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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

173–175

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kasparick, Hanna

Titel/Untertitel:

Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis? Der Kampf um das Apostolikum und seine Auswirkungen auf die Revision der Preußischen Agende (1892–1895).

Verlag:

Bielefeld: Luther Verlag 1996. 158 S. 8° = Unio und Confessio, 19. Kart. DM 36,-. ISBN 3-7858-0371-0.

Rezensent:

Markus Vinzent

Die Zeiten scheinen weitgehend vorbei zu sein, in denen man sich wegen Fragen des dogmatischen Bekenntnisses hitzige Debatten lieferte. Soweit der Pluralismus der Meinungen noch ernsthafte Konfrontationen erlaubt, begegnen sie derzeit vielleicht noch im Bereich der Ethik. Wer etwa würde sofort zum gespitzten Bleistift greifen, läse er einen Artikel mit dem Titel: "Warum nicht drei Götter?" Und wen würde das Alter des Apostolikums und die Frage der Jungfrauengeburt von Tagung zu Tagung, von Sitzung zu Sitzung treiben, wie es in dem von der Vfn. beschriebenen Apostolikumstreit vor über hundert Jahren über Monate hinweg geschah?

Neben dem historischen Befund der herausragenden Bedeutung der kirchenpolitischen Perspektive (11-15.45) hat die Vfn. des konzis geschriebenen, mit Spannung zu lesenden Buches, wie der Titel anzeigt, über eine gut recherchierte und aus den Quellen gehobene Darstellung der äußeren Ereignisse und theologischen Positionen hinaus einen Akzent zu setzen versucht, der diesem Streit auch heute noch eine gewisse Aktualität geben kann: Sie will zeigen, daß "der Kampf um das Apostolikum" kein "Armutszeugnis für den Protestantismus des 19. Jh.s dar(stellt)" (so die zitierte Meinung von H.-M. Barth: TRE 3,562), sondern "wenigstens in begrenztem Umfang der Versuch unternommen worden (ist), sich als Landeskirche... Problemen zu stellen und nach einem Konsens zwischen den streitenden Gruppen zu suchen" (14 f.). Es geht also um das Grundproblem der Konfliktlösung innerhalb einer grundsätzlich an der Basis (der Gemeinde) orientierten, sich dann aber in Vertretungsgremien und Leitungsfunktionen bis hin zu juristischen, staatskirchlichen Organen und zur kaiserlich-hierarchischen Spitze ausdifferenzierenden Gruppe. Für dieses Thema bietet in der Tat der Apostolikumstreit innerhalb der parteilich akzentuierten evangelisch-preußischen Kirchenlandschaft einen aufschlußreichen Untersuchungsgegenstand. Die Ergebnisse der Konfliktlösung lauteten der Vfn. zufolge: Formale Kompromisse ohne gemeinsame inhaltliche Annäherung und Überzeugung (95; 144), die jedoch zum einen ein Auseinanderbrechen der damaligen Kirche verhinderten und zum anderen die Diskussion um Formalia wie strukturelle Ausgestaltungen dieser Kirche (Bekenntnisgebundenheit, Lehrfreiheit, Einfluß und Stellung der verschiedenen Hierarchieebenen usw.) vorantrieben.

Entscheidend für die Erreichung dieser kirchenerhaltenden und die Sachdiskussion befriedenden (wenn auch nicht befriedigenden) Kompromisse war die Spannung zwischen einerseits einer höchst polaren und explosiven Basis in Gemeinde (Schrempff, Lisco, Jatho, Traub), Landeskirche (Lahusen) und Universität (Harnack) mit der Bandbreite von den Liberalen und Modernen (z. B. Ritschl, Harnack) über die Mittelpartei bis hin zu den Positiven und darin nochmals zu den Gemäßigten und den Ultras (34) und andererseits einer im Zuge der Berufungs- und Kirchenpolitik unter Wilhelm II. begonnenen Besetzung der Kirchenleitung des Evangelischen Oberkirchenrats mit ausgleichenden und vermittelnden Persönlichkeiten.

