Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

175–177

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Reimer, A. James

Titel/Untertitel:

Emanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. 488 S. gr.8°. Lw. DM 197,-. ISBN 3-11-012933-7

Rezensent:

Dirk-Martin Grube

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die von Doris Lax vorgenommene Übersetzung von "The Emanuel Hirsch and Paul Tillich Debate: A Study in the Political Ramifications of Theology" (Lewistown/USA: The Edwin Mellen Press, 1989). Die Studie reflektiert das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung R.s mit dem Verhältnis beider Theologen zueinander, die in einer entsprechenden Dissertation kulminiert ist, aus der dann der vorliegende Band entstanden ist (vgl. XI, auch V und VIII). Die Tatsache, daß der Vf. als kanadischer Mennonit weder in konfessioneller noch in nationaler Hinsicht in der fraglichen Debatte einseitig interessengebunden ist, gibt ihm die Möglichkeit, die unbelastete Sichtweise des Außenstehenden einnehmen zu können. So wird die verbreitete Position, Tillich hätte in der Debatte von 1934-35 das Recht auf seiner Seite gehabt, hinterfragt, in einigen Punkten auch umgekehrt, wobei der Vf. allerdings niemals die notwendige Neutralität verliert. Auch die Tatsache, daß Hirsch wesentlich umfangreicher behandelt wird als Tillich, ist weniger mit persönlichen Präferenzen denn einfach damit zu erklären, daß Hirschs Werke in den USA weitgehend unbekannt und bisher kaum übersetzt sind (vgl. XIII). So überzeugt denn auch R.s. Versicherung, daß bei der Behandlung des fraglichen Materials weniger theologische Vorlieben eine Rolle gespielt haben denn der Versuch, vereinfachende Urteile zugunsten einer differenzierten Sichtweise zu vermeiden (vgl. XV).

Die Studie ist in drei Teile untergliedert, deren Überschriften den jeweiligen Inhalt zu erkennen geben: Der erste Teil ist "Ein biographisch-intellektuelles Portrait" überschrieben, der zweite "Politische Ethik und theologische Voraussetzungen", der dritte "Grundlegende Fragen der Debatte von 1934-35". Zwar sind zumindest die ersten beiden Teile in sich chronologisch geordnet, die Abfolge der drei Teile erfolgt jedoch nicht nach zeitlichen Gesichtspunkten. Der Vf. verwendet zur Verhältnisbestimmung der drei Teile zueinander das Bild von "konzentrischen Kreisen" (IX). Dabei liegt der Fokus des Buches auf dem innersten Kreis, nämlich dem dritten Teil, der als "Angelpunkt" (IX) der Studie bezeichnet wird und die eigentliche Diskussion zwischen Tillich und Hirsch in den Jahren 1934-35 behandelt. Im ersten und zweiten Teil geht R. dagegen ausgiebig auf den persönlichen und geistigen Werdegang beider Theologen von 1907 bis 1933 ein und berücksichtigt insbesondere ihre zumindest anfänglich sehr enge und von gegenseitigem Respekt getragene Freundschaft (Kap. 1-4). Dabei fördert er in biographischer Hinsicht interessante Details zutage. So weist er nach, daß sich Tillich und Hirsch, anders als in der einschlägigen Sekundärliteratur zumeist behauptet, schon vor 1908 befreundet haben müssen, da sich Hirsch in einem Brief an einen Besuch des erkrankten Tillich erinnert, der schon 1907 stattgefunden haben soll (3f. Fußnote 1,). R. vermeidet es dabei im allgemeinen, das theologische Werk allein durch biographische Befunde erklären zu wollen, übernimmt aber z. T. etwas zu unkritisch die aus der einschlägigen Sekundärliteratur, bzw. den entsprechenden Selbstbeschreibungen, bekannten psychologischen Reduktionen (etwa dort, wo er Tillichs frühen Protest gegen alle Formen von väterlicher u. ä. Autorität mit dessen späterer Zurückweisung jeglicher Heteronomie in eine enge konzeptionelle Verbindung bringt, s. 18 ff.).

Mancher deutsche Leser mag sich bei einer derart materialreichen Studie eine Präzisierung ihrer Gesamtkonzeption wünschen. Besonders mag dabei die Frage nach dem Verhältnis der Teile I und II zu Teil III, der eigentlichen Tillich/Hirsch-Debatte, besagtem "Angelpunkt", gestellt werden. Die beiden ersten Teile, die zusammen immerhin zwei Drittel der Studie ausmachen, sollen sicherlich mehr denn nur hinführenden Charakter zum Schlußteil besitzen. Doch wie ist die zwischen den drei Teilen vorherrschende Sachlogik genau zu bestimmen? Der Vf. scheint diese Frage zu erahnen und mit dem Bild der konzentrischen Kreise beantworten zu wollen, hätte letzteres aber näherhin explizieren können.

Die Tatsache, daß die Argumentation nicht rein chronologisch verläuft, dürfte denn auch für manche Wiederholungen zwischen den einzelnen Teilen verantwortlich sein. Allerdings finden sich auch Repetitionen innerhalb der einzelnen Teile, besonders im Falle von Zitaten. So wird dasselbe Zitat bisweilen an anderer Stelle wiederholt (z. T. sogar mehrmals). Exemplarisch sei dafür auf das Barth-Zitat auf S. 342 (Fußnote 11) hingewiesen, das wenige Seiten vorher schon ausführlicher zitiert worden war ( 340, Fußnote 8; vgl. ähnlich 62, 324, 415 u.ö.). Durch das Weglassen derartiger Wiederholungen hätte der Argumentationsgang gestrafft werden können.

