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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

62-64

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Flasch, Kurt

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart. Philosoph des Christentums.

Verlag:

München: Beck 2010. 365 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-406-60022-7.

Rezensent:

Markus Vinzent

Dieses der Professoressa ordinaria di Letteratura Italiana, Maria Antonietta Terzoli, gewidmete Werk ist eine konzise Summe und hoffentlich nicht der Schwanengesang einer lebenslangen Beschäftigung des Vf.s mit Meister Eckhart. In zwei Anläufen, dem Vorwort und einem Intermezzo zu Beginn des zweiten Teils, räsoniert der Vf. methodologisch darüber, was es bedeutet, heute über Eck­hart zu schreiben. Auf einen Nenner gebracht (Kondensate liebt der Vf.): Eckhart bleibt ein Dorn im Fleisch, im Fleisch der Theologen, deren systematische Imaginationen er immer wieder durchkreuzt, und der Kirchen, deren Vorstellungen er sich bis heute entzieht. Auch wenn zeitgenössische Versuche unternommen wurden, auf die der Rezensent selbst hingewiesen hat (Theologische Revue 106 [2010], 96–98), Eckharts »Teufelssaat« nach der institutionellen Verurteilung durch die Bulle vom 27. März 1329 zu verharmlosen, hält der Vf. fest: »Die unabgeschwächte Lehre Eckharts hat im Selbstverständnis der Römischen Kirche von Johannes XXII. bis Benedikt XVI. keinen Platz« (321). Der Rezensent wundert sich, warum die Philosophen ausgespart bleiben, da Eckhart mit den »Pfaffen« nicht nur die Theologen, sondern überhaupt die professoralen Gelehrten im Visier hatte.
Dieses Buch zu Eckhart ist gelungen. Erstmals in dieser Breite liefert der Vf. in historischen Schnitten die Belege für seine bereits bekannte These von Eckharts verschollenem Konzept einer »Philosophie des Christentums«. Den Kritikern zum Trotz, die immer wieder behaupteten, der Vf. überstrapaziere die wenigen Selbstaussagen Eckharts, wonach »was über Gott geschrieben wird« »mit der natürlichen Vernunft klar erklärt« werden könne und müsse (LW I n. 2), zeigt er von Eckharts Frühschriften bis hin zur Prozessverteidigung am Ende seines Lebens, dass Eckhart den Grobsinnigen den Glauben, den Erleuchteten aber das Wissen zuordnet (232). Nicht nur die wenigen, pointierten Selbstauslegungen sind es also, neun an der Zahl, die der Vf. zitieren kann und diskutiert (49–65), sondern ein gesamtes Lebenswerk, das Eckhart als Philosophen, ge­rade nicht jedoch als Mystiker, Frauenseelsorger oder Bibeltheologen ausweist.
Wird man Eckhart künftig folglich aus den Theologenlexika verschwinden sehen und ihn in der Disziplin der Philosophie angesiedelt finden? Sicher nicht. Eckhart setzt zwar »nicht den christlichen Glauben argumentativ voraus«, will aber »dessen Hauptinhalte philosophisch beweisen« (323). Trotz Eckharts Insis­tieren auf der natürlichen Vernunft ist er kein christlicher Philosoph, der mit Glaubensprämissen an die Wahrheitserkenntnis geht, sondern ein Philosoph des Christentums, der eine »philosophische Theologie« (140) schreibt, die nur das als Glaubenswahrheiten gelten lässt, was sich vernünftig erschließt, eine »neue Me­ taphysik als Theologie«, die eine »Entnaturalisierung« aristote­lischer »Konzepte von Gott, Mensch und Welt« betreibt, eine »christliche Wissenschaft«, die »keineswegs vollendet war« (140 f.). Wenn der Vf. richtig sieht, wie erklärt sich dann Eckharts negative Theologie, die vor und gegen den Einspruch des Vf.s immer wieder als Mystik beschrieben wurde? Eckhart greift die »Rolle und genaue Bedeutung der negativen Theologie, die im Kommentar zum Exodus mit seiner Anlehnung an Moses Maimonides so wichtig war«, im Johanneskommentar erneut auf und »wiederholt sein allge­meines Rationalitätspostulat, diese wenig beachtete Konstante im Denken« (202). Eckhart wechselt das hergebrachte metaphysische Modell, indem er schärfer als Dietrich von Freiberg, von dem er die Idee erhalten hatte (325–328), »die Metaphysik des Erzeugtwerdens über das Substanz-Akzidens-Pa­ra­digma« stellt (202).
