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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1393-1395

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nicol, Martin

Titel/Untertitel:

Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evange­lischen Gottesdienst.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 336 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-525-60221-8.

Rezensent:

Thomas Klie

Wer den journalistischen Essay schätzt, sich in ihm angeregt fühlt, sein Vorwissen in eine überraschende Perspektive gerückt zu sehen, um dabei auf unterhaltsame Weise en passant wissenschaftliche Erkenntnisse vorgeführt zu bekommen, ohne sich im Di­-ckicht fußnotiger Referenzen zu verlieren, der wird gern zu dieser »lockeren Lektüre« (5) in liturgicis greifen. Die zwölf Kapitel sollen bewusst auch »einfach kreuz und quer« gelesen werden können. Unter dem »theologischen Leitbild« des Geheimnisses bietet Martin Nicol eine Apologie der lutherischen Gottesfeier: »Ich plädiere dafür, ... es schlicht noch einmal mit dem evangelischen Gottesdienst der Tradition zu versuchen.« (12)
N. besetzt mit seinen liturgieästhetischen Streifzügen positionell das derzeit breite Mittelfeld zwischen kultischem Realismus und Schleiermachers Darstellungsparadigma. Jedes Kapitel gliedert sich in einen Dreischritt aus »Beobachtungen«, »Meinungen« und »Skizzen«. Ein kurzer Thesenblock zu Beginn und die »Lesetipps« am Schluss bilden jeweils den formalen Rahmen. Überschriften und Unter-Überschriften schaffen ein unangestrengtes Ordnungsnetz. Das hier bediente ästhetische Paradigma ist natürlich nicht neu, auch das Titelmotiv des liturgischen Mysteriums steht in einer solennen Theorietradition (Casel, Berneuchen, Josuttis), und selbst die Weg-Metapher wurde liturgisch bereits mehrfach prominent traktiert. Neu ist aber die spätmoderne Me­lange aus gut lesbarer Darstellung, homiletischem Liturgieverständ­nis des 19. Jh.s, pandemischer Geheimnisvermutung und einer leichten Prise Feuilleton-Katholizismus. Starke, wissenschaft­lich be­lastbare Definitionen finden sich in diesem Gottesdienstbuch weniger. Das macht den enormen literarischen Charme aus, aber es zeigt auch die Problematik einer Liturgik an, die auf liturgie-historische Zugänge fast vollständig verzichtet und die die Kraft des empirischen Arguments aus der induktiven Verallgemeinerung von Einzel-Beobachtungen zieht. Kategorien-»Moves« fügen sich in eine eher kreisend-meditative »Structure«. Im Kaleidoskop der Großzitate bleibt hierbei kaum ein urbanes Phänomen der Neureligiosität unerwähnt (Pilgern, Messfrömmigkeit, spirituelle Events etc.), und im Gegenzug entgeht kaum ein evangelischer Abusus dem kulturkritischen Blick (protestantische Ge­schwätzigkeit, liturgische Formlosigkeit, eucharistische Abstinenz etc.). N. nimmt die zeitgeistigen Phänomene ernst.
Zur Sache: N. konzediert die Pluralität evangelischen Liturgisierens (»zweites Programm«), doch nur der von der Kanzelrede her dominierte Gottesdienst wird entlang des »Weges im Geheimnis« thematisch. N. diskutiert schwerpunktmäßig den Modus symbolischer Kommunikation (»Symbol und Ritual«), das Verhältnis von Predigt(-wort) und Liturgie(-wort), das »Kultbuch« Bibel, die Mu­-sica sacra, das Verhältnis von Sakralität und Profanität, liturgische Rollen und liturgische »Zeit-Kunst«. All dies liegt gegenwärtig im Diskurs-Mainstream – die Leser können sich also thematisch ernst genommen fühlen. Weniger ernst genommen sehen sich jedoch die Kundigen unter ihnen in der durchweg unkritischen Verwendung durchaus strittiger, weil heillos übercodierter Container-Vokabeln wie »Symbol«, »Ritual«, »Spiritualität«, »Ganzheitlichkeit«, »das Heilige«. In der Euphorie der evangelisch-liturgischen Renaissance vor nunmehr 20 Jahren konnte man mit diesen se­mantischen Unschärfen gut leben, heute umhüllt sie nur noch der verhaltene Glanz nostalgischer Pathosformeln. Über weite Strecken predigt N. eher, als dass er argumentiert. Dies zeigen auch der etwas betuliche Gebrauch der 1. Person Singular bzw. Plural an, die Häufung (nicht immer) gelungener Metaphern und die vagen Konjunktive im Übergang von konstatierenden zu normativen Sätzen. Deutlich fordert die homiletische Essaykunst ihre Tribute bei der liturgiewissenschaftlichen Präzision.
