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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1409-1425

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Konrad Klek

Titel/Untertitel:

Felix

1. Musikerjubiläen und das Jahr 2009


In der unüberschaubaren Vielfalt dessen, was kulturell heute präsent ist, kommt Jubiläen eine wichtige Aufgabe zu. Sie erlauben die zeitweise Profilierung von Leuchttürmen, welche Orientierung geben können im Heer der vielen Lichter. Dass dabei wirtschaftliche Gesichtspunkte aufseiten der Kulturproduzenten inzwischen eine große Rolle spielen – mit Jubilaren lassen sich eben Geschäfte ma­chen –, gehört zu den heutigen Bedingungen kultureller Lebensgestaltung und erübrigt nicht die Reflexion über die inhaltliche Substanz und die soziokulturelle Breitenwirkung solcher Jubiläen.
Das Jahr 2009 war hinsichtlich der Musikerjubiläen ein Superjahr. Mit Felix Mendelssohn Bartholdy (200. Geburtstag am 3. Feb­ruar), Georg Friedrich Händel (250. Todestag am 14. April) und Joseph Haydn (200. Todestag am 31. Mai) boten gleich drei Fixsterne der klassischen Musikkultur ihr Leuchten an. In solcher Massivität gab es das zuletzt 1985, als die Jubilar-Trias Schütz, Bach, Händel (400. bzw. 300. Geburtstag) für ein europäisches »Jahr der Musik« sorgte. Das nächste »Highlight« war das Mozart-Jahr 1991 (200. Todestag). 1997 gab es eigentlich auch ein Dreigestirn, nämlich Schubert (200. Geburtstag), Mendelssohn (150. Todestag) und Brahms (100. Todestag), aber das wurde als solches kaum kultiviert, am meisten Jubilarsehren bekam damals wohl Franz Schubert ab. Das Bach-Jahr 2000 (250. Todestag) sorgte dann für eine Art Hype. Die Verbindung von Jahrtausendbeginn und Bach-Jubiläum ließ die Geschäftigkeit anwachsen inklusive Devotionalien-Markt mit dem Signet »Bach 2000«, was bei manchen Vertretern der Hochkultur Abwehrreflexe zeitigte. Sechs Jahre später bot sich mit Super-Star Mozart (250. Geburtstag) wieder eine Gelegenheit zur breitenwirksamen Popularisierung eines Klassik-Stars. Die Werbemaschinerie lief auf vollen Touren, Mozart sozusagen auf allen Kanälen. Wenige, wohl ausschließlich aus dem protestantischen Sektor, propagierten aus Trotz ein Mozart-Fasten. Dann kam 2009. Dazu einige subjektive Eindrücke.
Die Star-Trias sorgte nicht für eine Steigerung der Geschäftigkeit, eher für Mäßigung und substantielle Konzentration. Drei Stars verhindern eine allzu flache Verwertung nur eines Namens, wie das 2006 mit Mozart geschah. Wenn es Händel, Haydn und Mendelssohn zu feiern gibt, muss man genauer profilieren, was sie jeweils auszeichnet. Namentlich die Rundfunkanstalten haben sich da einige Mühe gegeben. Es wäre interessant zu untersuchen, wie die unterschiedlichen Bereiche der öffentlichen Kultur ihre Akzente hinsichtlich der drei Komponisten gesetzt haben. Wenig genutzt wurde die stringente Verbindung der drei Namen, wie sie das Stichwort »Oratorium« leisten kann: Haydn und Mendelssohn mit ihren Oratorien als Händel-Rezipienten und -Nachahmer.
Auch im Klassik-Bereich bringt der Star-Kult Konkurrenzmechanismen in Gang. Jeder versucht seinen Star groß herauszubringen, um mit dessen Glanz die anderen zu überstrahlen. Die Hallenser feiern ihren Händel, die Wiener (Österreicher) ihren Haydn und die ... ihren Mendelssohn. Wem »gehört« eigentlich Mendelssohn? – Vielleicht kann man Felix Mendelssohn Bartholdy als den »Winner« dieses Jubiläumsjahres sehen gerade darin, dass er einen förmlichen Konkurrenzkampf um seine Gunst entfacht hat. Viele wollten sich als die besseren Mendelssohn-Freunde profilieren. Das zeigt auch die folgende Besprechung der Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, was bei einem Komponisten ja nur ein sekundäres Medium ist gegenüber musikalischer Präsentation via Konzert, Festival oder CD-Produktion.
Für solchen Wettbewerb bietet Mendelssohns Vita insofern gute Voraussetzungen, als die Fixierung auf eine Lokalität verwehrt ist. Berlin kann nicht beanspruchen, die Mendelssohn-Stadt zu sein, denn in Leipzig war er erfolgreicher und persönlich auch glücklicher. Leipzig und Berlin können die Claims aber auch nicht unter sich aufteilen, denn da darf Düsseldorf und die Niederrhein-Region mit ihren Musikfesten noch die Hand heben und erst recht fast das ganze England. Auch wenn Halle 2009 seinen Händel mit gewissem Recht zum Europäer stilisiert hat, gemeinhin gilt Mendelssohn als der erste hochrangige europäische Musiker, da er kontinuierlich in mehreren nationalen Musikzentren präsent war. So eröffnet sein Lebensentwurf selbst einen offenen, europäischen Verehrer-Markt. Anders gesagt, zum Freund Mendelssohns wird man nicht geboren wie ein Leipziger zum Bach-Verehrer, man muss sich schon seiner wert erweisen.



2. Mendelssohn-Freundschaft


Dass man als Mendelssohn-Verehrer im kulturellen Diskurs punkten kann, ist neu. Noch 1997 kam Mendelssohn als Jubilar kaum zur Geltung. Anders als jetzt 2009 hat er gegen seine beiden Mit-Jubilare damals sozusagen keinen Stich gemacht. Wenn man 1997 vollmundig erklärte hätte: »Für mich ist dieses Jahr vor allem ein Mendelssohn-Jahr«, hätte man einen Verweis kassiert: »Schubert ist doch viel bedeutsamer.«
Die lange Geschichte der dezidierten Mendelssohn-Ächtung seit der bereits drei Jahre nach dessen Tod, 1850, anonym publizierten Hetzschrift Richard Wagners Das Judenthum in der Musik bis hin zum förmlichen Verbot in Zeiten der Nazi-Herrschaft kann hier nicht rekapituliert werden. Aber um die jetzt zu beobachtende, deutliche Wende als solche wahrzunehmen, muss festgehalten werden, dass die Musik Mendelssohns auch nach 1945 keinen leichten Stand hatte, im angelsächsischen Raum ebenso wie in Deutschland. Die sentimentale Rezeption seiner Chorlieder in der Gesangsvereinskultur war Vorwand für ein allgemeines Sentimentalitätsverdikt, das insbesondere auch die neue Kirchenmusik-Leitkultur übernahm. Lediglich die beiden großen Oratorien Paulus und Elias galten unangefochten als Meisterwerke, deren sich die Oratorienchöre mangels Vergleichbarem kontinuierlich bedienten. Die ganze Breite aber von Mendelssohns Repertoire geistlicher Musik blieb vielfach unbekannt, teilweise kam es erst in den 1980er-Jahren zu Noten-Erstveröffentlichungen und die erste Gesamteinspielung dieses Werkbereichs auf CD wurde jetzt zum Jubiläums-Jahr 2009 vollendet (Carus-Verlag Stuttgart). Dass man sich von Mendelssohns Musik gerne rühren lässt, konnte man öffentlich zugeben nur für den speziellen Fall, dass ein Knabenchor mal wieder »Denn er hat seinen Engeln« sang. Organisten waren noch in den 1980ern stolz auf ihre künstlerische Freiheit, wenn sie sich mit Mendelssohn befassten.
Im allgemeinen Konzertbetrieb wurde Mendelssohn in keiner der von ihm mit Werken bestückten Gattungen ein Rang wie Mozart, Haydn, Beethoven zugebilligt, nicht bei der Sinfonik (mit Ausnahme vielleicht des Violinkonzerts), nicht in der Kammermusik, nicht bei Klaviermusik (»Lieder ohne Worte« als Kleinkost für höhere Töchter), nicht beim Klavierlied – hier im Gegenüber zu den »echten« Romantikern Schubert und Schumann. Die alten ästhetischen Vorbehalte wie »Glätte der Form« oder mangelnde Originalität galten weiter. Die Musikwissenschaft arbeitete lange unter der Kategorie »Das Problem Mendelssohn«, wie der Titel eines prominenten Tagungsbandes von 1974 lautete. Noch 1997 war im kulturellen Mainstream klar, dass ein genialischer, als »Underdog« um das Überleben kämpfender und schließlich an Syphilis früh sterbender Schubert eo ipso be­deutsamer sein muss als ein wohlsituierter Musterknabe Mendelssohn aus den besseren Kreisen, dem im Leben alles zufällt, woran er sich dummerweise übernimmt und darum auch nicht viel älter wird als Schubert. Mendelssohn gegenüber war eher Mitleid angebracht, dass es ihm (in Wagnerscher Logik!) versagt war, wahrhaft kreativ zu wirken, und ihm die Nachwelt mit Antisemitismus dann noch übel mitgespielt hat.
Jetzt aber ist Mendelssohn Objekt der Bewunderung! Das Wunder Mendelssohn heißt einer der Buchtitel zum Jubiläumsjahr. Für die »Liebhaber« der hohen Kunst sind in allen gängigen Verlagsformaten Mendelssohn-Biographien erschienen. Selbst kirchliche Amtsblätter, so eine zweifache Erfahrung des Verfassers, haben frühzeitig für ein termingerechtes Erscheinen zum Gedenktag im Februar Mendelssohn-Artikel eingeplant, eine Würdigung in dieser Struktur kirchlicher Öffentlichkeit, die sonst wohl nur den großen Alten Schütz und Bach zuteil wurde. Man will jetzt zeigen: Auch wir mögen Mendelssohn!



