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Ausgabe:

Januar/2011

Spalte:

27-29

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Noormann, Harry [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Arbeitsbuch Religion und Ge­schichte. Das Christentum im interkulturellen Gedächtnis. Bd. 1.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 283 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8°. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-17-020029-6.

Rezensent:

Daniel Cyranka

An Lehramtsstudierende und Lehrende der Sekundarstufen I und II richtet sich dieser Band, der auch kirchengeschichtlich Interessierte in der Erwachsenenbildung erreichen möchte. Das Buch vereint als elementar angesehene Themen in sich, von der frühen Kirche bis in die Zeit der hochmittelalterlichen Armutsbewegungen. Damit eröffnet es eine Reihe kirchengeschichtlicher Sammelwerke in di­daktischer Absicht. Worin die didaktische Absicht genauer bestehe, will – angesichts des »eher konventionell« (9) erscheinenden In­haltsverzeichni ssesder einleitende Beitrag des Herausgebers Harry Noormann, Theologe und Religionspädagoge an der Universität Hannover, deutlich machen.
Unter der Überschrift »Christliche Geschichte erinnern lernen in Gegenwart der Anderen« wird zunächst die Frage der Identitäten in einer plural strukturierten Gesellschaft thematisiert. In Frage stehe der heutige Umgang mit Geschichte angesichts der Vielheit der persönlichen kulturellen, ethnischen und religiösen Konstellationen im Schulalltag. Es soll weniger darum gehen, was wirklich geschehen sei, als vielmehr darum, was erinnert werden solle. Diese ambitionierte Wendung ist aus historiographischer Perspektive nicht un­problematisch; Gleiches gilt für die Frage, wie trennende Erinnerungen im Horizont »der einen Geschichte, die sie verbindet« (11) im Sinne wechselseitiger Anteilnahme zusammenfinden können. Die diskutable Voraussetzung – die eine Geschichte – wird von Noormann auf das Problem der Deutungshoheit bezogen, die notwendig rivalisierende historische Narrative im Horizont des »Anderen« thematisiere. Was aber ist der oder das »Andere«? Dies wird hier im Sinne der Alltagserfahrung in einer pluralen Gesellschaft, nicht aber als theoretisch-methodisches Problem an sich reflektiert. Leitend sind für Noormann drei geschichtsdidaktische Begriffe, die aus seiner Sicht mit religionspädagogischen Überlegungen zum Umgang mit christlicher Religionsgeschichte konvergieren: die Vielfalt der ge­schichtlichen Narrative und die Kategorie der Erinnerung im Horizont einer Gedächtniskultur, die ihrerseits an symbolischen Erinnerungsorten lokalisiert wird. Dabei geht es Noormann vor dem Hin­tergrund von Migration und Globalisierung um drei Dialog­ebenen, die – vom Mehrheitschristentum ausgehend – die christlich-konfessionelle und die religiöse, über das Christentum hinausgehende Vielfalt berücksichtigen. Als dritte Ebene benennt Noormann den Dialog mit »Konfessionsfreien«, den er »historisch-intersäkulare[n] Dialog« nennt (14). Der Wechsel vollzieht sich hier von der Kirchengeschichtsdidaktik zur »christlichen Erinnerungsdidaktik in religiöser Pluralität« (15).
Nicht zuletzt der Topos der »Erinnerungsorte« speist sich aus den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, auf die Noormann verweist. Damit wird deutlich ein Rahmen gezogen, der sich nicht an Historizität und Kontingenz, sondern an derzeit preisgekrönten Topoi wie »Gedächtnisgeschichte« orientiert. In welchem theoretisch-methodischen Rahmen bewegen sich Aussagen, die auf der »Alltagsnähe« des kommunikativen Gedächtnisses und auf »intergenerationelle[n] Erinnerungsräume[n] ›in die Tiefe der Zeit‹ bis zu Jahrtausend alter Erinnerung« basieren (19, Anm. 35)? Welchen Erkenntniswert hat eine »erinnerungsgeleitete Relecture der Christentumsgeschichte im ökumenischen Horizont« (22 f.), wenn z. B. das Schisma von 1054 kein Gegenstand ist?
Das Buch sei demjenigen empfohlen, der sich am Projekt der »Erinnerungskultur« beteiligen möchte. Hier bietet es einen Querschnitt. Nach einem Beitrag über jüdische Erinnerungskultur (A. Greve) werden in zehn Kapiteln unterschiedlicher Autoren »elementare Kernthemen der Christentumsgeschichte bis ins ho-he Mittelalter« (22) skizziert. Als thematische Einheiten werden präsentiert: »Die frühen Christen« (J. Tloka); »Märtyrer« (dies.); »Die ›Konstantinische Wende‹« (H. Dierk); »Mönche und Nonnen« (G. Hochhauser); »Der Papst« (D. Sattler); »›Das christliche Europa‹?« (A. Angenendt/T. Habbel); »Das goldene Zeitalter. Der geerdete Traum vom friedlichen Wettstreit der Religionen?« (H. Noormann); »Die Kreuzzüge« (E. Erdmann); »Die ›Ketzer‹« (L. Vogel).
