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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1391-1393

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heymel, Michael, u. Christian Möller

Titel/Untertitel:

Sternstunden der Predigt. Von Johannes Chrysostomus bis Dorothee Sölle.

Verlag:

Stuttgart: Calwer Verlag 2010. 311 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-7668-4126-1.

Rezensent:

Andres Straßberger

Als Zielgruppe des Buches induzieren die beiden Heidelberger Praktischen Theologen sowohl aktive Predigthörer als auch Prediger und Predigerinnen selbst. Durch den Blick auf die Geschichte der Predigt soll bei den Lesern eine »neue Erwartung auf die befreiende Wirkung der Predigt frei[ge]setzt« (8) werden. In besonderer Weise will das Buch dabei »Mut [machen], selbst wieder mit Leidenschaft zu predigen« (Umschlagtext). In dieser Hinsicht soll die Textsammlung dann auch »zu einem Lehrbuch der Predigt werden« (8). Neben dem gegenwartshomiletischen Primärimpuls formulieren die Herausgeber als sekundäres Ziel, durch die »Erinnerung an wichtige Stationen der Predigtgeschichte … zugleich Kirchengeschichte anschaulich und lebendig werden [zu] lassen« (8).
Der hauptsächliche Einwand, der gegen diese Konzeption ge­macht werden muss, ist: Was eine Predigt der Vergangenheit überhaupt in den Rang einer homiletischen »Sternstunde« erhebt und auf welchem Wege die Erinnerung an eine solche überhaupt zu einem gegenwartshomiletischen Impuls im vorgestellten Sinn werden kann, wird im schmalen Vorwort des Bandes (7–9) nur un­zureichend reflektiert. Vielmehr postulieren die Herausgeber als Begriff von »wahrhaft historische[n]« Predigten, mithin »Sternstunden der Predigt« (7), einerseits die Koinzidenz von »bedrängenden Situationen in der Geschichte« und Predigern, »die solchen Situationen nicht nur standzuhalten, sondern sie auch als Gelegenheiten beim Schopf zu ergreifen und durch die Kraft des gepredigten Wortes neu aufzurichten wissen« (alle Zitate: 7). Andererseits kommen »auch stille, unscheinbare Predigten, die sich später als ›Sternstunden der Predigt‹ erwiesen haben, weil [die jeweiligen Prediger/innen] die ganze ›Innerlichkeit‹ des Evangeliums in ihre Predigten hineingelegt haben« (ebd.), für ihre Sammlung in Be­tracht. Man wird bei aller Sympathie für das Vorhaben der vorliegenden Edition in diesen zwei Auswahlkriterien weder eine stringente historische (predigtgeschichtliche) noch homiletisch-sys­te­matische Programmatik erkennen können. Entsprechend zu­fällig präsentiert der Band dann auch seine 16 Predigten. Diese werden nach einem gleichbleibenden Schema (Situationsbeschreibung – Die Predigt – Nachzeichnung der Predigt – Der Prediger – Eine Sternstunde) von den Herausgebern auf jeweils rund 20 Druck­seiten vorgestellt und kommentiert.
Heymel zeichnet dabei für sieben, Möller für neun Predigten verantwortlich. Mit Johannes Chrysostomus, Augustinus und Meister Eckhart kommen zu­nächst drei Vertreter für die ersten 1400 Jahre Predigtgeschichte, mit Martin Luther, Theresa von Avila, Johann Matthäus Meyfart und Zinzendorf dann vier Vertreter des 16. bis 18. Jh.s, mit Schleiermacher und Kierkegaard zwei Vertreter des 19. Jh.s, mit J. Wittig, D. Bonhoeffer, M. Niemöller, R. Bohren, K. Barth, M. L. King und D. Sölle aber gleich sieben Vertreter des 20. Jh.s in den Blick. Die Ungleichgewichtigkeit der Auswahl ist augenscheinlich. Eine salvatorische Klausel im Vorwort, die die Auswahl als »exemplarisch und in keiner Weise vollständig« (7) zu begründen versucht, vermag dies nicht zu rechtfertigen. Gänzlich unverständlich bleibt, dass die Aufklärungspredigt (immerhin die Kinderstube der neuzeitlichen Predigtkultur) komplett vernachlässigt wird. Über den Grund, warum das 20. Jh. derart überrepräsentiert ist, lässt sich auch nur spekulieren. Wurde im 20. Jh. besser gepredigt als in den Jahrhunderten davor?