3. Mendelssohn für seine Liebhaber


Was im theologischen Bereich kurze, griffige Traktate wie Luthers frühe Schriften und die qualitativ hochstehende Erbauungsliteratur der Folgejahrhunderte bedeuten, sind im Bereich der sog. Hochkultur heute die Schriften für den Leserkreis der »Liebhaber«, welche bestimmte Werke oder Leben und Gesamtschaffen von Künstlern in fasslicher Form so präsentieren, dass dies bei der Lektüre Interesse weckt und »Wohlgefallen« an der Musik und damit »Erbauung« erwarten lässt. »Liebhaber« der Musik müssen ebenso wenig »Kenner« sein wie fromme Menschen Experten der Theologie. Und speziell Theologen sollten nicht meinen sich ge­nieren zu müssen, wenn sie in Sachen Musik »nur« Liebhaber sind. Aber spezifische Kenntnisse fördern die Frömmigkeit ebenso wie die Liebhaberei in der Musik. Wohl dem »Kenner«, der »Liebhabern« mit seinen Kenntnissen ihre Liebhaberei noch lieber zu machen weiß!

3.1 Martin Geck: Felix Mendelssohn Bartholdy1
Will man sich einmal vom Konzept der rororo-Monographien überzeugen lassen, dann mit diesem Titel von Martin Geck. Wenig Text, der viel, eigentlich alles Wesentliche über den Komponisten sagt in klarer Gliederung, kluger Pointierung und schöner Balance zwischen eloquentem Fließtext (in packendem historischen Präsens) und Zitaten. Viel entscheidender ist aber noch das fantastische, farbige Bildprogramm, wofür allerdings Mendelssohn selbst vielseitiges Material geliefert hat. Nicht nur Notenmanuskripte (in verschiedenen Kompositionsstadien) und Notendrucke kann man reproduzieren, auch Briefausschnitte mit gezeichneten Bildchen und Noten, und vor allem seine faszinierend genauen Landschafts- und Ortsgemälde. Welcher Komponist sonst (im Zeitalter vor der Fotographie) hat sein Lebensumfeld in eigenen Bildern für die Nachwelt so authentisch festgehalten? Die in anderen Fällen oft dominierenden und manchmal langweilenden Porträts bedeutender Persönlichkeiten fallen da kaum noch auf bzw. sind, insofern sie vom Schwager Wilhelm Hensel stammen, ebenfalls unmittelbar Bestandteil der Lebensgeschichte. Diese rororo-Monographie ist schon als Bilderbuch spannend.
Der Autor, der bereits 1967 mit einer Studie über Mendelssohns Wiederaufführung der Bachschen Matthäus-Passion sich Respekt verschafft hat, inzwischen mit vielen, sprachlich hochstehenden Publikationen einen herausragenden Ruf als Musikschriftsteller genießt, entspricht dem auch hier und lässt namentlich seinen zu Studienzeiten erworbenen theologischen Horizont mit einfließen, sowohl bei der Bewertung der biographischen Entscheidung des Elternhauses, die Kinder taufen und protestantisch erziehen zu lassen, als auch bei der Würdigung der geistlichen Werke des Komponisten und dessen Stellung zur zeitgenössischen Kirchenmusik praxis in beiden Kirchen. So können gerade theologisch interes­sierte Mendelssohn-Freunde hier in ihrer Liebhaberei bestärkt werden.

3.2 Andreas Eichhorn: Felix Mendelssohn Bartholdy2
Im selben Pocket-Format, aber sozusagen protestantisch nüchtern präsentiert sich die Biographie aus der Reihe C. H. Beck-Wissen. Nur wenige stark verkleinerte Schwarzweiß-Abbildungen, darunter als einzige Mendelssohn-Zeichnung sein Leipziger Blick auf die Thomaskirche, lockern die Lektüre der dicht mit Text gefüllten Seiten auf. (Der Theologe kommt sich vor wie bei der Lektüre älterer Lutherbibelausgaben.) Es steht hier allerdings einiges mehr an De­tails drin als bei rororo, das vom Autor umsichtig erhobene Schaffens- und Lebenspanorama, besonders ausführlich zu Ju­gendzeit und Ausbildung in Berlin wie auf Reisen, ist vielschichtiger und die Briefzitate sind umfänglicher, was bei der hier gegebenen Brillanz auch sachlich einen Gewinn darstellt. Ein Plus sind auch die mehr als zehn Prozent des Umfangs ausmachenden Ausführungen am Ende zu »Aspekten der Rezeption«. Wer heute seinen Mendelssohn liebhaben will, sollte dies nicht in »unschuldiger« Unmittelbarkeit ausleben wollen.
Der Autor, der mit einer Arbeit Die Hebriden und einer Werkeinführung zum Elias bereits einschlägige Mendelssohn-Studien vorgelegt hat, befriedigt den Vorgaben der Taschenbuchreihe folgend hier perfekt und sicher Bacchelor-tauglich heutige Bedürfnisse nach »Grundwissen« oder »Basiswissen«. Sprachlich nüchtern dominiert das aufzählende Aneinanderreihen (im Präteritum). Man könnte sich einen Spaß machen zu eruieren, welche Seite am häufigsten »Mendelssohn« als Subjekt eines Hauptsatzes bringt. Für das Salz in der Suppe sorgen dann die Briefzitate, welche al- lerdings anders als bei rororo (dort Kursivdruck) graphisch nicht hervorgehoben sind und auch nicht nachgewiesen werden. Die abschließende Zeittafel ist detaillierter als bei rororo und bringt bei jedem Jahr eine Auflistung der da vollendeten, bedeutenderen Werke.
Beide Taschenbuch-Biographien kann man gut komplementär rezipieren: Eichhorn für breites Basiswissen, Geck für die Liebhaberei.