Programmatisch läuft N.s liturgischer Versuch auf die Forderung hinaus, »den Predigtgottesdienst als protestantischen Beitrag zu einer Liturgie der Kirche zu werten« (78). Auf dieser Generalthese basiert das ganze Buch. N. will der wort-sprachlichen Botschaft und Gestaltqualität der biblischen Sujets in der lutherischen Messe wieder zu ihrem Recht verhelfen – dies allerdings ohne den sie konstituierenden Abendmahl-Teil, also in syntaktisch apokopierter Form. N. plädiert dafür, den »völlig aus der Praxis gekommenen evangelischen Brauch eigener Abendmahlsfeiern bei seltenen Anlässen wieder zu etablieren ... theologisch hat sich die … lange gepflegte Kombination eher als einengend für die Eucharistie erwiesen« (107 f.). Die Gemeinden sollten also »zweigleisig« verfahren, indem sie reine Predigtgottesdienste und reine Abendmahlsgottesdienste entlang einer kirchenjahreszeitlich noch zu entwickelnden Dramaturgie getrennt von einander feiern.
N. votiert für eine liturgische Trennkost aus verbalem »Wort« und sakramentalem »Wort«. Luthers leibliches Wort ist hier nicht mehr als ein gottesdienstliches Integral, sondern als beliebig applizierbares Additivum gedacht. Ökumenisch wie dramaturgisch ist damit natürlich ein schmerzlicher Rückschritt angezeigt. Konterkariert wird letztlich auch die beachtliche Hausse liturgischer Präsenz-Bemühungen in Theorie und Praxis, auf die N. erstaunlicherweise mit keinem Wort eingeht. Trotzdem ließe sich natürlich diese provozierende These diskutieren, wenn denn auch noch andere als pragmatistische Argumente dafür ins Feld geführt würden (wie z. B. bei der hanebüchenen Forderung nach einer Kommunion sub una!, 110 f.). Eine oft zu lange Predigt (woher weiß Nicol das?), durch die der »Sprung in die eucharistische Feier« verpasst wird (67 passim), zerredete Rubriken im Wortteil der Messe und eine nachlässige Gestaltung der Präfation sind evangelisch durchaus beklagenswert, doch liturgiedidaktisch relativ leicht zu beheben. Und so fragt man sich, was N. zu dem doch sehr weitreichenden Verdikt veranlasst, dass die Erneuerte Agende keinerlei Wirkung zeige bzw. die syntaktische Zuordnung von Wort- und Mahlteil »landauf landab ungelöst« sei (77 passim). N. betrachtet den mit diesem Agendenwerk initiierten Prozess insgesamt »als gescheitert« (14). Empirische Untersuchungen, die dieses Verdikt bestätigen könnten, werden jedenfalls nicht zitiert.
Man liest dieses anregende Buch trotz der genannten Monita gern; die Lesezeit bleibt auch angesichts der beachtlichen 336 Seiten überschaubar. Das ist für die pastorale Rezeption liturgischer Theorie keinesfalls ein zu vernachlässigender Faktor, denn die Diskrepanz zwischen real existierendem Liturgisieren und dem Kosmos evangelischen Gottesdienstwissens ist praktisch-theologisch einigermaßen besorgniserregend. N.s Essaysammlung schließt diesen Sund nicht – dazu dominiert hier zu sehr der Gestus des Andeutens und Anmerkens –, aber sie überbrückt ihn doch an vielen Stellen. Das Insistieren auf der Sorgfalt darstellenden Handelns bzw. auf dem Mitteilungswert der »Rituale« (43 ff.) und Lieder (163 ff.) sowie der Akzent auf der »geistigen Existenz« des liturgischen Personals (273 ff.) sind selbst dann funktional, wenn man die Generalthese nicht teilt und den Theoriezugriff nicht mitvollziehen kann. Von daher ist diesem Buch eine breite und kritische Leserschaft zu wünschen; N.s provokative Impulse sind unbedingt in den Gemeinden, den Pastoralkollegs und Fakultäten zu diskutieren.
Offen bleibt – wie in so vielen akademischen Liturgiken – die Frage nach der Didaktik: Wie um alles in der Welt vermitteln sich religiösen Normalverbrauchern all diese geheimnisvollen Lesarten evangelischer Geheimnisse? Ex opere operato oder durch gezielte Bildungsbemühungen? Das Feuilleton ist schließlich nur lesbar für gebildete Leser, die anderen buchstabieren für sich allenfalls ein verbales Rauschen. Ein eher traditioneller (Wort-)Gottesdienstansatz, wie er hier vertreten wird und der angesichts eines durchgreifenden Akzeptanzverlustes dennoch für das »erste Programm« votiert, darf heute die Auskunft über die Entrée-Bedingungen nicht unterschlagen.