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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1403-1404

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Everett, Daniel

Titel/Untertitel:

Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas. Aus d. Engl. v. S. Vogel.

Verlag:

München: Deutsche Verlags-Anstalt (Random House) 2010. 414 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-421-04307-8.

Rezensent:

Hans-Jürgen Prien

Daniel Everett ist heute als Sprachwissenschaftler mit Schwerpunkt Phonetik und Phonologie tätig. Er lehrte von 1989 bis 1999 an der University of Pittsburgh, seit 2006 an der Illinois State University und ist seit Juli 2010 Dekan der Fakultät von ›Arts and Sciences‹ der Bently University in Waltham/Mass. Aber als er sich 1977 mit seiner Familie zur Ethnie der Pirahã begab, tat er dies im Dienst des Summer Institut of Linguistics (SIL), also als Wycliffe Bible Translator (WBT). Er war nicht religiös sozialisiert, kam aus Hippiekreisen und war von seiner Frau Keren zum Glauben geführt, am Moody Bible Institute ausgebildet und auf Feldforschung vorbereitet worden. Er hatte Evangelisationspraxis in Chicago als Straßenprediger, bei Hausbesuchen und als Prediger auf Missionsveranstaltungen gewonnen.
Sporadisch hatten Missionare schon seit mehr als 100 Jahren vergeblich versucht, auch nur einen einzigen Pirahã für den christlichen Glauben zu gewinnen. Die heute nur noch ca. 400 Pirahã leben zerstreut in kleinen Dörfern am Maici im Staat Amazonas. Der Maici ist ein Nebenfluss des Rio dos Marmelos und dieser wiederum des Madeira. Insgesamt sollte E. ca. 30 Jahre bei 20 verschiedenen isolierten Mikroethnien am Amazonas verbringen.
Bei seinen siebenjährigen, durch linguistische Studien mehrfach unterbrochenen Aufenthalten bei den Pirahã kämpfte er um die Entschlüsselung von deren kaum erforschter Sprache, wobei es ihm fast wie einem Missionar des 16. Jh.s erging, denn kein Pirahã kannte mehr als ein Dutzend portugiesischer Wörter, und deren Sprache ist mit keiner lebenden Sprache verwandt. Obwohl er die Pirahã nicht einmal kannte, kam er zu ihnen mit der missiona­rischen Überzeugung, sie verändern zu können und zu sollen.
Die caboclos, akkulturierte portugiesisch sprechende Indianer oder Mischlinge, pflegen noch die aus dem 16. Jh. bekannten Vorurteile gegenüber Waldindianern. Sie betrachten die Pirahã als Waldtiere wie die Affen, also bestenfalls als faule Untermenschen, weshalb E. vom Rassismus der caboclos spricht. Während die caboclos unter dem Einfluss westlichen Wirtschaftsdenkens ihre Armut überwinden wollen, ist den materiell schlechter gestellten Pirahã der Begriff Armut fremd. Sie sind mit ihren Lebensumständen zufrieden. Sie lehnen Geld ab und beschränken sich auf gelegentlichen Tauschhandel. Sie fühlen sich anderen Kulturen keineswegs unter-, sondern eher überlegen, weshalb sie es auch ablehnen, Portugiesisch zu lernen. Sie halten ihre Lebensweise für die bestmögliche und sie wollten keine neue Weltanschauung, sondern verteidigten die ihre sehr gut. Diese Einstellung sollte schließlich zum Scheitern aller Missionsversuche führen. Daran änderte auch die praktizierte Konvivenz nichts, ein Ausdruck, den E. nie erwähnt.
Im Sinne des bei evangelikalen Christen üblichen ›Zeugnis Ablegens‹ erzählte E. den Pirahã von seinem Weg zum Glauben an Jesus. Nachdem er das Markusevangelium übersetzt hatte, spielte er es ihnen häufig auf Tonband vor. Denn die Mitarbeiter des SIL sollen sich nicht als Missionare verstehen. Vielmehr soll der wortwörtlich als Gottes Wort verstandene Bibeltext für sich selbst sprechen. Aber bald erklärten die Pirahã, sie wollten nicht wie die Amerikaner leben. Sie trinken gern und wollen nicht nur eine Frau lieben. Sie wollten nichts mehr von Jesus hören, zumal E. nicht persönlich mit Jesus gesprochen hatte. Denn für sie zählt nur das persönliche Zeugnis aus der Gegenwart, das Prinzip des unmittelbaren Erlebens. Sie betrachteten E. aber als Freund.
Doch E. meinte damals, die Pirahã müssten wählen zwischen Ziel und Ziellosigkeit, »zwischen Leben und Tod, zwischen freudigem Glauben und ängstlicher Verzweiflung, zwischen Himmel und Hölle«. Aber die Botschaft, der E. sein Leben gewidmet hatte, passte nicht in ihre Kultur. »Es gibt bei den Pirahãs kein Gefühl für Sünde und kein Bedürfnis, die Menschheit oder auch nur sich selbst ›in Ordnung zu bringen‹. Im Großen und Ganzen akzeptiert man die Dinge, wie sie sind. Vor dem Tod hat man keine Angst. Ihr Glaube ist der Glaube an sich selbst« (396). Die Pirahã kennen nicht »das Streben nach Wahrheit als transzendentaler Realität« (400).
Die Ablehnung des Evangeliums führte E. selbst in eine Glaubenskrise, so dass er schließlich im stillen Kämmerlein ein Atheist wurde, sich aber 20 Jahre lang nicht traute, das dem SIL zu bekennen. Seine Abkehr von der Religion und die damit verbundene Erkenntniskrise führten auch zum Zerbrechen seiner Ehe. Er kam zu dem Schluss, dass er in einer Wahnvorstellung lebte. Gott und Wahrheit behindern das Leben und das geistige Wohlbefinden, »zumindest, wenn die Pirahã recht haben« (398). Von den 20 Mikroethnien, die E. untersucht hat, hat er bei keiner ein solches Maß an Glück und Zufriedenheit festgestellt wie bei den Pirahã, was er sich nicht erklären kann. Daher also der Titel der deutschen Übersetzung.
Man kann sich fragen, ob Ethnien erst durch den Kontakt mit der westlichen Zivilisation, durch Ausbeutung, Überfremdung und Landraub zerbrochen werden müssen, bevor christliche Mission Erfolg hat. Verwunderlich ist freilich auch, dass E. sich nicht mit der modernen Diskussion über Mission oder mit dem historisch-kritischen Bibelverständnis auseinandergesetzt hat.
Nach seiner Abwendung von der Mission, hat sich E. ganz auf die Linguistik gestürzt. Und so ist das Buch hochgradig sprachwissenschaftlich geprägt. E., der in Brasilien noch Linguistik studierte und an der UNICAMP in São Paulo promoviert wurde, erkannte, dass das Pirahã keine Grammatik hat, keine Formen der Vergangenheit kennt, keine abstrakten Namen für Farben und keine Zahlen. Er betont den engen Zusammenhang von Sprache und Kultur und setzt sich diesbezüglich namentlich mit der einflussreichen linguistischen Theorie von Noam Chomsky auseinander.
Abgesehen von den linguistischen Fragen verdeutlicht dieses Buch am Rande, wie problematisch die fundamentalistischen Missionsansätze des SIL oder der New Tribes Mission sind.