3.3 Johannes Forner: Das »Wunder Mendelssohn«3



Im Format eine Kategorie größer, dicker und stabiler (gebunden), ist das der Belletristik näher stehende Buch von Johannes Forner ein ideales Geschenkformat. Da erlaubt sich einer, nach alter Väter Sitte ein Persönlichkeitsbild zu entwerfen. Im Klappentext steht »Mendelssohn – ein Charakterbild«, im Untertitel »Porträt eines großen Musikers«, in der »Prolog« genannten Einleitung wird den Lesern ein »differenziertes Psychogramm« in Aussicht gestellt (12). Der Autor, altgedienter Musikwissenschaftler der Leipziger Musikhochschule und zeitweiliger Gewandhaus-Dramaturg, hat sich schon zu DDR-Zeiten mit lokalhistorisch und sozialgeschichtlich fundierten Darstellungen (z. B. »Brahms in Leipzig«) Respekt auch bei Lesern aus dem Westen erworben. Die Persönlichkeitsorientierung der Darstellung ist kein Pendelschlag zurück, weg von der politisch diktierten sozialgeschichtlichen Verortung, sondern ein Schritt weiter. Der Autor erlaubt sich zu deuten, wie die Person Mendelssohn das komplexe Wechselspiel zwischen eigenen künstlerischen Idealen, an ihn herangetragenen Erwartungen und ge­nau erhobenen äußeren Lebens- und Arbeitsbedingungen bewältigt, erlebt, erleidet. Die Metapher vom »Wunder Mendelssohn« im Buchtitel schließt bewusst an das »Wunderkind« Mozart an, um allerdings präzise das »Wunder« dieses gesamten Lebenslaufs vom (bloßen) »Wunderkind«-Mythos abzugrenzen. Einseitig hagiographisch ist die Darstellung des Autors aber nicht:
»Mendelssohn in seiner Universalität ist eine singuläre Erscheinung der Kulturgeschichte, aber kein Heros, abgehoben von den Niederungen des Alltags. Das Menschliche, das Auf und Ab seiner Lebenskurve, die Höhenflüge und Enttäuschungen, persönliches Glück und die Katastrophen wechseln häufig. Sein kurzes, zum Bersten gefülltes Leben läuft ab wie im Zeitraffer und mündet in eine atemberaubende Beschleunigung und Überhitzung, die ihn geradezu verglühen lässt.« (Prolog, 12)
Dieses Leben im Zeitraffer wird stilistisch adäquat mit überwiegend kurzatmigen Sätzen im historischen Präsens dargestellt. Man kommt auch als Leser kaum zum Atmen. Den Briefzitaten, im Kursivdruck optisch hervorgehoben (aber nicht nachgewiesen), ist angemessen Platz eingeräumt. Jedes der sechs Lebenskapitel wird mit dem Anschauungsobjekt einer für diesen Lebensabschnitt signifikanten Gemäldereproduktion (in Schwarzweiß) eröffnet, die zunächst besprochen und historisch erklärt wird. Das Ende der Story markiert ein Foto von Mendelssohns Wohn- und Sterbehaus in der Leipziger Goldschmidtstraße heute.
Ein »Epilog« widmet sich speziell den »Leipziger Impulsen« zur Mendelssohn-Rezeption bis in die jüngste Gegenwart mit der Wiederaufstellung des von den Nazis geschleiften Mendelssohn-Denkmals im Oktober 2008 bei der Thomaskirche und der Taufe des diesem nun zugewandten Kirchenportals als »Mendelssohn-Portal« zum 200. Geburtstag. Auch wenn das Buch nicht »Mendelssohn in Leipzig« heißt, so ist es doch ein lokalpatriotisch motivierter, engagierter Beitrag zum Wettbewerb der Mendelssohn-Stätten um das öffentliche Mendelssohn-Interesse: »Es darf behauptet werden, dass dabei die Stadt Leipzig mit ihren Maßstab setzenden künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen vorangeht«, schließt der Prolog (14).
Wenn dieses Buch die opulente Farbbebilderung der rororo-Monographie hätte, wäre es die überlegene Mendelssohn-Kurzbiographie. Einige Deutungen oder Zuspitzungen sind allerdings angreifbar. Das ist der Preis jedes Deutungsmutes. Gecks Darstellung bietet demgegenüber kaum Angriffsflächen. Der Autor sieht als Faktor für sein »Psychogramm« bei Mendelssohn etwa einen lebenslangen »Zwiespalt«: »der Abstammung nach noch Jude, aber eben auch ein überzeugter Christ!« (33). Bei den anderen Biographen wird deutlicher der »überzeugte Christ« profiliert, der eben nur noch einen jüdischen Stammbaum hat.
Ein Akzent der Darstellung sei hervorgehoben: Neben packenden Nacherzählungen der Oratorien Paulus und Elias bietet Forner eine Besprechung der Vertonung der Ersten Walpurgisnacht von Mendelssohns großväterlichem Freund Goethe, entstanden mitten in Rom: »In lebendiger südländisch-katholischer Umgebung vertieft sich der protestantisch getaufte Jude über Wochen in einen Text, der vom Stolz eines Volkes samt seiner vorchristlichen Rituale kündet« (98). Man wird in der Tat dieses heute fast nie zu hörende Werk als Schlüsselwerk stärker berücksichtigen müssen für die Beurteilung von Mendelssohns »Weltanschauung« und Religiosität, aber unter Umständen zu einer anderen Deutung kommen als Forner.

3.4 Johannes Popp: Reisen zu Felix Mendelssohn Bartholdy4



»Erinnerungsorte« haben Konjunktur. Eine Künstlerbiographie an seinen Lebensorten festzumachen, ist etwa im Falle Johann Sebastian Bachs mit einem regelrechten Kult samt touristischen Vermarktungsstrategien der »Bach-Stätten« in Mitteldeutschland schon längst gang und gäbe. Mendelssohns Vita, so betrachtet, erscheint da als Urbild des modernen »Jetset«, wo »Geschäftsreisen« (hier: Konzertreisen) und touristische Expeditionen nahtlos ineinander übergehen, sowie als Vorbild der heutzutage gefragten, beruflichen Mobilität mit Ortswechseln alle paar Jahre, teilweise sogar als bilokale Doppelfunktion (Leipzig/Berlin). Allerdings wa­ren für Mendelssohn die Wegstrecken noch mühsam und zeit­raubend mit durchaus unfallträchtigen Pferdefuhrwerken und auf Dampfschiffen zurückzulegen. Vom anbrechenden Eisenbahnzeitalter konnte er erst spät bei Fahrten zwischen Berlin und Leipzig noch profitieren. Sein Leichnam wurde dann im Sonderzug über Nacht von Leipzig nach Berlin überführt.
Der Autor, der sich im Klappentext als sächsischer Pfarrerssohn und Ex-Theologiestudent outet, schreibt hier – im Vergleich mit Forner – eine Biographie »light« in neun Lebensstationen, weniger problemorientiert und ohne speziellen wissenschaftlichen Ehrgeiz. Das ist kein Mangel. Alles ist sauber recherchiert, die (belegten) Briefzitate sind gut ausgewählt und fokussiert darauf, was sie für das Leben an den jeweiligen Örtlichkeiten hergeben. In graphisch abgehobenen Exkursen werden die Mendelssohn-Orte in ihrer heutigen Zugänglichkeit thematisiert inklusive Öffnungszeiten und Internet-Adressen für die den Lesern ans Herz gelegten »Reisen zu Felix Mendelssohn Bartholdy«. Mit Dessau, der Geburtsstadt des berühmten Großvaters Moses Mendelssohn und Hamburg, der Stätte der ersten fünf Lebensjahre des Kindes, sind Stationen genauer im Blick, die sonst eher nur gestreift werden. Auch das Goethehaus in Weimar mit dem Flügel der Wiener Firma Streicher wird als Ort der prägenden Begegnung aufgenommen, ebenso die touristischen Ziele in Schottland und Italien. Bayerische (und ggf. auch amerikanische) Leser müssen bemängeln, dass München und das Oktoberfest (1831) nicht eigens gewürdigt werden. Ein sachliches Manko ist, dass die Schweiz und ihre Alpen als mehrmals aufgesuchtes Refugium und pilgerartige, mühsame »Fußreise« 1831 auf dem Rückweg aus Italien kein eigenes Kapitel erhält. Vielleicht fehlt dem Autor die analoge Leidenschaft für die Berge; oder es macht sich hier bemerkbar, dass er noch nicht auf die neue, vollständige Briefausgabe zurückgreifen konnte.
Die Bebilderung (schwarzweiß) ist umfänglicher als bei Forner und erfasst historische Gemälde (auch von Mendelssohn) ebenso wie Fotographien von Erinnerungsorten heute. Auch dies ist ein ideales Buch zum Verschenken, das der Mendelssohn-Freundschaft gute Dienste erweisen kann. Einen Pilgerweg durch die Schweizer Alpen »auf den Spuren Mendelssohns« sollten die Schweizer Tourismusverbände wohl besser selber kreieren.



