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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

60-62

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Allen, Pauline, Mayer, Wendy, u. Bronwen Niel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Preach­ing Poverty in Late Antiquity. Perceptions and Realities.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 252 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 28. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02728-6.

Rezensent:

Katharina Greschat

In der spätantiken Armutsfrage tut sich etwas! Inzwischen er­scheint jedes Jahr eine wahre Fülle an neuer Fachliteratur zum Thema, für das sich noch vor wenigen Jahren lediglich eine handvoll Spezialisten interessiert hatte. Diese neue Aufmerksamkeit kommt nicht von ungefähr, sondern wurde nicht zuletzt durch die provokanten Thesen des berühmten Althistorikers Peter Brown ausgelöst, dessen Forschungen gerade die christliche Spätantike immer wieder in ein neues Licht gestellt haben.
Schon in seinem Werk »Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem christlichen Imperium« (dt. 1995; engl. 1992) beschäftigte er sich mit den Bischöfen als den »Freunden der Armen« in dem Sinne, dass sie ihre Sorge um die Armen als ein Element der Selbstinszenierung ihrer städtischen Autorität nutzten. Mit »Poverty und Leadership in the Later Roman Empire« aus dem Jahre 2002 ging er noch einen Schritt weiter: Erst der christliche Einfluss mache die allgegenwärtigen Armen sichtbar und verweise damit auf einen bemerkenswerten Unterschied gegenüber einer Konzeption von Gemeinschaft, wie sie in der klassischen Antike noch ganz selbstverständlich gegolten habe. In der zunehmend christlich geprägten Ge­sellschaft seien die Bischöfe maßgeblich für eine Unterteilung in Arme und Reiche bzw. in Starke und Schwache verantwortlich und verstünden die Interaktion zwischen beiden Gruppen häufig nach christologischem Vorbild im Sinne einer synkatabasis bzw. condescensio der höher Gestellten gegenüber den Untergebenen.
Browns Veröffentlichungen haben eine lebhafte Diskussion ausgelöst, zu der auch die vorliegende Studie, die von namhaften australischen Wissenschaftlerinnen verantwortet wird, ihren Beitrag leisten möchte: »Because this study aims to challenge the foundation that Brown has laid for contemporary scholarship, we have been mindful of the variables and problems associated with studying late-antique poverty« (28).
Mit den gründlichen Analysen nicht allein von Predigten, sondern auch von Briefen und hagiographischem Material zu drei spätantiken Bischöfen, die sich etwa zur gleichen Zeit, aber in sehr unterschiedlichen Regionen des Reiches im 4. und 5. Jh. mit dem Phänomen der Armut beschäftigten, möchten sie die Probe aufs Exempel machen. Als ausgewiesene Expertin für Johannes Chrysostomos untersucht Wendy Mayer dessen Werke (69–118), Pauline Allen und Edward Morgan analysieren eine Fülle an Augustin­texten (119–170) und Bronwen Neil untersucht insbesondere die Briefe und sermones des römischen Bischofs Leo I. (171–208), um zu verstehen, was im jeweiligen sozio-ökonomischen und religiösen Kontext gemeint ist, wenn von den Armen oder von Armut gesprochen wird. Ihren Untersuchungen stellen die Autorinnen ein sehr wichtiges Kapitel voran, das die verwendeten Gattungen im Hinblick auf ihren Quellenwert befragt (35–68). Dem Leser müsse klar sein, dass weder Predigten noch Briefliteratur oder Viten bekannter Bischöfe ein realistisches Bild von den Armen bzw. von der Armut in dieser Zeit und Region zeichnen, sondern in erster Linie die theologische und gesellschaftliche Wahrnehmung und den Diskurs darüber spiegeln. So präsentieren Predigten zwar bisweilen »the most extreme poor … in technicolour« (43), doch erfolge das in didaktischer Absicht und richte sich an die Adresse der Reichen. In Briefen oder Briefsammlungen werde im Rahmen von moralischen Fragestellungen immer wieder auf Arme verwiesen, doch dürfe man auch hier keine systematische Erörterung erwarten. Wer hofft, aus spätantiken Bischofsviten ablesen zu können, wie sich diese