Wichtig zu lesen wäre eine Diskussion darüber, wie es zu den als »Kernthemen« bezeichneten Kapiteln kommt. Warum werden ausgerechnet diese Themen als erinnerungswürdig eingestuft und da­mit kanonisiert? Die Darstellung der Themen geschieht nach einem vorgegebenen Rahmen, der, von Problemanzeigen ausgehend, auf Gegenwärtiges lenkt, um von dort aus als symbolische Motive verstandene historische Detailbeobachtungen vorzustellen. Je nachdem, welche Perspektive leitend ist, werden historische Prozesse als »des einen kostbare Erbschaft« und »des anderen drückende Bürde« verstanden (23). (Wessen »kostbare Erbschaft« sind die Kreuzzüge?) In einem jeweils als »Forum« bezeichneten Unterabschnitt werden – der bewussten hermeneutischen Mehrdeutigkeit des Dargestellten entsprechend – Fragen gestellt und Thesen gewagt.
Hier können nur zwei Beispiele erwähnt werden. Jutta Tloka, Kirchenhistorikerin an der Universität Hamburg, fragt zum Stichwort Märtyrer nicht etwa ob, sondern in Anlehnung an Jan Assmanns Behauptung, Martyrium und das Töten für Gott wären Ausdruck derselben Intoleranz, inwieweit »die Gewalt und damit auch die Durchsetzung eigener Interessen mit Gewalt dem Christentum inhärent ist. Ist Gewalt als Handlungsoption eine überwindbare und teilweise überwundene Haltung oder haftet sie dem Christentum und den anderen monotheistischen Religionen quasi genetisch an – ob nun aufgrund der Geschichte oder der inneren theologischen Struktur?« (78) Hier wäre aus historiographischer Perspektive mindestens zu problematisieren, was »Christentum« und was »Geschichte« sein soll, vom feuilletonistischen Gebrauch des Ausdrucks »genetisch« ganz zu schweigen.
Als anderes Beispiel sei auf die Frage von Lothar Vogel hingewiesen, was eigentlich an einer Vision religiöser oder weltanschaulicher Homogenität fasziniere. Der Kirchenhistoriker an der rö­-mischen Waldenserfakultät weist darauf hin, dass eine derartige Vision, die er anhand von Beispielen als Wirkmacht darstellt, nach dem Ende der »gottgegebenen Obrigkeit« erklärungsbedürftig sei (276). Im Verfolg dieser Frage löst sich m. E. die starre Dichotomie Religion/Nicht-Religion bzw. religiöse/nicht-religiöse Sphäre auf. Hier überschneiden sich Felder, die aus einer diskursiven Perspektive zu bearbeiten wären, die methodisch ohne eine feste vorgängige Grenzziehung zwischen Religion und Nicht-Religion operiert. Auf diese Weise ließe sich die Frage nach »Religion« im Blick auf kulturelle oder staatliche »Homogenität« auch in Fragen des Kultus oder Glaubens, der Theorie oder der kulturellen wie auch der religiösen Praxis neu stellen. Was bedeutet das dann aber für die Gegenstandsbestimmung der Kirchengeschichte, der Christentums- und der Religionsgeschichte? Wie wird das Thema »Religion und Gewalt« zu diskutieren sein, auf das in diesem Band vielfach angespielt wird? Eine quasi genetische Einschreibung des Themas »Gewalt« in das Thema »Monotheismus« wird sich mit einer konsequent historisierenden Methode jedenfalls nicht vornehmen lassen. Hier enthält der Band divergierende Problemanzeigen.
Lesenswert ist das Buch dennoch vor allem durch seine konzeptionelle Geschlossenheit. Trotz der axiomatisch vorausgesetzten »Gedächtnisgeschichte« führen einige religionspädagogisch wertvolle Vorschläge weiter. Es muss allerdings noch einmal gefragt werden, aufgrund welcher Vorentscheidungen überhaupt die Themenauswahl erfolgte. Das Stichwort »in Gegenwart der Anderen« (9) kann als Erklärung nicht hinreichen, denn das Postulat des »multikulturellen Geschichtslernen[s]« (13) wird benannt, inhaltlich aber nicht eingeholt oder begründet. Wenn die Vorentscheidungen zur Auswahl der Objekte jedoch nicht geklärt sind, kann der Eindruck entstehen, dass »Gedächtnisgeschichte« als Grundlage einer ungenannten Agenda und damit als eine Art »Gedächtnispolitik« auftritt. Eine eigentlich interkulturelle Perspektive, die man mit dem Titel des Buches erwartet, würde allerdings nicht eine deutsche »Gedächtnisgeschichte«, sondern vielmehr die globale Christentumsgeschichte – und sei es in Auszügen – interkulturell thematisieren. Das Arbeitsbuch bleibt jedoch, wie eingangs erwähnt, ganz im Rahmen deutscher Kirchengeschichtsschreibung, die das westeuropäische Christentum zum Gegenstand hat.