4. Mendelssohn für Kenner


4.1 Larry R. Todd: Felix Mendelssohn Bartholdy5



Die zum Jubiläumsjahr vorgenommene Übersetzung der bereits 2003, also ohne irgendwie bestimmende Jubiläumsfaktoren auf Englisch publizierten, großen Gesamtdarstellung von »Leben und Werk« lässt auch die deutschen »Kenner« nun auf ihre Kosten kommen. Der vom Autor selbst gewählte Anspruch auf Vollständigkeit ist perfekt eingelöst. Zu wirklich jedem nachweisbaren Mendelssohn-Opus, ob seinerzeit veröffentlicht oder nicht, kann man hier den biographischen Entstehungszusammenhang erfahren, wobei exaktes Werkverzeichnis und Register den schnellen Ad-hoc-Zugriff ermöglichen. Auch Vita und kompositorisches Schaffen der in vielerlei Hinsicht kongenialen Schwester Fanny, deren Leben bis hin zum selben Sterbejahr einen engen Zusammenhang mit dem des Bruders bildet, werden in die Darstellung integriert. Die Be­sprechungen ihrer Werke sind über die jeweilige Nennung im Personenregister auffindbar.
Der in Amerika lehrende Autor, einer der weltweit führenden Mendelssohn-Experten mit einer breiten Publikationsliste von Einzeluntersuchungen, erklärt im Vorwort, sich »an die Fakten zu halten« (22) und die Darstellung auf der Basis der Primärquellen zu entwickeln, um so den in der Forschungsgeschichte greifbaren, tendenziösen Wertungen ein möglichst sachliches und vielschichtiges Bild entgegen zu halten. Die letzte umfassende Mendelssohn-Biographie von Eric Werner erschien 1963 auf Englisch und formulierte im Untertitel den Anspruch »A New Image of the Composer and His Age« zu liefern, das heißt hier im Reflex (des jüdischen Autors) auf die antisemitische Verdammung das Bild von Mendelssohn als dem (nur) assimilierten Juden, wobei sogar Zitate dem »neuen Bild« dienend entstellt wurden. Eine deutsche Übersetzung und überarbeitete Neuauflage wurde bemerkenswerterweise erst 1980 publiziert. So gesehen sind die jetzt sechs Jahre zwischen Todds Erstpublikation und der deutschen Ausgabe ein enormer Fortschritt und es ist für die historisch belastete deutsche Wissenschaft heilsam, dass ihr das Phänomen Mendelssohn mit angelsächsischer »correctness« und Klarheit präsentiert wird.
Folge der strikten Faktenorientierung ist eine solche Detailfülle, dass zuvor wenig detailkundige Leser unter Umständen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die im chronologischen Fortgang eingebauten Darlegungen über das Wirken der Schwester Fanny das Ihre dazu beitragen, dass man leicht den roten Faden bei der Felix-Vita verliert. Der erklärte Verzicht des Autors auf bestimmte zentrale Deutungskategorien verwehrt, dass bei der Lektüre ein »Charakterbild« à la Forner vor Augen tritt. Wo es um Deutungen einzelner Werke geht, stellt der Autor als »Fakten« gerne in der Literatur greifbare Thesen vor und gegebenenfalls auch gegeneinander, hält sich selbst im Urteil aber diskret zurück, so dass der Leser diesbezüglich selbst gefordert ist.
In eigentümlichem Gegensatz zu dieser Art der Darstellung steht die Nomenklatur der Rubrizierung. Die Vita ist in drei Le­bensphasen eingeteilt, wovon Phase zwei und drei mit »Die Straße nach Damaskus« und »Der Wagen des Elias« symbolische Überschriften in Referenz zu den beiden großen Oratorien erhalten haben. Jeweils das letzte Kapitel dazu greift diese Symbolik wieder auf: »Die Stimme des Apostels« (Kapitel 10) und »Die Stimme des Propheten: Der Wagen des Elias« (Kapitel 16). Damit wird eine Deutung der Vita auf der Folie der beiden großen Schlüsselwerke suggeriert, die im Text aber nicht konkretisiert wird. Es hätte der Wissenschaftlichkeit dieses Opus magnum keinen Abbruch getan, wenn der Autor in einem Epilog sein offensichtlich entwickeltes »Charakterbild« mit wesentlicher Bedeutung der religiösen Komponente entfaltet hätte. So muss man Vorlieb nehmen mit den verklausulierten Sätzen, welche die Besprechung des Elias abschließen (607 f.): »Obwohl alles darauf hinweist, dass Mendelssohn ein aufrichtiger, frommer Protestant war, war in den Augen seiner Zeitgenossen eine gewisse jüdische Identität untrennbar mit seinem Wesen, seinem Charakter und seinem Leben verbunden. Durch die im Elias verwirklichten Bindeglieder zwischen dieser Identität und der angenommenen lutherischen Weltsicht setzte Mendelssohn in gewisser Weise das von seinem Großvater vorangetriebene Projekt der Assimilation fort, das die Verbindung von Religion und der Aufklärung des 18. Jh.s zum Ziel gehabt hatte. In diesem Sinn vervollständigte die im Elias entwickelte Doppelperspektive Mendelssohns Lebenswerk.« Als Doppelperspektive wurde zuvor im An­schluss an Arbeiten von Jeffrey Sposato (2000; 2006) benannt, dass die Figur des Propheten Elias sowohl in der Textauswahl als auch in der musikalischen Umsetzung (Anklänge an Bach-Passionen) von Mendelssohn gezielt doppeldeutig dargestellt wird, einerseits als große Gestalt Israels, andererseits als Vor-Bild des Christus. Das hier aufgeführte Zitat zeigt einerseits die Problematik der Übersetzung – was steht im Englischen für »aufrichtiger, frommer Protes­tant«, was für »eine gewisse jüdische Identität«? – andererseits die der Argumentation. Anonym und nicht belegt werden »Zeitgenossen« zu Zeugen aufgerufen, um eine latente Widersprüchlichkeit zwischen erhobenen »Fakten« (»obwohl alles darauf hinweist«) und wohl vom Autor gerne festgehaltener Deutung (jüdische Identität) zu entschärfen bzw. zu legitimieren.
Abschließend sei gewürdigt, dass Todds großes Werk in mustergültiger Weise nicht nur mit reichlich Notenbeispielen die vielen Detailausführungen zu den Werken anschaulich und verifizierbar macht, sondern auch mit über 100 Abbildungen reich bebildert ist. Von den acht Glanzpapier-Seiten in der Mitte des Buches mit je einem Farbbild enthalten fünf Aquarelle des Komponisten.



5. Quellenpräsentation »light«


Eine andere Spielart der Faktenorientierung ist die weitgehend kommentarlose Präsentation von Quellen, denen zugetraut wird, für sich selbst zu sprechen, ja gerade so einen spezifischen Reiz auf die Leser auszuüben. Dieses Verfahren ist bei Mendelssohn tatsächlich ergiebig schon aufgrund der faszinierenden Briefkultur, die nicht nur ihn selber, sondern sein ganzes Umfeld kennzeichnet. Zudem sind wir hier in der bürgerlichen Moderne angekommen, deren Konversationsformen anders als noch in der Musiker-Generation Mozart bis Beethoven uns unmittelbar verständlich sind. Des Weiteren glänzt Mendelssohn nicht nur mit professionellen zeichnerischen Darstellungen, sondern auch mit einer mustergültigen Notenschrift, weshalb die Abbildung von Notenautographen hier jeden der Notenschrift Kundigen zum verständigen Leser werden lässt, während man bei anderen musikalischen Größen (na­-mentlich Beethoven) da oft nur das Grausen bekommt. Auch die seinerzeit ästhetisch ansprechend gestalteten Titelblätter der No­tendrucke sowie stets gedruckte Programmzettel bei Konzerten sind leicht reproduzierbares und beim Betrachten Wohlgefallen erzeugendes »Faktenmaterial«.


5.1 Hans-Günther Klein [Hrsg.]: Felix Mendelssohn Bartholdy6



Mit der Konzeption eines Almanachs haben hier Leipziger Mendelssohn-Sachwalter sich der Aufgabe gestellt, »diesen einzigartigen Künstler und Menschen in seinem komplexen Dasein zu beleuchten und aus der unglaublichen Fülle des vorhandenen Materials ein lebensnahes Abbild des Genies zu vermitteln« (8), und dabei das Fachwissen des vormaligen Leiters des Berliner Mendelssohn-Archivs in Anspruch genommen. Die eingesetzte Medienvielfalt ist enorm, ein wohlabgewogener Wechsel zwischen Briefzitaten im Normaldruck, aber auch als Faksimile (diese im Anhang übertragen), zwischen Notenmanuskripten und Notendrucken, zwischen autographen Mendelssohn-Zeichnungen und Darstellungen aus der Feder von Zeitgenossen, zwischen Schwarzweiß und Farbe, schließlich noch ein paar historische Fotos und wenige aktuelle Fotos von Reliquien. Das »komplexe Dasein« des Komponisten ist so inhaltlich und formal durchaus komplex repräsentiert in ansprechendem und von der Papierqualität her gewichtigem Format.
Die Almanach-Struktur kann jedoch kein »Abbild« vermitteln, liefert nur eine oft nicht einmal zwischen verte und recte zusam­menhängende Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, z. B. 8. November ein Mendelssohn-Brief von diesem Tag des Jahres 1846, wo er einem Freund zum Tod von dessen Tochter kondoliert, daneben (ohne erkennbaren Datumsbezug) zum 9. November aus den Erinnerungen Ludwig Rellstabs über den zwölfjährigen Felix bei Goethe in Weimar, oder: 29. Oktober ein Bericht Mendelssohns aus Berlin über die Uraufführung der Antigone (1841) an den Leipziger Geiger und Mitstreiter Ferdinand David, daneben ein Porträt seines Bruders Paul, der eben am 30. Oktober Geburtstag hatte. Nicht glücklich ist auch die Wahl der Schrifttypen: Standard für die Zitate, kursiv für die Erläuterungen; umgekehrt wäre plausibler. Ein strategischer Vorteil dieser Quellenpräsentation bleibt: Die vielen Abbildungen und Faksimilia sind sehr geschickt einzuscannen – für die nächste Powerpoint-Präsentation zu Mendelssohn.