Bischöfe gegenüber den Armen verhalten haben, der sieht sich oft enttäuscht. Statt eines Blicks auf die Gesellschaft sieht man eher auf den Geist und die Werte, die die Verfasser mit den Viten transportieren wollten. Die Armen spielen hier aber kaum eine Rolle, höchstens insofern, als sie geeignet sind, die persönliche Heiligkeit der Bischöfe nach biblischem Vorbild ins rechte Licht zu setzen. Nach diesen eindringlichen Warnungen, die Quellen nicht als unmittelbaren Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des 4. bis 6. Jh.s misszuverstehen, will Mayer den an­-tiochenischen Asketen und konstantinopolitanischen Bischof Jo­hannes Chrysostomos eben gerade nicht – wie häufig geschehen – als einen Freund der Armen bezeichnen: »To characterize John Chrysostom as a ›lover of the poor‹ is thus to misunderstand his central thesis. If we are obliged to label him at all, it is more accurate to call him not a champion of the poor, but of poverty – not economic poverty, but voluntary poverty« (110). Augustin lebte ebenfalls in selbstgewählter Armut, doch heißt das auch bei ihm nicht, dass er sich deshalb als Anwalt der Armen verstand: »Hence it misses the point to ascribe to him Brown’s very practical terms ›lover of the poor‹ or ›governor of the poor‹, which presuppose a hands-on or even close involvement with the economically dis-advantaged that cannot be supported from the works of the bishop of Hippo« (164). Die sorgfältige Analyse macht etwas ganz anderes deutlich: Augustin interessierte sich nicht sonderlich für das Thema Armut und schon gar nicht für konkrete Arme. Wenn er jedoch von Armen oder Reichen sprach – und das tat er nicht selten –, dann in dezidiert theologischen Zusammenhängen, die häufig von Auseinandersetzungen mit Manichäern oder Pelagianern ge­prägt waren. Er redete von Armen und Reichen angesichts der conditio humana und machte deutlich, dass materielle Güter ebenso wie materielle Not angesichts der Ewigkeit keinen Bestand haben. Die Armen, die bei Leo I. vorkommen, sind ebenfalls nur eine anonyme Gruppe von Menschen, die sich nicht selbst versorgen konnten oder über kein soziales Netzwerk verfügten. Doch für den von Peter Brown vermuteten gesellschaftlichen Wandel gibt es auch hier keinen Anhaltspunkt, zumal sich noch nicht einmal sagen lässt, welchen Stellenwert die Sorge für die Armen bei Leo I. hatte, »because the notion of poverty was an umbrella under which all the financial needs of the church could be conveniently ga­th­ered« (203).
Insgesamt – so das Fazit der Untersuchungen zu den drei ge­nannten spätantiken Bischöfen – spricht also wenig dafür, dass diese ihren Blick nunmehr auf die konkrete Not der Armen richteten, die für den städtischen Euergetismus zuvor gar nicht wahrnehmbar war. Offenbar hatte das Christentum deutlich weniger Einfluss auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse und das menschliche Verhalten, als von Brown angenommen. Statt in den Bischöfen mit Brown generell »Freunde der Armen« zu sehen, sollte man sie wohl eher als »Freunde der freiwilligen Armut« verstehen, die ihre Hö­rerschaft zur antiken Tugend des Mitgefühls ermahnen und dazu anhalten, sich der eigenen Stellung vor Gott bewusst zu sein. Deshalb müsse man wohl feststellen: »The transformation of Greaco-Roman society that Brown posits, and that one would expect to see most plainly at work in Christian charity towards the poor during this period, in fact remained largely at the level of rhetorical imagery« (226). Doch auch wenn das spätantike Christentum den Ar­men nicht mehr Gerechtigkeit verschaffte, so haben die Bischöfe doch zu einem anderen Verständnis der Armen beigetragen, indem sie alle Gaben an die Kirche als Gaben an die Armen interpretierten und den Klerus als die pauperes bezeichneten. Nach dem Urteil der Autorinnen sei das »a major innovation by bishops« (228).
Der Band leistet einen wichtigen Beitrag zu einer aktuellen und spannenden Forschungsdiskussion und verdient die Aufmerksamkeit all derer, die sich mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen des spätantiken Christentums beschäftigen.