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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

48-50

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Cosby, Michael R.

Titel/Untertitel:

Apostle on the Edge. An Inductive Approach to Paul.

Verlag:

Louisville: Westminster John Knox Press 2009. XIII, 322 S. m. Abb. gr.8°. Kart. US$ 34,95. ISBN 978-0-664-23308-2.

Rezensent:

Christian Noack

Mit diesem Buch liegt ein Arbeits- und Übungsbuch zu Paulus für Studierende vor, die ein nur geringes historisches Vorwissen besitzen. Es geht auf eine Lehrveranstaltung für Collegestudierende (am Messiah College, Pennsylvania) mit dem Titel »Apostle to the Gentiles: Paul in Acts and His Letters« zurück. Cosby will die Leser zu einem historischen Verständnis der Persönlichkeit des Apostels Paulus hinführen. Ein eher evangelikaler Hintergrund der Leser wird vorausgesetzt. C. möchte vorsichtig und nicht überfordernd das kontextuelle Lesen der paulinischen Texte einüben. Dabei bringt er auch persönliche Erfahrungen aus der Zeit ins Spiel, als er selbst noch »Anfänger« war. Mit didaktisch-methodischer Geschick­­lichkeit versucht er, die Leser in die mediterrane Antike mitzunehmen, damit sie Paulus im Kontext jüdischer und hellenistischer Religiosität verstehen können, um dann mit diesem Hintergrundwissen wieder an die Gegenwart anzuknüpfen. Zu diesem Zweck werden vielfältige Illustrationen (s/w-Fotos, Quellenausschnitte, Karten, Übersichten, aktualisierende Fragestellungen) verwendet; jedes Kapitel enthält außerdem ein Glossar und kurz kommentierte Lektürehinweise. Das großzügige, zweispaltige Layout und viele unterhaltsame Überschriften (z. B. »Galatians: A furious Apostle strikes back« oder zu 1Kor 12–14 »Controlling Charismania«) laden zum Schmökern und Weiterlesen ein.
Als »induktiver Zugang« zu Paulus ist das Buch in mehrfacher Weise angelegt. Es beginnt mit ausführlichen Hintergrundinformationen zum kulturellen und religiösen Kontext seiner Zeit (Kapitel 2–4). Eine Vielzahl wichtiger jüdischer, griechischer und römischer Quellen in oft längeren Textauszügen lernt der Leser kennen (z. B. Josephus, Psalmen Salomos, 1Henoch, Theophrast, Pausanias, Apuleius). In Kapitel 5 kann sich der Leser dann mit 56 (!) Fragen das Paulusbild in der Apg erarbeiten. Danach unterstützt C. den Leser bei der Lektüre der einzelnen Briefe des Paulus in der vermuteten Reihenfolge ihres Entstehens (Kapitel 6–17). Die Lektüre der Briefe ist zwar mit Hinführungen und manchen Erläuterungen angeleitet, das Hauptgewicht liegt aber auf didaktischen Fragen ( inductive questions) zu kurzen Textabschnitten, mit denen der Leser sich das Textverständnis selbst erarbeiten soll. Diese Fragen führen und steuern deutlich wahrnehmbar das Textverständnis. Für Notizen ist genug Zwischenraum gelassen (in der Regel 6–8 Leerzeilen). Zwei Beispiele für solche Fragen aus dem Kapitel zum Philipperbrief: »According to 1:19–26, what does Paul now believe about his own death?« – »How does it compare with his view in 1 Thessalonians 4:13–18 and 1 Corinthians 15:51–52?« Eine Antwort oder vertiefende Erläuterung fehlt zu diesen Fragen nicht nur hier, sondern auch an vielen anderen Stellen. Erklärungen finden nur exemplarisch statt, dann aber sehr genau und so, dass die griechischen Wendungen in ihrem kulturellen Kontext verstehbar werden. Ziel dieses Verfahrens ist offenbar, dass der Leser die Briefe möglichst gründlich liest und dadurch zu einem urteilsfähigen Leser der Paulusbriefe wird. Das 18. Kapitel besteht darum ausschließlich aus Aufgabenstellungen, mit deren Hilfe der Leser sein eigenes Bild von der Persönlichkeit des Paulus erarbeiten kann (»Your View on the Apostle Paul«). Schließlich wird mit einem spannenden Kapitel (Kapitel 16) sehr umsichtig zur Frage der Pseudepigraphie hingeführt (»Monsters in the Closet: The Problem of Pseudonymity«). C. möchte den Lesern Argumente an die Hand geben, um selbst über die Autorschaft der umstrittenen Briefe urteilen zu können (zu 2Thess, Kol, Eph, Past).
