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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

29-31

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef

Titel/Untertitel:

Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. IX, 367 S. m. Abb. u. Tab. gr.8°. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-16-150015-2.

Rezensent:

Johannes Zimmermann

Nach »Säkularisierung – ein moderner Mythos?« (2003) legt der mittlerweile in Münster lehrende Religionssoziologe Detlef Pollack einen zweiten Band mit »Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa« vor. P. geht aus von einer »neuen Meistererzählung in den Sozialwissenschaften … Statt des Niedergangs der Religion in der Moderne ist die Rede von ihrer Wiederkehr« (8 f.). Er selbst will »für die bleibende Gültigkeit des Säkularisierungstheorems empirische Evidenz« beibringen (10). Dazu stellt er zunächst differenziert und ausführlich drei konkurrierende religionssoziologische Modelle vor (Kapitel 1).
Die Kernthese der Säkularisierungstheorie besteht in der An­nahme, dass Prozesse der Modernisierung »einen letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen« ausüben (20). Damit können viele religiöse und kirchliche Veränderungsprozesse gut beschrieben werden, allerdings wird Religion nur statisch betrachtet und kommt nicht als dynamischer Faktor in den Blick. Im Gegensatz dazu behauptet die ökonomische Markttheorie, dass ein religiöser »Markt« mit vielen in Konkurrenz stehenden Anbietern stimulierend auf die Vitalität von Religionsgemeinschaften wirke. Die Kirchen werden hier als aktive Gestalter ihres Schicksals gesehen. Voraussetzung dafür sei eine strikte Trennung von Kirche und Staat; zugleich muss ein gleichbleibender »Bedarf« an Religion angenommen werden.
Das dritte Modell, die Individualisierungsthese, dominiert derzeit unter den europäischen Religionssoziologen. Sie geht aus von der Annahme, »das Verhältnis der Einzelnen zur Religion habe sich aus der Vormundschaft der großen religiösen Institutionen gelöst und sei zunehmend in die Verantwortung der Individuums ge­stellt« (45). Der Bedeutungsverlust der religiösen Institutionen sei aber nicht gleichbedeutend mit dem Rückgang individueller Religiosität, sondern gehe vielmehr einher mit deren Aufschwung. Aber ist die soziale Bedeutung nicht-institutionalisierter Religiosität tatsächlich so hoch wie angenommen? »Eher wäre zu erwarten, dass die subjektive Religiosität zurückgeht, wenn sie nicht mehr durch religiöse Institutionen … abgestützt wird« (58).
In den nächsten Kapiteln fragt P. in empirischen Analysen nach der Plausibilität der Modelle. Dabei kommen Westeuropa (Kapitel 2), Osteuropa (Kapitel 3) und die Entwicklung in Deutschland seit 1990 (Kapitel 4) in den Blick. P. geht aus von den Dimensionen der Religiosität nach Glock und sieht in den Ergebnissen eine empirische Evidenz für die Säkularisierungstheorie: »Von einer Renaissance des Religiösen kann sowohl hinsichtlich des Kirchgangs als auch hinsichtlich des Gottesglaubens in Westeuropa also keine Rede sein« (85). Ebenso ist eine Abnahme der Zentralität und der sozialen Relevanz des Religiösen zu beobachten. – Auch wenn kein notwendiger Zusammenhang zwischen Modernisierung und Sä­kularisierung besteht, kann man sagen, »dass die Prozesse der Modernisierung auf das religiöse Feld insgesamt einen eher negativen Einfluss ausüben« (104). Das hängt mit der »Signatur des Religiösen in den modernen Ländern des Westens« (104) zusammen. Sie sind »weniger durch bekenntnisstarke Glaubensgemeinschaften charakterisiert als durch fluide, sozial nur schwach institutionalisierte … Gruppierungen mit schwachem Lehrprofil und einer hochabstrakten religiösen Vorstellungswelt« (104).
