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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

33-35

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Klein, Anja

Titel/Untertitel:

Schriftauslegung im Ezechielbuch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XIII, 451 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 391. Lw. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-020858-0.

Rezensent:

Thilo Alexander Rudnig

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Crane, Ashley S.: Israel’s Restoration. A Textual-Comparative Exploration of Ezekiel 36–39. Leiden-Boston: Brill 2008. XVII, 304 S. gr.8° = Supplements to Vetus Testamentum, 122. Lw. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-16962-3.


Diese beiden beachtenswerten Untersuchungen zum Heilsteil des Ezechielbuches ergänzen einander thematisch und methodisch, denn der Beitrag von Crane geht textgeschichtlich, der von Klein literargeschichtlich vor. Gemeinsam ist ihnen, dass textliche bzw. literarische Befunde als Ergebnis innerbiblischer Auslegung aufgefasst werden.
Ashley Cranes Untersuchung ist die überarbeitete Fassung seiner von Daniel Block, Johan Lust und Margaret Odell betreuten Dissertation, mit der er an der Murdoch University in Perth/ Australien zum Ph.D promoviert wurde. Der Autor geht von der mittlerweile breit akzeptierten Einsicht aus, dass Textforschung nicht die Suche nach einem zu postulierenden »Urtext« darstellt, sondern den verschiedenen Überlieferungen als gleichwertigen Zeugen einer frühen jüdischen Exegese Rechnung zu tragen habe (1. Kapitel, 1–6). Er begrenzt seine Arbeit auf den MT und die LXX, die er sowohl untereinander (»inter-textual«) als auch in ihren innerhebräischen und innergriechischen Varianten (»intra-textual«) vergleicht und diskutiert. Dabei wird auch die Absatzgliederung der Handschriften berücksichtigt, da sie Signale für die Interpretation setze. Im Anschluss an derartige Grundsatzüberlegungen und an eine kurze Sichtung der ältesten hebräischen und griechischen Textzeugen (2. Kapitel, 7–33) führt Crane für Ez 36–39 sein Programm durch, das er als »a textual comparison to determine any variants that may indicate theological or exegetical activity« beschreibt (3.–6. Kapitel, 35–205; Zitat 35). Breitere Ausführungen sind dem vorhexaplarischen LXX-Papyrus 967 gewidmet (7. Kapitel, 207–264). Dessen vom MT abweichende Textfolge (c. 37 folgt auf c. 39) sowie das Fehlen von 36,23c–38 ist für Crane die ursprüngliche Textfassung. Die Abweichungen im MT werden damit erklärt, dass mit ihnen während der hasmonäischen Zeit (ca. 165–50 v. Chr.) eine theologische Konzeption verfolgt werde, nach der nur ein gereinigtes (36,23c–38) und unter David geeintes (37,15–28) Israel gegen die Bedrohung durch Gog (c. 38 f.), d. h. realiter die seleukidischen oder römischen Armeen vorzugehen vermöge. Ein Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen (265–270). Das anschließende Literaturverzeichnis (271–289) berücksichtigt fast nur englischsprachige Titel. Ein Abkürzungsverzeichnis zu Anfang (XV–XVII) sowie die Indizes zu Textstellen (291–298), Autoren (299–301) und Stichworten (302–304) tragen zur Benutzbarkeit der klar strukturierten Untersuchung bei.
An Cranes Arbeit ist zu begrüßen, dass viele Textabweichungen nicht einfach als Abschreibefehler oder Glossen erklärt, sondern in ihrer Rolle im Auslegungsprozess der jüdischen Gemeinde gedeutet werden. Das detaillierte Vorgehen des Autors zeitigt viele interessante Einzelbeobachtungen, auch der Vergleich der innergriechischen Varianten (vor allem Papyrus 967, Codex Vaticanus und Alexandrinus) ist aufschlussreich. Grundsätzlich erscheint jedoch als Problem, dass es oft bei einer bloßen Auflistung von Befunden bleibt, deren Beobachtung ohne weitere Interpretation wenig einträgt. Außerdem wirkt sich gerade im Blick auf Papyrus 967 negativ aus, dass die Auseinandersetzung mit nichtenglischsprachiger Forschungsliteratur weitgehend fehlt. Gegenüber den Thesen von Pohlmann, BZAW 202, 84–87; ders., ATD 22/2, 524 f. oder Schwagmeier, Dissertation 2004, 180–186.272–297, bringt hier Cranes Un­tersuchung kaum neue Einsichten. Gleichwohl ist in ihr eine brauchbare Service-Leistung zu sehen, die man zur Hand nehmen wird.