Welches Paulusbild nun vermittelt das Lehrbuch? Inwiefern ist Paulus »Apostle on the Edge«? Ein wesentliches Anliegen ist die Herausarbeitung der Gefühle (Emotionen, Stimmungen), denen Paulus in seinen Briefen Ausdruck gibt. Damit geht C. auch auf das Vorverständnis seiner intendierten Leserinnen und Leser ein: Ge­fühle machen eine Person interessant und packen den Leser. Die Theologie des Paulus tritt dadurch auffällig zurück: »Many do not encounter Paul when reading his Letters in the New Testament. They focus so much on theological and devotional content of his words that they miss the man. Failure to recognize his angry outbursts and sarcastic put-down limits our ability to understand him.« (1) – »Christians often become so involved in digging for doctrine in Galatians that they miss much of the emotion.« (121) C. liegt daran, die aggressiven Stellen bei Paulus verständlich zu machen; er möchte zeigen, dass sie für den Argumentationsstil seiner Zeit typisch sind. Paulus übertreibe außerdem gerne ( hyper­-bole), um Nachdrücklichkeit zu erzeugen (266). Solche Übertreibungen (overstatements) fänden sich in Röm 1,18–3,20 (kein Mensch tut Gutes), in Phil 4,4–6 (sich allezeit freuen), bei Darstellung des Glaubens Abrahams in Röm 4 (ohne Rücksicht auf anders geartete alttestamentliche Bezüge) oder auch bei der Prädestinationszusage in Röm 8,28–30. Mit dieser Theorie zur Rhetorik des Paulus entschärft C. die Radikalität von theologischen Aussagen, u. a. auch die prädestinatianischen Texte. Dass Paulus den freien Willen voraussetzt, ist für C. ausgemacht (er rechnet dies dem pharisäischen Hintergrund zu, 26). Auffällig oft betont er in seinen Erläuterungen die futurischen eschatologischen Aussagen bei Paulus, vgl. z. B.: »When Paul proclaimed salvation in Jesus Christ, he also preached that the Lord would soon return to judge the living and the dead. For Paul, time on earth was about over, and this greatly affected his views on life.« (99) Die präsentische Eschatologie bei Paulus kommt kaum zur Sprache. Die Dialektik zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie wird nicht sichtbar, auch wenn die Überlappung der Äonen (overlapping of the ages) in einem Schaubild deutlich gemacht wird (107). Es bleibt bei einem blassen »already they experienced some of the benefits of God´s rule.« (108)
Schwerer aber wiegt: Bei Paulus als Apostel ist die Person nicht von der Sache des Evangeliums zu trennen. Diese wesentliche Einsicht wird von C. nicht vermittelt. Das, was Paulus tatsächlich bewegt, die Bewältigung von Problemen vom Wort und von der Sache des Evangeliums her, kommt darum nicht zu Gesicht. Wer die »Persönlichkeit« des Paulus in den Blick bekommen will, kommt nicht umhin, sein Apostolatsverständnis, seine Bezogenheit auf das Evangelium als schöpferisches Wort Gottes und die in der Partizipation an Christus geschenkte Heilsgegenwart zu thematisieren. Dennoch: In jedem Fall werden die Briefe in ihrem ursprünglichen Kontext lebendig gemacht – besonders gut gelingt das beim Kapitel zum 1. Korintherbrief, das geradezu fesselnd geschrieben ist. Das Buch bietet genug Lektüreempfehlungen für Anfänger, um von der Person des Paulus zur Theologie des Paulus weiterzugelangen.
Die Didaktik des Lehrbuchs wirkt auf den deutschen Leser trotz der beabsichtigten »induktiven« Methode etwas gängelnd. C. kommentiert mit Augenzwinkern in der Widmung an Studenten seiner Lehrveranstaltung: »Most admitted at the end of the semester that they were very glad that they did all of the work that this textbook requires.« Aber: Wer dieses Buch fleißig durchgearbeitet hat, ist tief in die kulturelle Welt des Paulus und seiner Gemeinden eingedrungen. Und das ist eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung dafür, die Sache zu verstehen, von der Paulus bewegt wurde.