5.2 Felix (Ausstellungskatalog Berlin)7
Die Berliner Staatsbibliothek hat dank der Nachlass-Übereignungen aus der Familie Mendelssohn in ihrer Musikabteilung ein »Mendelssohn-Archiv«, das reiches Quellenmaterial bietet und zu einer Ausstellung im Jubiläumsjahr 2009 quasi verpflichtet hat. Der Ausstellungskatalog ist eine vorzügliche »Quellenpräsentation light« geworden. Zunächst illustrieren technisch tadellos (und farbig) reproduzierte Quellen durchgängige Texte über den Berliner Mendelssohn-Nachlass und die biographischen Lebensstationen, eine vorzügliche Kurzbiographie! Dann ist es umgekehrt: Zu insgesamt 39 Musiktiteln, welche sowohl die Gattungsvielfalt als auch die Schaffensentwicklung widerspiegeln, erklärt der Text auf der linken Seite die großformatige Noten-Reproduktion auf der rechten, zumeist eine Autographseite, bisweilen auch eine Erstdruck­einblendung oder ein Druckexemplar mit handschriftlichen Ergänzungen. Alle speziell an den musikalischen Gestalten Interessierten kommen hier auf ihre Kosten, ohne dass die anderen Persönlichkeitsaspekte ausgeblendet wären. Es fehlen nicht Reproduktionen von wunderschönen Mendelssohn-Aquarellen, die seine Reiseeindrücke festhalten, die berühmte Sicht auf Bachs Tho­masschule und -kirche aus seiner Leipziger Wohnung, einige Briefseiten- und Reisetagebuch-Faksimilia und sogar eine Seite von der legendären Gartenzeitung, welche die jugendlichen Freunde auf dem Anwesen Leipziger Straße 3 zu Berlin produzierten. Zwei Ge­leitworte von Mitgliedern der Familie sorgen für eine persönliche Note, die angemessen das vermeintliche Neutrum einer staatlichen Sammlung in den immer noch existierenden personalen Kontext stellt.
Diese unter Ägide des jetzigen Berliner Archiv-Leiters, Roland Dieter Schmidt-Hensel, bewerkstelligte Publikation ist hinsichtlich von Konzeption, Präsentation und inhaltlicher Substanz der Texte herausragend. So »leicht« zugänglich, so ergiebig und zu­gleich ergötzlich dürfte Quellenstudium selten ausfallen. Der einzige »Nachteil«: als Paperback schlechter einzuscannen.



6. »FELIX«


Eine eigene Reflexion sei dem Titel der Berliner Ausstellung gewidmet. Im ersten Absatz des Geleitwortes der Staatsbibliothek-Generaldirektorin heißt es überraschend salopp: »FELIX geht immer, er hat immer Saison, ist immer präsent« (8). Beim Mendelssohn-Jubiläum vor zwölf Jahren wäre solch eine Formulierung wohl undenkbar gewesen. Inzwischen ist Felix ein häufiger Jungenname, wobei wohl ganz besonders gilt: »nomen est omen«. »Glück« als Lebensintegral hat Hochkonjunktur, ist Korrelat zur soziologisch erhobenen »Ästhetisierung des Alltagslebens« (G. Schulze) und Leitziel von »Lebenskunst«. Da kommt der Komponist Felix als Idol und Programm (in Großbuchstaben geschrieben!) wie gerufen, zumal er zu Lebzeiten so glückvoll agieren konnte und eine mozartmäßige Musik geschrieben hat, die beim Anhören Glücksbilder und -ge­fühle evoziert.
FELIX als Programm kennzeichnet einen Paradigmenwechsel bei den kulturellen Leitbildern. Nicht mehr das tragische Genie oder der leidende, verkannte und darum tiefgründige Künstler steht obenan. Mendelssohns früher Tod lässt der tragischen Komponente ja auch ihr Recht, aber: »FELIX, der Glückliche – obwohl er mit nur 38 Jahren mehreren Schlaganfällen erlag? Ja, FELIX, denn glücklich ist, wer unvergessen ist – unvergessen bis heute seit jenem 4. November 1847, an dem das Genie uns verließ.« (Geleitwort, 9) Das ist ziemlich plump geraten im banalen Todesanzeigen-Stil und letztlich geschichtsklitternd, als ob seit 1850 nicht alles unternommen worden wäre, um gerade diesen Felix vergessen zu machen. Hat sich hier schon das Paradigma der Fußballfans durchgesetzt, welche sich ihren Spaß nicht nehmen lassen und Autokorso fahren, egal ob ihre Mannschaft gewonnen hat oder nicht?
Dass Mendelssohns Musik Freude machen darf und dass man sich nicht genieren muss, wenn man das so empfindet, ist sicher ein Signal, das dieses Jubiläumsjahr gesetzt und als hoffentlich »ewiges Licht« installiert hat, aber wie der Mendelssohn-Urenkel Thomas A. Wach in seinem Geleitwort besonnen schreibt im Aufgreifen des Leipziger Gewandhaus-Mottos »RES SEVERA VERUM GAUDIUM«: »Freude zu machen ist ein ernstes Anliegen« (20).



7. FELIX und die Familie Mendelssohn


Der Name Mendelssohn steht ja nicht nur für den einen berühmten Komponisten, sondern für eine weit verzweigte Familie, die ihren gemeinsamen Stammvater im Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786) hat, der als Sohn eines Mendel diesen Namen prägte. Jedes Felix-Jubiläum ist so Anlass, die Mendelssohns überhaupt ins Blickfeld zu rücken. So wurde etwa zum Jubiläumsjahr 1997 ein Bildband mit dem Titel Die Mendelssohns. Bilder aus einer deutschen Familie, erstmals ediert 1990, neu aufgelegt. Nach der Jahrtausendwende kam mit einer auf gründlichen Recherchen fußenden Arbeit von Thomas Lackmann 2005 erstmals die FELIX-Metapher zum Tragen, bezogen auf die ganze Familie: Das Glück der Mendelssohns. Geschichte einer deutschen Familie. Die zum Jubiläumsjahr 2009 erschienene Familiengeschichte vermeidet aber im Titel die Glücks-Metapher und lässt vielsagend auch »deutsch« weg.

7.1 Julius H. Schoeps: Das Erbe der Mendelssohns8



Der Autor, Nachfahre von Paul Mendelssohn Bartholdy, dem jüngeren Bruder von Felix, konfrontiert die Leser schon im Vorwort mit der für alle Nachfahren bitteren Erfahrung, dass vormalige Wirkungsorte und Besitztümer (hier etwa die Mendelssohn-Bank in Berlin) keinerlei Spuren mehr erkennen lassen. Wenn dann alsbald noch ein gescheitertes Restitutionsverfahren nach der deutschen Wende mit Vorwürfen an die Behörden wie »fadenscheinige Vorwände« (19) verbunden wird, kann keine FELIX-Atmosphäre mehr aufkommen. Man muss dem Autor, der mit Restitutionsverfahren persönlich befasst war, sicher anrechnen, dass er als eigenen Forschungsbeitrag gerade die Entwicklungen an der Schwelle zur Nazi-Zeit und die dann erzwungene, rasante Auflösung des Mendelssohn-Komplexes genauer recherchiert hat, um schließlich auch die ominösen Wege einer höchstwertigen Gemäldesammlung zu erhellen. Aber der in jedem Falle unangenehme Eindruck einer revanchistischen Tendenz wird auch durch die Ausführungen am Ende (»Mehr Fragen als Antworten«) unterstrichen. Un­rechts-Vorgänge wie die Zwangsarisierung von Betrieben und Vermögen, welcher auch die Mendelssohn-Bank 1938 zum Opfer fiel, sind eines der zahlreichen schlimmen Kapitel deutscher Geschichte, aber das sollte gerade um seiner eigenen Problematik willen nicht mit dem Komponistenjubiläum verknüpft werden.
Diese Darstellung ist enorm hagiographisch gehalten, an den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen »Größen« und damit an den Männern in der Familie orientiert, um dann umso larmoyanter Niedergang und Verlust zu brandmarken. Für das künstlerische »Erbe« der Familie wäre etwa das Leipziger Haus von Lili Wach, der jüngsten Tochter von Felix, eine Beschreibung wert gewesen, war dies doch weiterhin ein kultureller Knotenpunkt in Mendelssohns Leipzig. Im vorne einprägnierten Stammbaum taucht Lili Wach schon gar nicht auf (und so auch nicht ihre in der Schweiz lebenden Nachkommen). Auch die Nachfahren der Hensels sind abgesehen vom Familiengeschichtsschreiber Sebastian nicht stamm­baumwürdig. Einen Zugang zum Eigentümlichen dieser bemerkenswerten Familie vermittelt dieses Buch für Außenstehende nicht unbedingt. Oft wird etwas als bei den Mendelssohns »üblich« konstatiert, jedoch keine Erklärung unternommen. Für das musika­lische Erbe ist als Komponist Arnold Mendelssohn (1855–1933) vorgestellt, der aber verwandtschaftlich von Felix ziemlich weit entfernt ist und sich in musikalischen Stilfragen explizit und scharf von »Mendelssohn« distanziert hat, was Schoeps mit keiner Silbe er­wähnt.
Vielleicht sollten sich die FELIX-Liebhaber besser auf die direkten Nachfahren des Komponisten und seiner kongenialen Schwes­ter Fanny Hensel konzentrieren.



