Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

169–171

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Peter, Ulrich

Titel/Untertitel:

Der ’Bund der religiösen Sozialisten’ in Berlin von 1919–1933. Geschichte –­ Struktur –­ Theologie und Politik.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. 696 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 532. DM 168,-. ISBN 3-631-48604-9.

Rezensent:

Martin Greschat

Diese philosophische Dissertation an der Berliner FU behandelt ein eng umgrenztes Thema ebenso detailliert wie gründlich. Ausgehend von der Skizzierung des Forschungsstandes (19-30) werden in einem ersten Abschnitt (31-129) die Voraussetzungen für die Entstehung des Bundes sowie seine Geschichte in der Weimarer Republik dargestellt, durchweg konzentriert auf die Vorgänge in Berlin. Plastisch tritt dabei die Buntheit und Vielfalt der Bewegung zutage: der Einfluß von theologischem Liberalismus und Friedensbewegung, von sozialistischem Gedankengut mit dem Rätemodell, von religiöser Aufbruchstimmung und z. T. maßloser Selbstüberschätzung. Unverkennbar waren diese Menschen Umgetriebene, Suchende. Zunehmend klar und scharf zeichnete sich dabei der Gegensatz zur verfaßten Kirche ab. In der Endphase der Republik wandten sich diese Religiösen Sozialisten schließlich kompromißlos gegen die politische Rechte sowie vor allem gegen den Nationalsozialismus. Dieses Engagement wird zu Recht nachdrücklich hervorgehoben. Aber indem der Autor diese politisch-ideologische Position rühmt (228 f.), kommt für ihn überhaupt nicht in den Blick, was diese Religiösen Sozialisten dem attackierten konservativ-reaktionär-antisemitischen evangelischen Kirchenwesen denn inhaltlich entgegenzusetzen hatten.

Den Höhepunkt der Arbeit bilden die zwei Kapitel über die Entwicklung des Bundes in den Bezirken Neukölln und Charlottenburg (131-285). Vor allem im Abschnitt über den von der Arbeiterschaft geprägten Stadteil Neukölln gelingt dem Vf. die Zeichnung eines ebenso detaillierten wie lebendigen Bildes, nicht zuletzt im Blick auf die wachsenden religiösen, theologischen, kirchenpolitischen und politischen Gegensätze in der Gemeinde. Die Religiösen Sozialisten kamen hier der organisierten Arbeiterschaft sehr weit entgegen ­ bis hin zur Preisgabe des Apostolikums bei der Taufe, der Einrichtung von dezidiert "proletarischen Jugendfeierstunden" sowie der Proklamation einer Religiosität, bei der "vom Vertrauen der Gemeinschaft getragene Führer im Einklange mit der Stimme ihres Gewissens kulturschöpferisch tätig sind und im großen Ausmaße daran arbeiten, die Massen zu bewußter Solidarität und entschiedenem Kulturwillen zu erziehen" (160). Es leuchtet wohl ein, daß kirchlich-konservative Kreise gegen solche Äußerungen unerbittlich Front machten. Das gilt eindeutig auch für den bürgerlich geprägten Bezirk Charlottenburg. Hier konnten sich die Religiösen Sozialisten nicht zufällig lediglich im Umkreis der von dem charismatisch veranlagten Pfarrer August Bleier konstituierten Personalgemeinde behaupten. Bleier feierte den "Sozialismus als neue Religion" (277).

Sehr viel weniger überzeugt dagegen der dritte Teil der Untersuchung (287-387), in dem der Versuch unternommen wird, das Material verschiedenen Themenbereichen zuzuordnen und insofern zu strukturieren. Hier bleibt vieles Referat bzw. Addition von Fakten ­ wie z. B. die Ausführungen über das Verhältnis des Bundes zur Arbeiterbewegung oder zu sozialen Aktivitäten der Zeit (287-311). Völlig unbefriedigend sind schließlich die Ausführungen über die religiösen Vorstellungen sowie die Aussagen über Theologie und Kirche bei diesen Religiösen Sozialisten (315-361). Die vor Jahren von dem Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak aufgewiesene strukturelle Ähnlichkeit im Denken von Religiösen Sozialisten und Deutschen Christen wird hier ­ voll und ganz gegen die Intention des Autors ­ in hohem Maße bestätigt. Hier wie da hielt man nicht nur nichts von der wissenschaftlichen Theologie, sondern attackierte sie aufs schärfste als blutleer und lebensfern. Deutsche Christen und Religiöse Sozialisten wollten ­ natürlich auf jeweils eigene Weise ­ eine Theologie und Kirche, die dem entsprach, was man den von ihnen umworbenen weltanschaulichen Gruppen meinte zumuten zu können. "Feierstunden" für den "neuen Menschen" wollten und veranstalteten beide Seiten. Bestenfalls als Schlagworte lassen sich schließlich die zusammenfassenden Bemerkungen des Autors über das Ernstmachen mit der Friedensbotschaft Jesu im Klassenkampf verstehen oder der Verweis auf das kommende Reich Gottes und die darin wurzelnde Befreiung: Denn mit dieser Verfälschung biblischer Aussagen zugunsten einer politischen Theologie haben auch die Deutschen Christen ihre Erfolge gefeiert. Wer heute solche Wendungen unreflektiert wiederholt, darf sich nicht wundern, wenn man ihn dementsprechend einordnet.

Der abschließende Überblick über die Aktivitäten der Berliner Religiösen Sozialisten nach 1933 (363-387) macht nachdenklich. Hier vor allem vermißt man eine kritische Reflexion über den Weg, das Gedankengut sowie die religiös-geistigen Konzeptionen des Bundes. Einen gewissen Ausgleich dafür bietet einmal mehr die Zusammenstellung von Fakten. Obwohl die hier veröffentlichten Biographien wichtiger Berliner Persönlichkeiten des Religiösen Sozialismus (391-462) bisweilen ungenau sind, lassen diese 30 Biogramme doch ausgesprochen interessante Zusammenhänge erkennen. Vorherrschend war offenkundig eine Tendenz zur Radikalität ­ sei es in religiöser, in theologischer oder politischer Hinsicht: vier dieser Religiösen Sozialisten gaben dem Christentum den Abschied, drei wandten sich dem Katholizismus zu. Einige engagierten sich bei der Bekennenden Kirche, andere dann bei der SED. Alles das verdeutlicht einmal mehr, wie gering die religiöse, geistige und soziale Kohärenz selbst in dieser relativ kleinen Gruppe der Berliner Religiösen Sozialisten war.

Über alle solche Fakten informiert die vorliegende Untersuchung in hervorragender Weise. Darin besteht ihre Bedeutung. Über die politische, geistige und insbesondere die religiös-theologische Relevanz alles dessen berichtet sie dagegen faktisch nichts. Das ist ihre Grenze.