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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

56-58

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theobald, Michael

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12. Übersetzt u. erklärt v. M. Theobald.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2009. 903 S. m. Ktn. 8° = Regensburger Neues Testament. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-7917-2062-3.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Im Dschungel der johanneischen Forschung stellt der hier vorgelegte erste Teil des Johanneskommentars von Michael Theobald die konservative Lesart eines Kenners der Materie dar, der eine sorgfältige sprachliche Analyse mit historischen Fragestellungen verbindet und so synchrone und diachrone Aspekte kombiniert. Den Vorgaben der Reihe entsprechend folgt auf einen Einleitungsteil die Einzelauslegung in einem Dreischritt: (A) literarische Fragen »zu Aufbau, Gattung und Genese des Textes«, (B) »Vers-für-Vers-Aus­legung« und (C) »Fragen und Hinweise zur theologischen und spirituellen Relevanz des Textes heute« (98).
Die Auslegung basiert auf einer Reihe von Grundlagenentscheidungen, die in der Einleitung dargelegt werden. So betrachtet Th. das Johannesevangelium von Anfang an als »dramatische Erzählung«, die nach antiken Mustern Dialoge mit narrativen Elementen verbindet (I.). In diesem Zusammenhang untersucht er die räumliche und zeitliche Verortung der Erzählung, ihre Personenführung, die Formen ihrer dialogischen Interaktion und ihres Aufbaus (1–12; 13–21). Räumlich stellen Galiläa und Jerusalem die beiden Pole des Spannungsbogens der Erzählung dar, wobei der Schwerpunkt auf Jerusalem und dem Tempel liegt. Zeitlich rekonstruiert Th. literarkritisch ein liturgisches Jahr als Spanne des Wirkens Jesu im vorredaktionellen Evangelium. Die Personenführung wechselt Jesu Interaktion mit Einzelnen und Gruppen ab und lässt bestimmte Personen immer wieder auftauchen, jedoch ohne erkennbare Entwicklung ihrer Charaktere. Der Aufbau des Evangeliums zeigt zwei Hauptteile: Jesu öffentliches Wirken (Kapitel 1–12) und Jesu Lehre an die Jünger und Erhöhung (Kapitel 13–21). Der zweite Teil der Einleitung zur »Genese der ›dramatischen Erzählung‹« (II.) untersucht anhand von Semantik und Pragmatik, wie das Evangelium, wie es heute vorliegt, sich aus Quellengebrauch und Redaktion entwickelt hat. Th. unterscheidet drei Stufen – Zeichenquelle, Evangelium und Redaktion – und beschreibt Wortgebrauch und theologische Absicht auf den drei identifizierten Entwicklungsstufen. Die Einleitung fährt fort mit der Untersuchung gängiger Thesen zum Gebrauch anderer neutestamentlicher Korpora im Johannesevangelium, zum Autor und zu Ort und Zeit der Abfassung. Nach Th. liegt kein johanneischer Gebrauch der Synoptiker vor, den Autor sieht er im Lieblingsjünger repräsentiert, der gleichzeitig die glaubende Gemeinde symbolisiert. Das Evangelium wird auf etwa 90 n. Chr. datiert und der syrische Raum als wahrscheinlichste Hypothese für seinen Ort angenommen. Somit bewegt sich Th. mit seinen Antworten auf die Einleitungsfragen fast durchgehend auf einem der Hauptstränge des Forschungskonsens vom Endes des letzten Jahrhunderts.