Des Vf.s grundsätzliche Sicht von Eckhart als dem Philosophen des Christentums ist m. E. nicht mehr mit denselben Verkürzungsthesen zu widerlegen, dazu ist sie nun zu gut begründet und zu eindrucksvoll vorgeführt. So stellt sich die Frage, ob hier nur ein einseitiges, eben philosophisches Eckhartbild gezeichnet wurde? Auch dieser Einwand fällt dahin, wenn erkannt wird, dass dieser Philosoph gerade eine Reformulierung von Philosophie und Theologie, und vor allem von der Differenzierung beider, vorgenommen hat. Eckhart stellt sich »fast allen Zeitgenossen« entgegen, insbesondere der »philosophisch-theologischen Pariser Durchschnittsbildung« (170), nicht nur der von Theologen, sondern auch der der Philosophen – und das offenkundig bis heute, nicht allein in Frankreich. Der Vf. formuliert treffend: »Wer neues wahrnehmen will, muß sich Wahrnehmungen verschaffen. Er muß sie wollen; sie fallen nicht von selbst in ihn hinein. Er wird sie zu suchen beginnen, wenn er überrascht auf Unverstandenes trifft« (322). Die Bereitschaft zu solcher Entdeckung ist, menschengemäß, natürlich ge­ring, nicht allein zu Eckharts Zeiten. Gewohntes verlassen zu wollen, um Unverstandenes zu entdecken, zuzulassen, und dann nicht vernunftkapitulierend auf guten Glauben zu verschieben, sondern als Wahrheitstest weder eine Schrift, noch eine Tradition, noch einen Theologen oder Philosophen, sondern allein die Vernunft urteilen zu lassen, ist anstrengend.
Das Werk selbst ist kein Schlusspunkt, sondern eine Einladung zum Weiterdenken (vgl. z. B. den Vf. über Eckharts Trinitätslehre, bei der er an der wichtigsten Stelle bewusst abbricht, weil er Voraussetzungen und Folgen in seinem quintessentischen Buch nicht durchführen kann und will, 219). Die dichtesten Stellen sind Stakkatopassagen, in denen fast ausschließlich Eckhart zu Wort kommt, Eckhart, der keiner Auslegung bedarf oder auch abschwächende Interpretationen verbietet, gedrängte Prosa, deren Abbre­-viaturen zum Füllen der Lücken, oder besser als Anstachelungen zum Fortdenken dienen (138–140.156–158.168–170.232–255). Es en­det mit dem Hinweis auf die eigenen Erkenntnisse zum Verhältnis von Dietrich von Freiberg und Eckhart, die »die Bochumer Arbeitsgruppe« spätestens seit 1977 eingebracht hatte, erwähnt die vielen Fortschritte der Eckhartforschung, die gerade in den letzten Jahrzehnten von den Haupteckharteditoren Loris Sturlese und Georg Steer, aber auch durch andere Gelehrte angeregt wurden. Der Vf. hat sein Werk sichtlich nicht aus älteren Beiträgen recycelt, sondern er ist »erneut zu den Texten« Eckharts gegangen und hat sie als »Kontrast« zur Scholastik gelesen, um ein »neues Gesamtbild« zu entwerfen. Der Versuch ist ihm m. E. rundum gelungen, indem er gerade Raum für weitere Forschungen eröffnet hat, Forschungen, die gewiss den Philosophen der christlichen Metaphysik vertiefen können (erwähnt seien etwa nur die jüngst neu aufgefundenen weiteren fünf Pariser Quaestionen Eckharts, die der Rezensent auf dem Mediaevistenkongress in Leeds im Sommer 2010 vorstellen konnte), oder andere, die auf den philosophischen Theologen des Gebets, der Liturgie, Spiritualität und der Ethik verweisen (siehe die Reihe Lectura Eckardi, oder die neue Reihe »Eckhart: Texts and Studies«, Peeters, Leuven).