einem klaren Gedankengang. Das 1. Kap. dient der Klärung wissenschaftstheoretischer Fragen. Zu Recht legt M. dar, daß die Entfaltung des Konzeptes praktischer Wissenschaft bei Duns Scotus ihren Ort in dessen Verständnis von Theologie hat und von den hierfür entscheidenden Textstellen her zu entwickeln ist. Konstitutiv für die Bestimmung der scientia practica ist der Begriff der "praxis". Sie ist nach Duns das erste, alles weitere hierzu gehörige Wissen virtuell enthaltende Objekt der praktischen Wissenschaft. Definitorisch gefaßt, handelt es sich bei ihr um eine Tat des Willens, durch welche dieser sich "auf die intelligiblen Objekte eines möglichen Handelns bezieht" (29).

Damit wird die praktische Wissenschaft in das Spannungsfeld von Willen und Intellekt gestellt. Folgerichtig unternimmt es das zweite Kap., das Zueinander dieser beiden Seelenvermögen zu klären. Zentral ist dabei, daß zur Hervorbringung eines konkreten Willensaktes der Wille mit dem durch den Intellekt erkannten Objekt zusammenwirke. Hiermit konvergent deutet M. auch auf den ersten Blick abweichende Aussagen des Doctor subtilis durch die Darlegung, daß die Abweichungen aus je verschiedenen Argumentationszwecken resultierten.

Das Problem des Zusammenwirkens von Wille und Intellekt führt die Untersuchung im 3. Kap. auf den intellektualen Habitus der Klugheit. Deren kriterienbildende Funktion für das moralische Urteil freilich hängt, so M.s überzeugende Differenzierung, gerade nicht an ihrem habituellen Charakter, sondern an dem mit ihr bezeichneten sachlichen Gehalt des richtigen praktischen Urteils, den die rechte Einsicht als dem Habitus gegenüber vorgängiges Prinzip bestimmt. So kann es Duns vermeiden, moralische Tugend durch einen intellektualen Habitus konstituiert zu sehen, ohne doch ihre Bindung an die Vernunft aufzugeben.

Auf eine exkursartige Behandlung der Frage moralischer Zurechenbarkeit im 4. Kap. folgt im fünften eine Untersuchung des von Duns durch diese Überlegungen etablierten Begriffs moralischer Gutheit. Insbesondere betont M. hier, daß dieser sich vom transzendentalen Begriff der Gutheit als einer jedem Seienden zukommenden Bestimmung unterscheide. Das führt jedoch nicht zu einem Verlust jeglicher extramentaler Verankerung: Die rechte Einsicht bezieht die Gutheit auf eine Ordnung weisheitlicher Begriffsgehalte, die nicht Folge einer willkürlichen Setzung Gottes ist, sondern auf Bestimmungen beruht, die der göttlichen potentia ordinata vorgegeben sind.

Dies ermöglicht die Rede von einem Naturgesetz, die im 6. Kap. diskutiert wird. Dabei legt M. insbesondere die Grundproblematik dar, daß nach Duns einerseits die Geltung jedes Gesetzes von Gottes Willen abhängig ist, andererseits mit dem Naturgesetz im strengen Sinne, das sich dadurch auszeichnet, Gott zum Gegenstand zu haben, ein Gesetz unbedingte Geltung beansprucht, das eben dem Willen Gottes vorgeordnet und seinem Zugriff entzogen ist. Seine Gültigkeit resultiert daraus, daß sein Gegenteil einen Widerspruch einschlösse. Durch diese Beobachtung und ihre Ausführung leistet M. auch einen Beitrag zu der wichtigen Frage nach der genaueren Bestimmung dessen, was die Begrenzung der absoluten Macht Gottes allein durch das Widerspruchsprinzip material bedeutet.

Der Grund für das Vorliegen eines Widerspruchs ist an dieser Stelle, wie M. im 7. Kap. darlegt, daß das fundamentale naturgesetzliche Gebot der Gottesliebe zu negieren gleichbedeutend mit der Negierung des Grundes des Wollens selbst wäre. Wenn M. angesichts dieser formalen Grundlegung naturgesetzlicher Bestimmungen freilich von einer "nicht-theologischen Auslegung" der Gottesliebe spricht (388), ist zu fragen, ob er hier nicht überscharf auseinanderreißt, was für Duns im Rahmen seines Sentenzenkommentars ineinander liegt.

Dessen ungeachtet bietet die Entfaltung der These einer philosophischen Eigenständigkeit der Ethik gegenüber der Theologie im 8. Kap. höchst bedenkenswerte Einsichten in die Fundierung der praktischen Prinzipien in einem den göttlichen Setzungen vorgeordneten Bereich. Hier entzieht M. überzeugend jeder voluntaristischen Deutung der Dunsschen Ethik die Grundlage.

Das alle Argumentationen begleitende Ziel der Arbeit ist es, die Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit der Dunsschen Ethikkonzeption gegenüber Thomas aufzuweisen. Diese Kritik am tradierten katholischen Scholastikkonzept ist vielleicht noch immer nötig, jedenfalls berechtigt und im großen und ganzen auch gelungen. Freilich führt gerade die Anstrengung, Duns nicht an Thomas zu messen, wiederum zu einer Fixierung auf die systematische Gegenüberstellung zweier Denker, die diese ihrem je eigenen Ort in der Geschichte gegenüber isoliert. Aufgrund dieses Vorgehens macht M. seine These, daß Duns im Vergleich zum Aquinaten von "einer grundsätzlich veränderten Ausgangsposition" (11) aus argumentiere, nicht historisch plastisch: Welche Motive zu der entscheidenden Veränderung zwischen beiden geführt haben, wird nicht hinreichend deutlich, geistesgeschichtliche Entwicklungslinien werden nicht nachgezogen.

Läßt M.s Arbeit daher im Blick auf eine angemessene historische Einordnung manches vermissen, so liegen ihre großen Vorzüge in der durchweg sensiblen, präzisen und textnahen Rekonstruktion der Vorstellungen des Doctor subtilis, insbesondere ihrer Konzentration auf die jeweils den sich verästelnden Argumentationen zugrunde liegenden Leitgedanken. Dadurch bietet die Arbeit nicht nur einige für das systematische Gesamtverständnis des Duns Scotus bedeutende Einsichten, sondern erschließt auch kommentarartig den Zugang zu einzelnen Texten dieses äußerst komplexen spätmittelalterlichen Denkers. Eine darauf ausgerichtete Benutzung wird durch Register erleichtert. Unter ihnen ist besonders das feingliedrige Sachregister hervorzuheben, bei dem es allerdings gelegentlich zu unnötigen Doppeleinträgen eines Begriffs in lateinischer und deutscher Sprache gekommen ist.