Die eigentliche Auslegung verbindet in gekonnter Weise die Besprechung des Textes in seinem eigenen Kontext, im Rahmen antiker griechisch-römischer als auch jüdischer Quellen und mo­derner Forschungsfragen. Sie ist sowohl detailliert als auch gut lesbar, was zum Teil der umfassenden Kompetenz Th.s zuzuschreiben ist, aber auch daran liegt, dass Thesen, die Th.s Meinung widersprechen, zwar kurz zusammengefasst, aber nicht begründet werden. Eine detaillierte Erörterung aller Meinungen würde den Rahmen des (an sich schon umfangreichen) Kommentars sprengen, und Literaturhinweise ermöglichen eine Rekonstruktion der Argumente. Exkurse erläutern Konzepte, die den Rahmen der Versauslegung sprengen (z. B. 117–119 zum Logos). Unter den antiken Texten finden die Quellen in griechischer Sprache (griechisch-römisch und jüdisch) ausführlichere Aufmerksamkeit als die hebräischen (z. B. die Qumrantexte). Die Besprechung der theologischen Relevanz für heute debattiert die grundsätzlichen Fragen, die der Text aufreißt, lässt aber gelegentlich auch Th.s katholische Prägung zum Durchscheinen kommen (z. B. 142 f., Diskurs mit der Aufnahme des Problems im Zweiten Vatikanischen Konzil).
Der Kommentar ist in seiner Grundausrichtung ausgewogen: Entgegen dem Trend in der neueren Johannesforschung weigert sich Th., die diachronen Fragestellungen zugunsten einer einseitig synchronen Methodik aufzugeben, da sich die Frage nach der Entwicklung des Evangeliums aus dem Text selbst stellt. Selbstbewusst greift Th. dabei auf bestehende Quellentheorien zurück. Jedoch führt die Form des Kommentars mit der eingeschränkten Möglichkeit, detailliert auf Forschung einzugehen, dazu, dass bestimmte Grundannahmen, wie z. B. der Umfang der Zeichenquelle, als bekannt vorausgesetzt werden und nur schwache Be­gründung erfahren (32–42.108). Bei dem in der gegenwärtigen Forschung zunehmenden Zweifel an der Existenz solcher Quellen ist die Voraussetzung einer vorbehaltlosen Annahme dieser Thesen nicht mehr gegeben. Eine erneute ausführliche Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten, die insbesondere in der englischsprachigen Exegese – doch nicht nur dort – vorgebracht werden, würde die Basis des Kommentars stärken.
In diesem Zusammenhang muss der besondere Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der deutschen Forschung hervorgehoben werden. Englische und französische Literatur wird zwar rezipiert, aber in deutlich geringerem Maße. Dieser Fokus auf die deutschsprachige Forschung hat insbesondere für die Beschreibung von Themen wie der Apokalyptik und der Gnosis (48–59) Folgen, wo der neuere Diskurs zu beiden Themen keinerlei Beachtung findet und z. B. die Beschreibung des apokalyptischen Hintergrundes als »hellenistische Eschatologie« des Evangeliums auf einem Aufsatz von N. Walter von 1997 basiert (52). Die Vielfalt der frühjüdischen Apokalyptik, ihre Verbindung mit den Weisheitstraditionen (hier sind die Qumranfunde relevant) und die Bedeutung dieser Verbindung für das Johannesevangelium wie auch für die spätere Entwicklung der Gnosis kommen nicht zur Sprache.
Eine umfassendere Berücksichtigung frühjüdischer Quellen hätte vielleicht auch der Überbetonung der Abgrenzung des Evangeliums von dem jüdischen Umfeld entgegengewirkt. Es ist unbestritten, dass das Johannesevangelium eine eigene Identität der Glaubenden herausbilden will, dass diese Identität jedoch »kirchliche« Identität im Gegensatz zum Judentum (67–70) ist, ist zu bezweifeln. Im Blick auf die Aufnahme von grundlegenden jüdischen Traditionen zum Gottesvolk kann kein Zweifel bestehen, dass das Johannesevangelium zwar den Zugang zu Gott ausschließlich an Christus bindet, jedoch fest davon ausgeht, dass dieser Gott der Gott ist, der sich dem jüdischen Volk offenbart hat. Dass dieses Volk sich aber weigert, das Wort seines Gottes aufzunehmen, ist die Tragik des chris­tologischen Dramas im Johannesevangelium.
Bei allen diesen Beschränkungen und Kritikpunkten bietet der Kommentar einen Reichtum an Denkanstößen und Verstehenshilfen für Anfänger wie auch Fortgeschrittene im Studium des so umstrittenen Evangelientextes. So liefert er im Urwald gegenwärtiger johanneischer Exegese einen deutlich bereiteten Pfad – man mag ihm nicht in jeder Einzelheit folgen, aber er bringt den Exegeten in jedem Fall vorwärts.