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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

50-52

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hahn, Horst

Titel/Untertitel:

Tradition und Neuinterpretation im ersten Johannesbrief.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2009. 402 S. 8° = TVZ Dissertationen. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-17519-1.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Horst Hahn veröffentlicht in diesem Buch seine durch Jean Zumstein begleitete und 2008 in Zürich eingereichte Dissertation. H. vollendete die Arbeit im Ruhestand nach einem aktiven Pfarrer­leben (11). Ihm geht es darum, den Relecture-Charakter des 1Joh gegenüber dem JohEv aufzuzeigen. Nach H. stehe der Verfasser des 1Joh in der johanneischen Tradition, wie wir sie aus dem JohEv kennen, und wende dort vorkommende Ansätze auf seine spätere Situation an. H. geht davon aus, dass der Verfasser des 1Joh die Kapitel 1 bis 20 des JohEv kannte und auch bei seinen Adressaten als anerkannte Traditionsgrundlage voraussetzt. Die letzte Überarbeitung des JohEv, wie sie nach H. vor allem in Joh 21 zu finden ist, und auch den Nachtrag zum Brief, den H. in 1Joh 5,14–21 vermutet, lässt er bei seiner Untersuchung weitgehend unberücksichtigt, ebenso wie die kleinen Briefe, 2/3Joh (357 f.). Er deutet an, dass er diese Texte zeitlich nach den durch ihn untersuchten johanneischen Texten ansetzt (210.222 f.). 1Joh 1,1–5,13 verhandelt H. in einer nach Themenfeldern geordneter Abfolge.
In einem 1. Teil, »Einstieg« überschrieben (25–53), bespricht er 1Joh 2,18–27. 1Joh 2,18 f. verlangt die Annahme realer Gegner, wie H. zu Recht gegen Hansjörg Schmids Ansatz (vgl. Rez. Jürgen Be­­-cker, ThLZ 128 [2003], 1291–1293) herausstellt. Der 1Joh schreibt in eine Situation, in der Gegner den Zusammenhalt der johanne­ischen Gruppe bedrohen. An mehreren Stellen warnt H. besonnen, die Auseinandersetzung mit Gegnern nicht zum exegetischen Zauberschlüssel des Briefes zu stilisieren.
Im 2. Teil seines Buches (55–368) bespricht H. Abschnitte aus dem 1Joh unter den vier Themenbereichen: A. Bewahren und Wei­tertragen der Heilsbotschaft innerhalb der (johanneischen) Ge­meinschaft (55–94), B. Die christologisch-soteriologische Konzeption (94–159), C. Sünde und Sündlosigkeit (160–240), D. Der Zusam­menhang von Glauben und Leben (240–368). Zu diesen Themenbereichen exegesiert H. jeweils zunächst einschlägige Stellen aus dem 1Joh und stellt dann den Themenbereich im JohEv vor. Die Gegenüberstellung erlaubt ihm zu zeigen, wie der 1Joh an das JohEv an­knüpft und wie der Brief eigenständig weitergeht. Wie sich 2/3 Joh zu diesen Bahnen verhalten, erwägt H. leider nicht, so dass er z .B. auch 2Joh 7 nicht zu 1Joh 4,2 in Beziehung setzt.
Die thematische Anordnung erlaubt es H., bestimmte Themen zu profilieren und gegenüber dem JohEv zusammenhängend zu vergleichen. Dem Inhaltsverzeichnis lässt sich entnehmen, dass H. fast alle Verse des 1Joh in einem der vier Abschnitte behandelt; allein zu 1Joh 2,28–3,3 bietet H. keine Einzelauslegung, soweit ich sehe – das Buch bietet keine Indices. Der Gedankenbogen des ganzen 1Joh kommt durch die thematische Anordnung nicht zur Sprache.
Unter Einzelexegesen bietet H. vor allem seine Lesefrüchte aus Kommentaren zum 1Joh. H. folgt meist Brown (AncB 1982) und Klauck (EKK 1991), referiert gelegentlich auch Bultmann (KEK 2. Aufl. 1969), Schnackenburg (HThK 8. Aufl. 1984) und in Einzelfällen fünf weitere Kommentare.