Die Erkenntnis, dass »literarische Fortschreibungsprozesse im Alten Testament als Vorgänge von innerbiblischer Rezeption und Auslegung beschrieben werden können« (1) ist für die Arbeit von Anja Klein leitend. Die leicht überarbeitete Fassung der von Reinhard G. Kratz betreuten und von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommenen Dissertation beeindruckt nicht nur durch genaue und methodisch sehr umsichtige literarische Analysen, sondern auch durch die Fähigkeit der Autorin, ihre Ergebnisse zu einer überzeugenden These zusammenzuführen.
Ein klarer und erfreulich konziser Forschungsbericht (Kapitel I, 3–32) begründet Kleins Vorgehen nach einem buchorientierten Ansatz, bei dessen Durchführung »von der Ebene des masoretisch bezeugten Buchganzen aus die einzelnen diachronen Ebenen nacheinander analytisch abgetragen werden« (79) und der paradigmatisch an Ez 34 als Auftakt der Heilsverkündigung durchgeführt wird (Kapitel II, 24–80). Wie in der Arbeit von Crane gilt Klein dabei die Textfolge von Papyrus 967 als ursprünglich. Nach den umfang­reichen Textanalysen in Kapitel III (81–348) werden unter der Überschrift »Redaktion als Rezeption« Ergebnisse zusammengefasst und für ein redaktionskritisches Gesamtbild des Ezechielbuches ausgewertet (349–408). Eine Schichtentabelle (409), ein um­fangreiches Literaturverzeichnis (411–432) und ein Stellenregister (433–451) runden das Werk ab.
Für Klein ist das Ezechielbuch ein Kompendium der alttestamentlichen Schriftprophetie, hinter dem kein historischer Prophet »Ezechiel« auszumachen ist. Vielmehr kann es durch seine mid­raschartigen Fortschreibungen als Vorläufer jüdischer Auslegungs­literatur gelten. Bei Ez 34–39 ist mit einer Entstehung von der mittleren Perserzeit bis zum 3./2. Jh. v. Chr. zu rechnen; dabei ist eine Datierung in hellenistische Zeit vor allem für letzte Fortschreibungen in den Gog-Kapiteln wahrscheinlich.
Nach Klein begegnet in Ez 36,1–11*; 37,1–6* eine land- und golaorientierte Grundschicht, die an einen Grundbestand der Fremdvölkerworte in Ez 25,1–26,6* anschließt und durch die Vision von der Rückkehr der Herrlichkeit in den Tempel 43,2–5* abgeschlossen wird. Diese Grundschicht bewegt sich auf der Ebene der anfänglichen Buchkomposition. Zwei Schübe von Fortschreibungen (Ez 33,23–29*; 35,1–12*; 36,8b; 37,11–13a* sowie 34,1–10*; 37,13b–14*.15–19*) führen die Intention der Grundschicht fort: Es geht um die Restitution des Landes, die Wiederbelebung und Heimführung der ersten babylonischen Gola sowie die Situation im Land. Prägend für diese Texte ist deren große Bildhaftigkeit.
Dagegen sind die folgenden Schichten durch den Rückgang von Metaphern, die Zunahme von literarischen Referenzen und die Sys­tematisierung der Heilsaussagen im Ezechielbuch gekennzeichnet. Mit den diasporaorientierten Texten 34,11–15*; 36,12–15; 37,20–23* werden die Heilsverheißungen auf die unter die Völker zerstreute Diaspora ausgeweitet. Diese Fortschreibung stößt weitere diasporaorientierte Nachinterpretationen an (z. B. 34,23 f.*; 37,25–28) sowie einen Auslegungsprozess in den Kapiteln 36,16–39,29, in dem JHWHs heiliger Name diskutiert wird. Dabei wird die Textfolge 36,16–22; 39,23–29* durch die Einfügung der Gog-Perikope 38 f. sekundär zerteilt. Götzenpolemische Eintragungen (33,25–27*; 36,18*; 37,23*) gehören in die späte Phase der Buchentstehung. Zuletzt werden Ez 34–39 zur masoretischen Textfolge umgestellt und 36,23bb–32(38) eingetragen.
Kleins Untersuchung erfreut durch ihr differenziertes Vorgehen. Ihre Analysen werden bewegte, auch kritische, gewiss aber konstruktive Diskussionen hervorrufen. Man könnte etwa fragen, ob die auf S. 396–398 geäußerten, rein konzeptionellen (und nicht literarischen) Überlegungen für die These ausreichen, Ez 43,2–5* habe den Grundbestand des Ezechielbuches abgeschlossen. Ferner wäre manchmal eine griffigere Aufbereitung von Zwischenergebnissen im Analyseteil hilfreich gewesen. In jedem Fall liegt mit der Arbeit von Klein eine Untersuchung vor, die die Forschung am Ezechielbuch wesentlich weiterbringt.