Nicht zuletzt wollte der Kaiser beispielsweise durch die bald nach seinem Amtsantritt erfolgte Entlassung etwa seines Hofpredigers Adolf Stoecker und die Ernennung Ernst v. Dryanders (cf. zu diesem jetzt: B. Andresen, Ernst von Dryander: eine biographische Studie, Arbeiten zur Kirchengeschichte, 63, Berlin u. a. 1995) ein auf Einheit und Konsens hin bedachter summus episcopus der Preußischen Landeskirche sein (17-23). Hinzu kommen der Einfluß von einzelnen Mitgliedern der verschiedenen Parteien (z. B. H. Cremers), für die über die Parteigrenzen hinweg das Empfinden der gemeinsamen biblischen Basis und das Wollen um kirchliche Gemeinschaft Vorrang hatten vor dem Beharren auf eigenen Standpunkten, und die sich lautstark zu Wort meldenden verschiedenen freien, privaten kirchlichen Freundeskreise und Gruppierungen, die keinen geringen Einfluß auf die verschiedenen hierarchischen Ebenen und deren Entscheidungen hatten (z. B. Die Freunde der ’Christlichen Welt’, die ’Evangelische Vereinigung’ u. a., cf. 117). Der christliche Dialog, so wird einem bis zum Ende der Untersuchung deutlich, ist wie die Demokratie manchmal aufregend, oft mit vielen Auseinandersetzungen und Reibungsverlusten verbunden, neigt zu formalen Lösungen und wirkt in dieser Konstellation sowohl gemeinschaftsstabilisierend wie befreiend und individualisierend.

Der Aufbau des Werkes: Nach Vorwort und Einleitung werden in einem ersten Teil "Von der Konfrontation zum Ausgleich?" die "kirchenpolitische(n) Veränderungen nach dem Regierungsantritt Wilhelms II." bis hin zum "Vorabend des Apostolikumstreites" beschrieben (17-40), um auf dem Hintergrund der "Stagnation der 80er Jahre" (17 f.) die neuen Voraussetzungen als Basis für den Ausgang des Streites einsichtig zu machen.

Im zweiten Teil werden die wichtigsten Stationen des "Apostolikumstreit(es) der Jahre 1892/93" skizziert (41-97). Auch wenn die dogmatischen Fragen der theologischen Auseinandersetzung selbst nicht im Zentrum der Untersuchung stehen; die im Apostolikumstreit entstandenen Schriften werden im Haupttext z. T. summarisch (51; 78) und wie im Literaturverzeichnis in Auswahl zur Kenntnis genommen.

Es fehlen so wichtige Schriften wie Th. Zahn, Das apostolische Symbol. Eine Skizze seiner Geschichte und eine Prüfung seines Inhalts, Erlangen/Leipzig 1893, aber auch G. Fr. Chr. Bauerfeind, Eine Antwort auf des Herrn Professor Dr. Adolf Harnack "Apostolisches Glaubensbekenntnis", Gütersloh 1893, G. Wohlenberg, Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria. Eine Schutz- und Trutzschrift, Leipzig 1893, H. Lüdecke, Das apostolische Glaubensbekenntnis und Prof. D. Adolf Harnack. Eine Verteidigungsschrift des erstern gegen den letzern, Köslin 1892, weil "die Schärfe und Grundsätzlichkeit des Kampfes" nach Meinung der Vfn. eben nicht den dogmatischen Problemen, sondern der aus der Zeit vor 1888 ererbten "kirchenpolitischen Situation geschuldet" war (45), so beschäftigt sie sich doch auch kurz mit den inhaltlichen Hauptstreitpunkten der Gottessohnschaft und der Jungfrauengeburt und der Frage, inwieweit das im Apostolikum Formulierte apostolischen Ursprungs ist und das Apostolikum juristisch relevantes Bekenntnis (Lehrgesetz) oder zeitgebundenes Zeugnis des Glaubens ist (81-94).

Der dritte Teil beschreibt die Entwürfe, die einstimmige Annahme und die Einführung der neuen Agende und nennt die wichtige, zunächst wohl gar nicht so recht wahrgenommene, später aber wirksame Hierarchisierung der fides quae in (1) die Gründung des Glaubens "in Gottes lauterem und klarem Worte", dessen (2) Verfaßtheit "in der heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, unserer alleinigen Glaubensnorm", und (3) dessen Bezeugung "in den drei Hauptsymbolen, dem Apostolischen, Nicänischen und Athanasianischen, und in den Bekenntnisschriften unserer Kirche" (neue Agende) (121; cf. 141). Die Vfn. führt außerdem die Stellung vor, die dem Apostolikum in der Agende an den verschiedenen Stellen zugemessen wurde. In einem kurzen 4. Teil wird ein Ausblick auf das "Irrlehregesetz" des Jahres 1910 gegeben und der weitere Umgang mit der Agende behandelt, die offenkundig kein völliges Ende der Diskussion bedeutet hatte.