Formale Beanstandungen dieser Art können allerdings nicht über den inhaltlichen Wert der Studie hinwegtäuschen, die unkonventionelle und anregende Thesen bietet. So versucht R. nachzuweisen, daß sich in Hirschs Theologie von ihren Anfängen bis zum fraglichen Zeitpunkt 1934 eine gewisse Kontinuität aufweisen läßt. Aus dem Nachweis, daß Hirschs Denkkategorien entweder schon vor 1934 vorlagen, bzw. in anderer Weise als bei Tillich verwendet werden (Hirschsche Begriffe wie "Stunde", "Augenblick" unterscheiden sich bei genauerer Untersuchung vom Tillichschen Kairosbegriff, und auch der Begriff der "Grenze" wird anders verwendet, vgl. 390 ff., 401 u. ö.), zieht R. die Konsequenz, daß der zumindest implizit in Tillichs erstem öffentlichen Brief enthaltene Plagiatsvorwurf unhaltbar ist. Damit stellt er sich gegen den weitverbreiteten Vorwurf, Hirsch hätte den religiösen Sozialismus, insbesondere den Tillichschen Kairosbegriff, in unlauterer Weise beerbt. R. sucht stattdessen die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Theologen in Faktoren wie ihrer gemeinsamen Wurzel im deutschen Idealismus u.ä.

Daß die Studie insgesamt eher theologiegeschichtlich orientiert ist, hält den Vf. nicht davon ab, eine systematisch-theologische Auswertung vorzunehmen. Im Schlußkapitel (Kap. 10) untersucht er die Relevanz der Hirsch/Tillich-Debatte für die politische Aufgabe der Theologie. Der systematisch-theologisch interessierte Leser findet in diesem Kapitel durchaus bedenkenswerte Thesen, wie etwa die, daß der Tillichsche Kairosbegriff zu formal konstruiert ist, aus ihm also keine eindeutigen Kriterien gewonnen werden können, so daß er zur Legitimation ganz verschiedener ethisch-politischer Zielsetzungen geradezu einlädt (vgl. 461).

R. geht in diesem Kapitel auch auf Robert P. Ericksens These ein, daß die ethisch-politischen Entscheidungen in der damaligen Zeit eher durch subjektiv-persönliche denn durch genuin theologische Faktoren zu erklären sind. Dabei distanziert sich der Vf. trotz weitgehender Zustimmung letztendlich doch von Ericksen und wirft diesem vor, die theologisch-dogmatischen Unterschiede zwischen den einzelnen Theologen zu vernachlässigen (vgl. 467). Da die Entscheidung über die Verwendung eines eher biographie- denn sachorientierten Erklärungsparadigmas wie des Ericksenschen ja nicht am zur Erklärung anstehenden Einzelfall gefällt wird, sondern von vorausgesetzten Annahmen über dessen Leistungsfähigkeit im allgemeinen abhängt, mag sich mancher Leser eine eingehendere Begründung der entsprechenden Ansichten des Vf.s wünschen, was sich zum generellen Vorwurf verdichten mag, daß die Übergänge vom Historischen zum Systematischen bisweilen etwas zu thetisch sind.

Doch sollte bei derartiger Kritik im Auge behalten werden, daß das Schwergewicht dieser Studie im theologiehistorischen Bereich liegt und die systematisch-theologische Auswertung eher ein "donum superadditum" darstellt, daß nicht mit den in einer rein systematisch gehaltenen Studie anzuwendenden Kriterien zu messen ist. Derselbe Vorbehalt sei schließlich auch noch angebracht gegenüber der möglichen Kritik, daß die systematisch-theologische Auswertung der historischen Befunde hinter den hohen Ansprüchen zurückbleibt, die sich im englischen Untertitel und im Vorwort finden, wo etwa vom Modellcharakter beider theologischer Entwürfe die Rede ist (vgl. X, s. auch IX).

Der Systematiker mag zwar hier einwenden, daß, wenn beide Entwürfe wirklich als Modelle politischer Theoriebildung in der Theologie verstanden werden, es eines differenzierten theoretischen Analyseapparates bedarf, in dem vor allem zwischen denjenigen politischen Konsequenzen unterschieden wird, die notwendig aus dem Modell als solchem folgen, und denjenigen, die nur kontingenterweise daraus abgeleitet werden, also nicht mit dem Modell per se verbunden sind und damit im Prinzip auch anders hätten konstruiert werden können (wobei unter letztere Kategorie etwa die politischen Implikationen fallen könnten, die Hirsch aus der Zwei-Reiche Lehre zu ziehen gedenkt).

Doch bleibt wiederum festzuhalten, daß derartige Erörterungen den Rahmen dieser Studie sprengen würden, deren Wert vor allem in ihrem historischen Informationsgehalt zu suchen ist und die speziell aufgrund des letzteren als sehr lesenswert empfohlen werden kann.