Ferner firmiert unter dem Stichwort »Predigt« nicht immer das, was man in einer solchen Sammlung eigentlich erwartet: ein Auszug aus einem Erbauungsbuch (Theresa von Avila), die Passage eines theologischen Sachbuchs, die der Verfasser gelegentlich einer königlichen Audienz einst auch mündlich verlesen hat (Kierkegaard), oder eine rein literarische Predigt aus einem Roman (J. Wittig). Aus diesem Grund kann man die Namen der drei Genannten bislang weder in einer Geschichte der Predigt erwähnt finden noch wird man sie in eine künftig zu schreibende aufnehmen wollen. Manche Predigten weisen erhebliche Kürzungen auf, die zwar markiert worden sind, deren Umfang sich aber nur erahnen lässt. Das ursprüngliche Erscheinungsbild der Predigt bzw. des Predigtdruckes wird in diesen Fällen auf durchaus problematische Weise heutigen Lesegewohnheiten bzw. den gegenwartshomiletischen Interessen der Herausgeber angepasst (besonders gravierend bei der Predigt Meyfarts).
Den Zielsetzungen des Bandes wenig förderlich erweist sich der Umstand, dass bei weniger als der Hälfte der biographischen Abschnitte eine konsequente Ausrichtung auf Fragen der homiletischen Programmatik und/oder Predigtpraxis der Porträtierten zu erkennen ist (z. B. bei Johannes Chrysostomus, Zinzendorf oder Niemöller). Die individuelle Charakterisierung und Begründung der vorgestellten Predigten als »Sternstunden« folgt (entsprechend der konzeptuellen Schwäche des Bandes) nicht selten primär subjektiven Kriterien. Bezeichnend für das hier häufig geübte Verfahren heißt es z. B. zu einer Predigt Sölles (306): »Was macht ihr Predigen … zu einer Sternstunde der Predigt? Ich nenne sieben Merkmale ihres Predigens, die mir an verschiedenen Predigten von Sölle aufgefallen sind.« Bei einem solchen Vorgehen reduziert sich der auf Herausragendes und Bleibendes rekurrierende »Sternstunden«-Begriff auf ein persönliches Geschmacksurteil der beiden Herausgeber.
Die historischen Kontexte der vorgestellten Predigten werden oft nur unzureichend, gelegentlich auch unzutreffend zur Darstellung gebracht. Z. B. wird im Falle Zinzendorfs die zeitgenössische Faszination seiner Berliner »Reden« (deren formaler Eigentümlichkeit im Übrigen viel zu wenig Beachtung geschenkt wird) mit Hinweis auf die lutherische Normalpredigt ihrer Zeit erklärt. Diese sei ganz überwiegend Gesetzespredigt gewesen, weswegen in ihr »das Evangelium … oft nicht mehr in seiner befreienden Kraft zu Gehör kam« (133). Das ist ein längst überholtes predigt- und kirchengeschichtliches Klischee, das dem Stand der Forschung nicht entspricht. Bereits die pietistische Kritik an der spätlutherischen Normalpredigt war sich nicht ohne Grund darin einig, dass in orthodoxen Predigten der evangelische Trost zu reichlich, statt zu spärlich ausgeteilt würde.
Summa summarum: Weder die Sekundärabsicht, durch Predigtgeschichte Kirchengeschichte anschaulich zu machen, noch die Primärabsicht, gegenwartshomiletische Impulse zu setzen, wird angesichts dieser und weiterer Unzulänglichkeiten des Bandes in wünschenswertem Maße erreicht. Ohne eine entsprechende homiletische Systematik, die sich als solche den Leserinnen und Lesern zu erkennen hätte geben müssen, wäre Letzteres wohl auch kaum zu bewerkstelligen gewesen.
Davon abgesehen bleibt es für den Rezensenten, einen Kirchenhistoriker, hinsichtlich der Sekundärabsicht die entscheidende Frage, ob es konzeptuell nicht tragfähiger gewesen wäre, unter dem Titel von »Sternstunden der Predigt« tatsächlich nur »wahrhaft historische« Predigten, mithin Glanzlichter der Predigtgeschichte, zusammenzutragen, statt bei der Auswahl gleichzeitig und in erster Linie auf eine – für mein Empfinden recht nebulöse – »Erinnerung nach vorn« (L. Steiger, zit. im Vorwort, 8) zu rekurrieren. Vielleicht sperrt sich so manche »Sternstunde der Predigt«, die den Namen in predigtgeschichtlicher Hinsicht verdient, einer solchen Abzweckung von vornherein. Denn Predigten, die als rechtes Wort zu einer ganz bestimmten, mittlerweile aber vergangenen Zeit zu »wahrhaft historischer« Wirkung gelangt sind, können m. E. auch nur unter Anwendung histo­-rischer Maßstäbe angemessen erschlossen und gewürdigt werden. Ein solches Herangehen kann nach meiner Überzeugung heutigen Predigerinnen und Predigern nicht weniger zur lehrreichen und unterhaltsamen Beschäftigung dienen, als eine auf die unmittelbare homiletische imitatio-Eignung ausgerichtete Lektüre von Predigten längst verflossener Jahrhunderte. Freilich: Der unmittelbare Lektüregewinn dürfte dann weniger auf einer praktisch-homiletischen, denn vielmehr auf einer prinzipiell-homiletischen, mithin theologisch-hermeneutischen Ebene zu suchen sein.