Seine Arbeit geht davon aus, dass 1Joh an das JohEv anknüpft (22–24). Die These, nach der 1Joh vor dem JohEv anzusetzen sei, kennt H. nur aus Schnelles »Einleitung in das Neue Testament«. Dessen einschlägige Fachbeiträge, wie auch die anderer, die ebenfalls 1Joh für älter als das Evangelium erachten, bespricht H. nicht. Hier wie sonst vermute ich, dass H. vor der überbordenden Literatur zum Corpus Johanneum kapitulierte. Er listet neun Kommentare zum 1Joh, vier zum JohEv auf, an übriger Literatur nennt er – einschließlich allgemeiner Einführungsliteratur – gerade 33 Titel. Ich würde H. die kleine Literaturauswahl sofort nachsehen, wenn er seine Beobachtungen durch philologische Präzision am Urtext des 1Joh oder einschlägigen Vergleichstexten vorstellte. Doch H. fasst über weite Strecken seine Lesefrüchte aus wenigen Werken der Sekundärliteratur zusammen und vergleicht diese. H. teilt auch mit, wenn er eine Auslegung für »sehr schön« erachtet (184, Anm. 4 zu Brown). Gerade weil ich ihm bei seinen Ergebnissen und meist auch bei seinen Wertungen gerne beipflichte, hätte mich eine Auseinandersetzung am Text des 1Joh interessiert, bei der Gegenthesen angemessen zu Wort kommen und entkräftet werden.
Der 3. Teil (369–402) fasst zunächst die Ergebnisse zusammen. Der 1Joh erkenne die angesichts der aktuellen Gegnerbedrohung notwendige Interpretationsbedürftigkeit der johanneischen Tradition. Er wähle aus dem Pool der Traditionen bestimmte aus, kombiniere diese zum Teil neu und lege offene Deutungsmöglichkeiten in seinem Sinne fest.
Abschließend bringt H. ein Relecture-Programm als vermeint­liche Grundkategorie einer biblischen Theologie ins Gespräch (386–402). Er stellt unter der Überschrift Relecturen Schriften vor, die üb­licherweise als literarisch abhängig von anderen neutestamentlichen Schriften gedeutet werden: So der 2Thess vom 1Thess, Eph vom Kol, Mt und Lk von Mk, Kol und 1Petr gegenüber älteren Paulusbriefen. Dass die Textsammlung, die wir Neues Testament zu nennen ge­wohnt sind, vielfältige Relecturen voraussetzt und er­möglicht, ist sicher richtig. H. fügt in seinem Ausblick sehr unterschiedliche Benutzungsverhältnisse unter der Überschrift Relecture zusammen. Ähnlich wie sich der 1Joh auf die auch bei seinen Lesern anerkannte Textgrundlage des JohEv positiv anknüpfend bezieht, also symbiotisch mit dem bekannten Text umgehen will, funktioniert etwa die Relecture des Kol gegenüber der Paulustradition. Schon das Verhältnis des Eph zum Kol ist anderer Art. Die Übernahme der Grußliste des Kol im Eph will schwerlich als Relecture erkannt werden und der Eph strebt nicht an, die theologische Autorität der Namensliste des Kol-Textes auf die besondere gegenwärtige Situation anzuwenden. Hier wäre eine parasitäre von einer symbiotischen Relecture oder Intertextualität zu unterscheiden. Die theologische Bedeutung dieser Benutzungen erschließt sich aber m. E. nicht in der pauschalen Subsumption unter einen Begriff, sei er Relecture oder Intertextualität, sondern in den unterschiedlichen und sehr individuell zu beschreibenden Traditionsverarbeitungen.
Im Falle des 1Joh wäre eine wichtige Frage, wieweit für 1Joh die joh Tradition schriftlich in Texten des JohEv gefasst vorliegt. Da z. B. 1Joh 1,5 mit den Worten »Gott ist Licht« auf eine Botschaft/Verkündigung (ἀγγελία) verweist, die wenn überhaupt nur sehr indirekt auf das JohEv zurückgeht (163–168), ist für ihn offenbar die anerkannte Tradition noch nicht in einem bestimmten Text des JohEv fixiert. Auch das sonst im Corpus Johanneum fremde Stichwort »Gemeinschaft« (κοινωνία) in 1Joh 1,3.6 f. lässt sich nicht als »Relecture« aus dem JohEv erklären (vgl. 373). Wenn man die Einflussnahmen zusammenstellt, steht einer großen Zahl von Themen, die in Gedanken und Sprache durch das JohEv vorbereitet sind, eine kleine Zahl nicht aus dem JohEv ableitbarer Themen gegenüber. Letztere erscheinen als Ausnahmen, die H.s These letztlich stützen.
H. zeigt in der Summe überzeugend, dass der 1Joh sich wohl an eine Leserschaft wendet, der Joh 1–20 vertraut ist. 1Joh knüpft an das JohEv an und führt dessen theologische Ausrichtung auch eigenständig weiter. Wenn ältere Exegeten den 1Joh einen »johanneischen Pastoralbrief« nannten (Conzelmann) oder als ein klärendes Begleitschreiben zum JohEv deuteten (Brown), meinten sie doch recht Ähnliches wie H. mit dem Begriff Relecture.