8. Briefausgaben: Felix at his best


8.1 Felix Mendelssohn Bartholdy: Sämtliche Briefe9
Nachdem seit 1992 in Leipzig eine Werkausgabe installiert ist, welche der historisch kritischen Präsentation des kompositorischen Schaffens verpflichtet ist, hat der Öffentlichkeitsdruck des Jubiläumsjahres nun auch für den Start einer Briefausgabe nach den heutigen wissenschaftlichen Standards gesorgt. Zwei Bände sind zum Jubiläum im Druck vorgelegt worden mit 588, chronologisch angeordneten Schreiben bis Ende Juli 1832. Es sind also die ersten gut zehn Prozent erschlossen, aber die eigentlichen 15 Jahre des professionellen Wirkens mit den vielfältigsten persönlichen, künstlerischen und geschäftlichen Beziehungen fehlen noch.
Einen speziellen Charme erhalten diese beiden Bände dadurch, dass sie die Jahre der »Wanderlust« (so bei Todd die Überschrift zum Zeitraum 1830–32) repräsentieren, wo sozusagen vertragsgemäß an die Familie Reiseberichte zu liefern waren. Und da zeigt sich »Felix at his best«. Nicht von ungefähr haben die Verwandten als erste Briefpublikation 1861 Auszüge aus diesen Reisebriefen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine Kostprobe, als Einstieg für Mendelssohn-Vorträge des Rezensenten im fränkischen Wohnumfeld bestens bewährt:
»Franken ist ein göttliches Land. Will man sich heimisch und wohl fühlen, zwischen lauter Gärten und Spaziergängen reisen, will man die ausgebreitetste Fruchtbarkeit mit schönen Bergformen verbunden sehn und genießen, so muß man nach Franken. Ich befinde mich in diesem Augenblicke so behäbig, daß ich glaube der Erzbischof von Bamberg zu seyn.« (Band I, 208 f.)
So beginnt der 18-jährige Mendelssohn am 4.9.1827 einen seiner Reiseberichte. Die Tourismuswerbung heute könnte sich da einiges holen, denn Mendelssohn ist kein grantiger deutscher Tourist, dem nichts passt, sondern einer, der auf Reisen sein Glück sucht und auch findet in vielen kleinen und großen Herrlichkeiten, die Natur und Mensch ausgestreut haben, um dies dann mit farbiger und detaillierter Schilderung zu benennen.
Eine überraschende Erfahrung ist, dass das Vortragen der Briefe eine zusätzliche Qualität an den Tag bringt. Sie klingen fantastisch und haben trotz des gliederungsarmen, darin aber authentischen Druckbildes eine zwingende Phrasierung. Anders gesagt: Man kann Mendelssohn auch in seinen Worten zuhören.
Die in den Reiseberichten eingestreuten Schilderungen des kulturellen Lebens finden einen Kulminationspunkt in der minutiösen Rekapitulation dessen, was Mendelssohn in der Karwoche 1831 bei der päpstlichen Liturgie in Rom erlebt hat. Davon gibt es gleich zwei Berichte, einen spontaneren an die Familie (Band II, 245–250) und einen später verfassten, fachlich ausdifferenzierten mit zahlreichen Notenbeispielen an den Berliner Lehrmeister Zelter (283–293), eine in dieser Form und Präzision wohl einzigartige liturgie historische Quelle, dabei wieder unterhaltsam in bestem Sinne und zugleich vielsagend über Mendelssohns »protestantische« Identität:
»Schlimm ist es freilich, daß die Stellen die sie am Rührendsten und Andächtigsten singen, und die auch offenbar mit Vorliebe componirt sind, die Ueberschriften der einzelnen Capitel oder Verse: Aleph, beth, gimmel etc. sein müssen ... Dagegen muß sich doch ein Protestantisches Herz etwas empören, und wenn man die Absicht hat, diese Gesänge in unsre Kirchen einzuführen, so scheint mir schon darin die Unmöglichkeit davon zu liegen; denn wenn mir einer singt ›erstes Capitel‹ so werde ich nicht andächtig, es sey auch noch so schön.« (285)
Noch expliziter lutherisch outet sich Mendelssohn ebenfalls aus dem (wegen Papsttod am 30.11. besonders religiös aufgeladenen) Rom am 2. Weihnachtsfeiertag 1830, wenn er dem Freund Klingemann in London seine Begeisterung über Luthers Lieder schildert, welche ihm als Reiselektüre von einem Wiener Freund in einer Ausgabe aus dem Jahr 1817 mitgegeben wurden: »Wie da jedes Wort nach Musik ruft, wie jede Strophe ein andres Stück ist, wie überall ein Fortschritt, eine Bewegung, ein Wachsen sich findet, das ist gar zu herrlich, und ich componire hier mitten in Rom sehr fleißig daran, und betrachte mir das Kloster, wo er gewohnt hat und sich damals von dem tollen Treiben der Herren überzeugte.« (184) Schließlich zitiert er dem Freund noch die ganze Schlussstrophe von Luthers Erstlingslied Ein neues Lied wir heben an über den Brüsseler Märtyrertod, das ja in keinem Gesangbuch zu finden sei.
Die Kommentierung der Briefe im zweiten Teil jedes Bandes ist möglichst knapp, aber präzise gehalten. Die o. g. Lutherlied-Ausgabe etwa wird identifiziert und beschrieben, das Märtyrerlied nachgewiesen. Über ein differenziertes Register mit vielen Untergliederungen (z. B. auch bei »Luther«) und das Mendelssohn-Werkverzeichnis lassen sich Äußerungen zu allem und jedem sicher auffinden. Auch die allgemeine Einleitung zur vorliegenden Edition, zur Geschichte der bisherigen Briefausgaben und zur Charakteristik von Mendelssohns Briefstil im ersten Band von Wilhelm Seidel ist ein Gewinn.
Nicht ideal ist der Verzicht auf eine Korrespondenz-Ausgabe, welche jeweils auch die an Mendelssohn gerichteten Schreiben bringt. Auf diese wird lediglich in den Kommentierungen verwiesen. Vor allem in den Folgebänden mit höherem Anteil an berufsorientierter Korrespondenz im Hin und Her mit Musikerkollegen etc. wird das als Manko empfunden werden. Der Hinweis Band 1, 58, dass eine »ergänzende Edition der Gegenbriefe« in Vorbereitung sei, kann darüber nicht hinwegtrösten, denn die nächsten großen Mendelssohn-Jubiläen als Zielmargen stehen erst 2047 und 2059 an.
Verlegerisch nachvollziehbar, aber nicht nutzerfreundlich ist die Verpflichtung der Käufer zur Subskription der gesamten Reihe. Der Rezensent hätte bisher nach jedem Mendelssohn-Vortrag eine ganze Reihe von »light«-Ausgaben an dankbare Hörer absetzen können.