Sieht man die erstaunliche Vitalität religiöser Gemeinschaften in anderen Teilen der Welt, könnte hier weiter gefragt werden, wie in soziologischer Perspektive Formen von Religiosität aussehen, die – jenseits fundamentalistischer Engführungen – modernitätsre­sistent oder gar -produktiv sind. Auch für Osteuropa und das wiedervereinigte Deutschland kann die Säkularisierungsthese »die größte Erklärungskraft für sich beanspruchen« (149). Das Marktmodell hingegen bewähre sich unter volkskirchlichen Verhältnissen nicht, den Individualisierungstheoretikern schreibt P. ins Stammbuch, dass der Formenwandel des Religiösen zugleich einen Bedeutungsverlust mit sich bringe.
Weiter befasst sich P. mit dem Ort der Kirche in der Zivilgesellschaft (Kapitel 5) und der Wahrnehmung der neuen religiösen Vielfalt in der deutschen Bevölkerung (Kapitel 6). Ausgehend von »Kirche der Freiheit« geht es dann um die Frage nach den Grenzen kirchenreformerischen Handelns angesichts unterschiedlicher Formen individueller kirchlicher Bindung (Kapitel 7). P. sieht eine Spannung zwischen den Erwartungen von Distanzierten und Verbundenen. »Eine einseitige Ausrichtung auf Profilschärfung, Öffnung und Wandel führt in die Sackgasse, denn sie überfordert die Handlungsmöglichkeiten der Kirche« (196). Angesichts der Abbrüche sei es »schlicht unrealistisch, gegen den Trend wachsen zu wollen« (197). Mehr noch: Das Impulspapier könne auf eine Selbstüberforderung mit nachfolgender Resignation hinauslaufen (197). Eine religionssoziologische Analyse zum Kircheneintritt beendet den ersten Teil (Kapitel 8). Unter den Gründen für einen Eintritt »er­weist sich die Stützung der Einzelbeziehungen durch Beziehungsnetzwerke und Freundschaftsgruppen und ihre Einbettung in soziale Milieus als entscheidend« (202).
In einem zweiten, kürzeren Teil folgen »Historische Perspektiven«. Dabei fragt P. u. a. nach der »Steuerungskraft der Theologie« (246). Eines der Kapitel ist dem »Schicksal der evangelischen Kirchen in der DDR« gewidmet und führt in das Thema der Habilitationsschrift von P. ein (Kapitel 11). In einem Überblick über die DDR-Zeit verbindet P. historische Entwicklungen mit soziologischen Überlegungen. Nachdem die evangelischen Kirchen jahrzehntelang versuchten, das System zu verbessern, fanden sie sich in der Wendezeit wie in der Anfangszeit auf der »Gegenseite zum offiziellen Regime« (275) wieder. Erklärungsmuster für den Mitgliederrückgang in der DDR (»Ende des Konstantinischen Zeitalters«, »Gott will keine privilegierte Kirche«, »Verheißung für die kleine Schar«) sieht P. kritisch als theologische Legitimation der politisch betriebenen Schwächung der Kirche, sie laufen »auf eine Verharmlosung der politischen Unterdrückung der Kirchen in der DDR hinaus« (265).
Am Ende stehen »Überlegungen zum Begriff und Phänomen der Konversion aus religionssoziologischer Perspektive« (Exkurs, Kapitel 15). Dieser für Theologen geradezu ideale Überblicksartikel führt in die unterschiedlichen Stränge der Konversionsforschung ein, die von den Klassikern der Konversionsforschung bis hin zu konstruktivistischen Ansätzen und neueren Entwicklungen reichen. Konversion wird definiert als »radikaler Wandel des individuellen Selbst- und Weltverständnisses« (318). Gehören dazu aber notwendig auch »die negative Stigmatisierung der Vergangenheit« (320) und der Ausschluss einer kritischen Reflexion des Welt- und Selbstverständnisses (322)?
P. legt einen in didaktischer Hinsicht vorbildlichen Band vor, der verständlich in komplexe empirische Befunde und die entsprechenden soziologischen Diskussionen einführt. Dass P. dabei eine profilierte Position vertritt, die quer zum Mainstream vor allem der protestantischen Kirchen- und Religionssoziologie steht, mindert nicht das Gewicht seiner empirisch fundierten Argumente. Auch wenn das Buch weniger eine pastorale Ermutigung darstellt, sondern eher manche Religionsträume und kirchenreformerische Visionen dämpft, tragen die soziologischen Analysen von P. zur notwendigen »Erdung« bei.