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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1398-1400

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter

Titel/Untertitel:

Ein Leben für die Kirche. Zinzendorf als Praktischer Theologe.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 226 S. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-525-57009-8.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Zinzendorf war Jurist, eignete sich aber ein beachtliches theologisches Wissen an, das durch die persönliche Spiritualität und die Gemeindepraxis motiviert war. Insofern war er praktischer Theologe in einer sehr kreativen, in vieler Hinsicht progressiven Weise. Anlässlich des 250. Todestages Zinzendorfs bietet Peter Zimmerling ge­meinsam mit Diet­rich Meyer und Peter Vogt einen Überblick über die Impulse, die auf den verschiedenen praktisch-theologischen Handlungsfeldern vom Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine ausgingen.
»Zinzendorfs Überlegungen zur Predigt« würdigt Z., indem er be­sonders das aus dem Gemeindeleben hervorgehende dialogische Predigtverständnis beschreibt, das die mündige Gemeinde voraussetzt und das sich bei Schleiermacher wiederfindet. Aufsehen er­regte der Versuch des Grafen, eine neue religiöse Sprache zu schaffen, die auf rhetorische Manipulation verzichtet und den unterschiedlichen Menschen verständlich ist.
»Zinzendorfs liturgische Neuschöpfungen« untersucht Dietrich Meyer. Zentrales Motiv ist das »liturgische Leben« als tägliche Chris­tusgemeinschaft. Diesem Ziel dient die Vielfalt gemeindlicher Versammlungsformen, die sich ursprünglich unter dem Einfluss Gottfried Arnolds am Ideal urchristlichen Gemeindelebens orientierten. Urbild der Liturgie bleibt der himmlische Gottesdienst. »Das Gotteslob und die harmonische, sanfte Musik der Gemeine bringen in Verbindung mit der himmlischen Gemeinde« (50). Zur »allerinnigsten connexion mit der Person des Heilandes« führt das Abendmahl (57), das vor allem als Lobpreis und Dank für die Erlösungstat Jesu verstanden wird.
Meyer beschreibt sodann »Zinzendorfs Anregungen und Bedeutung für den Gemeindegesang«. Die Singstunden, die der junge Graf in Halle als pädagogische Veranstaltung kennengelernt hatte, wurden in Herrnhut zur Ausdrucksform der lebendigen Gemeinde. Das Singen verinnerlicht die göttliche Wahrheit und drückt sie zugleich nach außen aus. Meyer verschweigt nicht die Sprachkünstelei, die schon im Barock Anstoß erregte.
»Zinzendorf als Seelsorger« ist nach Z. bestimmt durch die Er­kenntnis der Individualität und der Entwicklungsphasen des Menschseins. Die Individualität verbietet jeden Druck in der Seelsorge. Die »Banden« und »Chöre« dienten der Organisation einer alters- und geschlechtsspezifischen Seelsorge. Da im Rahmen der Kirchenzucht nicht selten Bandenmitglieder vom Abendmahl ausgeschlossen wurden, stellt sich die Frage, ob die Gruppenstruktur nicht entgegen der Absicht die Mitglieder unter Druck setzte.
Für »Zinzendorf als Katechet« ist nach Meyer wesentlich, dass er eine evangelisch-freiheitliche Erziehung anstrebte und Motive Rousseaus vorwegnahm. Die »Chöre« dienten einer ganzheitlichen Prägung der Kinder, und das Ideal der Kindlichkeit bildete eine Grundkategorie brüderischer Frömmigkeit.
Der größte Teil der gemeindepraktischen Tätigkeit des Grafen muss laut Z. heute dem Stichwort Gemeindeaufbau subsummiert werden, dem ein ökumenisches Kirchenverständnis zu Grunde liegt. Der bekannte Satz »Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft« prägt die Spiritualität und wirkt strukturbildend. Erstmals nach der Reformation wird das allgemeine Priestertum praktisch verwirklicht, indem fast alle Gemeindeglieder Ämter übernehmen. Peter Vogt verstärkt diesen Aspekt, indem er »Zinzendorfs Verständnis des geistlichen Amts« beschreibt. Besonders progressiv war die Übertragung von Ämtern an Frauen.
»Die Spiritualität Zinzendorfs« versteht Z. »als Frömmigkeit, die ästhetisch, aristokratisch, von Freude und Dankbarkeit und liturgisch geprägt ist« (179). Der pietistische Moralismus wird durch das Lebensgefühl von Freude und Dankbarkeit sowie in der Besinnung auf die lutherische Rechtfertigungslehre überwunden. Die christozentrische Mystik prägt den Alltag und revolutioniert die sozialen Verhältnisse, so dass die Leibeigenschaft hundert Jahre vor Preußen aufgehoben wird. Abschließend würdigt Z. »Zinzendorf als Erfinder der Losungen«, die dazu dienen, die mystische Nähe Jesu in seinem Wort zu erfahren.
Der gut lesbare Überblick über Zinzendorfs praktisch-theologische Motive und Aktivitäten hinterlässt die Frage, warum der Gründer Herrnhuts so viel Widerstand provoziert hat, selbst bei wohlwollenden Leuten wie Bengel. War er nur seiner Zeit voraus, be­sonders unter ökumenischem Aspekt, aber auch in sozialkritischer Hinsicht, oder überforderte er viele seiner Zeitgenossen? Die vorliegende Darstellung legt es nahe, ihm einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Praktischen Theologie einzuräumen, als Vertreter einer Spiritualität, die in der Volkskirche belebend wirkt, aber gefährdet ist, wie einst die Brüdergemeine aus ihr auszuwandern oder verdrängt zu werden.