8.2 Robert und Clara Schumann im Briefwechsel



mit der Familie Mendelssohn10
Das analoge Doppelprojekt Werkausgabe/Briefausgabe zu Robert Schumann (1810–1856), Zeitgenosse und enger Freund Mendelssohns, hat dessen Jubiläum 2009 zum Anlass genommen, die Serie II der Freundes- und Künstlerbriefe mit dem Mendelssohn-Band zu eröffnen, nachdem bisher einige Bände zum Verleger-Briefwechsel Schumanns (Serie III) vorliegen.
Diese Briefausgabe verfolgt ein anderes Konzept. Es ist eine Korrespondenzausgabe, welche die im Umfang (wegen des längeren Lebens von Clara Schumann) noch größere Materialfülle durch klare inhaltliche Gliederung bewältigt, nach den verschiedenen Adressatengruppen und Personen Serien und Bände abteilt und so die Präsentation von Brief und Gegenbrief möglich macht. Die Nutzer können sich bei der Subskription für einzelne Bereiche der Korrespondenz entscheiden und sogar Einzelbände separat erwerben.
In der Darstellung sind hier die Kommentierungen als Fußnoten direkt zum Brieftext gesetzt, ebenfalls ein Plus in Sachen Nutzerfreundlichkeit. Dazu kommen ausführliche Einleitungskapitel, welche die historischen Kontexte erhellen. Überhaupt wird hier über die philologisch genaue Quellenpräsentation hinaus mehr erklärt und durch Querverweise erschlossen als in der Mendelssohn-Edition (in der Einzelkommentierung wie im Personenverzeichnis), was allerdings den Nachteil haben kann, dass sich bisweilen anfechtbare Erklärungen und Deutungen einschleichen (z. B. falsche biographische Angaben zu Heinrich von Herzogenberg und Fußnote 7 zu ihm auf S. 448).
Die Künstlerfreundschaft zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und dem ein Jahr jüngeren Robert Schumann ist als persönliche Beziehung von Haus zu Haus, einige Jahre am selben Ort in Leipzig, ein schönes Kapitel der deutschen Musikgeschichte, das sich auch ganz anders als Konkurrenzverhältnis hätte gestalten können. Die enge Verquickung von »Geschäftlichem«, also Konzertabsprachen etc., Künstlerischem in Bezug auf beider Schaffen und Persönlichem wie der Anteilnahme an Krankheiten und Kindergeburten, macht den spezifischen Reiz dieser Konversation aus. Zu­dem kommt die eigene Rolle von Clara Schumann als Klavierinterpretin von Werken ihres Mannes ebenso wie Mendelssohns und insofern auch »Geschäftspartnerin« stark zum Tragen.
Was diese Briefausgabe leider nicht erfasst, zur Konversation über die Musik zwischen den beiden Komponisten aber essentiell dazu gehört, ist Schumanns schriftstellerisches Wirken als Autor und Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik. Hier wurden oft Mendelssohns Werke, Konzertaufführungen und speziell auch dessen Einsatz für ein Bach-Denkmal in Leipzig mit stilistisch hochstehenden Worten gewürdigt. Schumanns Briefe sind in der Regel deutlich knapper und unattraktiver als die Mendelssohns. Ersterer entfaltete sein schriftstellerisches Profil eher in den Zeitungsbeiträgen.
Da Clara Schumann ihren Gatten um 40 Jahre überlebt hat und die Mendelssohn-Beziehung Fortsetzung fand in Kontakten zu länger lebenden Familienmitgliedern, bietet dieser Briefband als sinnvolle Erweiterung zunächst noch die Korrespondenz beider Schumanns mit der gleichfalls 1847 verstorbenen Felix-Schwester Fanny Hensel, dann mit dem jüngeren Bruder Paul (gest. 1874), Clara Schumanns Verkehr mit dem Felix-Neffen Franz (gest. 1889) und dessen Sohn Robert (geb. 1857), welche sich als Bankiers namentlich in Vermögensfragen sehr um die kinderreiche Schumann-Familie kümmerten. Es waren aber auch dies Beziehungen von Haus zu Haus, wo die Ehegattinnen einbezogen waren und in Sachen Konversation oft die Eifrigeren waren (z. B. Enole, die Gattin von Franz).



9. Das Werkverzeichnis als Forschungsgrundlage?


9.1 Ralf Wehner: Felix Mendelssohn Bartholdy



(Werkverzeichnis)11
Ebenfalls der Nötigung durch das Jubiläumsjahr ist zu danken, dass als Bestandteil der auf Jahrzehnte projektierten Leipziger Werkausgabe das umfassende Werkverzeichnis bereits vorgelegt wird. Unabhängig von der einstigen Publikations-Systematik mit 72 Opuszahlen zu Lebzeiten des Komponisten und fast 50 postum zugewiesenen, daneben Veröffentlichungen ohne Opuszahl und eben auch zahlreichen nicht publizierten Manuskripten ist eine neue, inhaltlich stimmige Gliederung z. B. nach Besetzungen vorgenommen und die Anordnung innerhalb der Rubriken chronolo gisch nach Entstehungszeit. Das Werkverzeichnis ist in Gliederung, Präsentation und Übersichtsverzeichnissen sehr nutzerfreundlich angelegt, die Noten-Incipits wie die Quellenangaben und Anmerkungen sind kurz gehalten, aber hinreichend zur Erfassung des Sachverhalts.
Knapp 30 Seiten Einleitung des Herausgebers (deutsch/englisch) geben einen guten Überblick über die Publikationsgeschichte der Werke und der bisherigen Werkverzeichnisse und stellen die jetzt gewählte Systematik vor.
Zu bemängeln ist die Nachlässigkeit bei der Benennung der Textquellen zu Vertonungen im weltlichen wie geistlichen Be­reich. Bei freier Dichtung wird lediglich der Autor genannt. Bei den Choral­kantaten erfolgt kein Hinweis auf die von Mendelssohn vorgenommene Strophenauswahl und es passiert ein kapitaler Fehler: Der Text von »O Haupt voll Blut und Wunden« (A 8, 9) wird Martin Luther zugewiesen. Bei »Christe, du Lamm Gottes« und »Verleih uns Frieden« wäre es zudem angebracht, auf die Luthers Fassung zu­grunde liegenden lateinischen Vorlagen zu verweisen. Bei größeren Bibeltext-Vertonungen wird auf Stellenangaben verzichtet, was bei der Komplexität der Oratorien nachvollziehbar ist. Aber bei den Psalmvertonungen hätte man wenigstens die konkret umgesetzten Psalmverse angegeben können. Nicht korrekt ist, bei Lobgesang (A 18, 22) wie bei dem Fragment des dritten Oratoriums (A 26, 36) als Textquelle nur pauschal »Bibel« anzugeben, da auch Choralstrophen vorkommen. Bei Paulus (A 14, 13) und Elias (A 25, 28) werden die beteiligten Librettisten quasi als Textautoren aufgeführt, wo sie doch »Bibel« (und in ersterem Falle auch Choralstrophen) redigiert haben.
Dieser negative Befund unterstreicht, dass ein bisher wohl in keiner Editionskonzeption vorgesehenes, dringliches Desiderat eine kritische Edition sämtlicher von Felix Mendelssohn Bartholdy vertonter Texte ist. Im geistlichen Bereich ist das nicht nur geboten wegen der historischen Bedeutung des Eigenbeitrags von Mendelssohn, sondern auch wegen der zeittypischen Verfahrensweise, Bibeltexte durch subtile Umgestaltung in ein Libretto einzupassen und Choralstrophen unter Umständen rationalistisch freizügig umzudichten (z. B. »Nun danket alle Gott« im Lobgesang). Dass im weltlichen Bereich etwa zu den Textgrundlagen der Klavierlieder noch keine umfassenden Untersuchungen und Textausgaben vorliegen, wie es bei Schubert oder beim Freund Schumann durchaus der Fall ist, zeigt, dass Mendelssohn im Klassiker-Ranking der Wissenschaft noch deutlich weiter unten steht.



10. Erkenntnisgewinne in Studien und Vorträgen


Der wissenschaftliche Ertrag des Jubiläumsjahres wird sich erst zeigen, wenn Tagungsberichte vorliegen von den Symposien, die 2009 abgehalten wurden. Zwei aktuelle Vortrags- und Studiensammlungen sind aber bereits als Jubiläumsgabe vorgelegt worden und hier zu würdigen. Dahinter steht der muntere Wettbewerb der beiden Mendelssohn-Gesellschaften in Hamburg und Berlin um die Mendelssohn-Freundschaft.

10.1 Hamburger Mendelssohn-Vorträge12
Hier geht es in Abhandlungen namhafter Autoren um die Vielschichtigkeit von Mendelssohns Persönlichkeit mit Beiträgen zur Prägung durch Goethe, zum Rom-Erlebnis der Schwester Fanny, zu den Streichquartetten Mendelssohns, zu seinen Potenzen als Briefschreiber, als Zeichner und Maler, zu seiner breitenwirksamen Rolle als Leiter der Niederrheinischen Musikfeste, zum Profil des Vaters Abraham und schließlich im spannenden Gegenüber einerseits »Mendelssohn der Theologe. Bemerkungen zu seinen Oratorien und Oratorienplänen«, andererseits »Die erste Walpurgisnach t– ein bedeutender Sonderfall in Mendelssohns Schaffen«. Bei Ersterem eröffnet der Göttinger Musikwissenschaftler Martin Staehelin in der Konzeption der drei Oratorien Paulus, Elias und Erde, Himmel, Hölle (»Christus«) eine konzise Deutungsperspektive als Trilogie, welche ihren Kulminationspunkt in einem Christus-Oratorium finden sollte. Bei Georg Borchardts Besprechung der schon 1831 in Rom konzipierten Walpurgisnacht-Kantate, später noch mehrfach umgearbeitet, drängt sich demgegenüber die »hochsymbolische« Deutung in den Vordergrund, dass hier dem an den Rand bzw. ins Ghetto gedrängten Judentum eine Stimme verliehen wurde.

10.2 Mendelssohn-Studien13
Die für Untersuchungen zur gesamten Mendelssohn-Familie bestimmten Editionen der Berliner Mendelssohn-Gesellschaft konzentrieren sich hier weitgehend auf den Komponisten mit zahlreichen Detailstudien zu Leben und Werk. Kirchenmusikalische Bezüge weisen präzise Ausführungen zu Mendelssohns Wirken mit dem Berliner Domchor 1843/44 und zu seiner Zusammenarbeit mit Thomanern und Thomaskirche in Leipzig auf. Einen sehr bedeutsamen Beitrag stellt wieder M. Staehelin: »Der frühreife Felix Mendelssohn Bartholdy. Bemerkungen zu seinem ›Konfirmationsbekenntnis‹« (11–49). Die bisher kaum zur Kenntnis ge­nommene Quelle einer eigenhändigen »Beantwortung von Fragen als Vorbereitung zur Confirmation« des 16-Jährigen samt der Korrekturen und Bemerkungen des (reformierten) Konfirmators Wilmsen dazu wird hier vollständig präsentiert, alles Verfügbare über den Konfirmator erschlossen und die Eigenleistung des Konfirmanden bei der Beantwortung der Fragen erhoben:
»Mendelssohns besondere Leistung liegt ... in der Erfassung des Wesentlichen der jeweiligen Frage, in der zusätzlichen Aufnahme und Einbindung äußerer Anregungen und Mitteilungen teilweise des Lehrers Wilmsen, schließlich aber besonders in der Formulierung der jeweiligen Antworten in einer Gestalt, die klar und verständlich, in ihrer Argumentation gleichsam in sich gerundet und ›professionell‹ ist und überdies ... so selbstverständlich überzeugt wirkt, dass man darin bereits eine gleichsam lebenslange protestantische Gläubigkeit des Komponisten wahrnehmen zu können meint« (48 f.).
Für die theologische Wissenschaft ist es beschämend, dass solche Arbeiten und Ergebnisse von einem (emeritierten) Musikwissenschaftler präsentiert werden. Theologen sollten diesen Befund präziser frömmigkeits- und theologiegeschichtlich einordnen und dann im Blick auf die weiteren Prägungen Mendelssohns durch Theologenfreunde, Lutherlieder etc. an die Arbeit gehen, seine geistlichen Werke genau betrachten hinsichtlich der Textgrundlagen und deren musikalischer Umsetzung usw. Verstreut finden sich in Zeitschriften schon Beiträge aus Theologenfeder, etwa im Archiv für Musikwissenschaft 2007 (35–55) und 2009 (17–53) von Ulrich Schröter präzise kritische Editionen der Paulus- und Elias-Libretti (mit Aufweis der Abweichungen vom Bibeltext), dann im Jubiläumsheft von Musik und Kirche 2009 (Heft 1, 36–44) ein hermeneutisch hochreflektierter Beitrag von Manuel Schilling zu Mendelssohn »als Textdichter und Theologe« in Bezug auf den Elias.
Aber es bleibt noch viel zu tun, wobei im Gegenüber zu den viel besprochenen Oratorien und der neu in den Blick gekommenen, vermeintlich anti-christlichen Walpurgisnacht vor allem der lange Zeit eher belächelte Lobgesang aus dem Jahr 1840 als Schlüsselwerk einer genauen Untersuchung und Deutung bedarf. Hier formuliert Mendelssohn sein Soli Deo Gloria. Mit Lutherzitat über der ersten Partiturseite unterstrichen, hat er als Werkmotto das letzte, integrale Wort des gesamten Psalters gewählt: »Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!«

Fussnoten:

1) Geck, Martin: Felix Mendelssohn Bartholdy. 2. Aufl. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009. 160 S. m. Abb. 8° = Rowohlts Monographien, 50709. Kart. EUR 8,95. ISBN 978-3-499-50709-0.
2) Eichhorn, Andreas: Felix Mendelssohn Bartholdy. München: Beck 2008. 127 S. m. Abb. kl.8° = Wissen in der Beck’schen Reihe, 2449. Kart. EUR 8,95. ISBN 978-3-406-56249-5.
3) Forner, Johannes: Das Wunder Mendelssohn. Porträt eines großen Musikers. Leipzig: Faber & Faber 2009. 287 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 17,90. ISBN 978-3-86730-090-2.
4) Popp, Johannes: Reisen zu Felix Mendelssohn Bartholdy. Stationen seines Lebens und Wirkens. Bad Münstereifel: Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn 2008. 172 S. m. Abb. Geb. EUR 16,80. ISBN 978-3-939721-01-7.
5) Todd, R. Larry: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – Seine Musik. Aus d. Engl. übers. v. H. Beste unter Mitwirkung v. Th. Schmidt-Beste. Mit 116 Farb- u. Schwarzweißabbildungen und 339 Notenbeispielen. Stuttgart: Carus-Verlag; Reclam jun. 2008. 798 S. gr.8°. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-89948-098-6 (Carus); 978-3-15-010677-8 (Reclam).
6) Klein, Hans-Günther [Hrsg.]: Felix Mendelssohn Bartholdy. Ein Almanach. Hrsg. im Auftrag der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Stiftung. Leipzig: Henschel 2008. 399 S. m. zahlr. Abb. gr.8°. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-89487-619-7.
7) Felix. Felix Mendelssohn Bartholdy zum 200. Geburtstag. Eine Publikation d. Staatsbibliothek zu Berlin anlässl. der Ausstellung FELIX vom 30. Januar bis 14. März 2009. Stuttgart: Carus-Verlag 2009. 176 S. m. Abb. gr.8° = Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge Neue Folge, 53. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-89948-116-7.
8) Schoeps, Julius H.: Das Erbe der Mendelssohns. Biographie einer Familie. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2009. 491 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-10-073606-2.
9) Felix Mendelssohn Bartholdy: Sämtliche Briefe. Auf Basis d. v. R. Elvers angelegten Sammlung hrsg. v. H. Loos u. W. Seidel. Bd. 1: 1816 bis Juni 1830. Hrsg. u. kommentiert v. J. Appold, R. Back, H. Loos u. W. Seidel. Kassel: Bärenreiter 2008. 764 S. gr.8°. Lw. EUR 149,00 (Subskr.). ISBN 978-3-7618-2301-9. Bd. 2: Juli 1830 bis Juli 1832. Hrsg. u. kommentiert v. A. Morgenstern u. U. Wald. Kassel u. a.: Bärenreiter 2009. 788 S. m. Abb. gr.8°. Lw. EUR 149,00 (Subskr.). ISBN 978-3-7618-2302-6.
10) Schumann Briefedition. Serie II: Freundes- und Künstlerbriefwechsel. Editionsleitung: Th. Synofzik u. M. Heinemann. Bd. 1: Robert und Clara Schumann im Briefwechsel mit der Familie Mendelssohn. Hrsg. v. K. R. M. Krahe, K. Reyersbach u. Th. Synofzik. Köln: Dohr 2009. 517 S. 8°. Lw. EUR 69,80. ISBN 978-3-86846-012-4.
11) Wehner, Ralf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke/Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Serie XIII, Bd. 1 A: Werkverzeichnis. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2009. LXXXVIII, 595 S. 4°. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-7651-0317-9.
12) Hamburger Mendelssohn-Vorträge. Bd. 2. Im Auftrag d. Internationalen Felix Mendelssohn Bartholdy-Gesellschaft, Hamburg, hrsg. v. H. J. Marx. Wiesbaden: Reichert 2008. 238 S. m. zahlr. Abb. u. Notenbeispielen. 8°. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-89500-595-4.
13) Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kulturgeschichte. Bd. 16: Zum 200. Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy. Hrsg. f. d. Mendelssohn-Gesellschaft v. H.-G. Klein u. Ch. Schulte. Hannover: Wehrhahn 2009. 484 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-86525-109-1.