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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1389-1391

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wolgast, Eike

Titel/Untertitel:

Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 385 S. kl.8° = Urban Taschenbücher, 580. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-017815-1.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Band bietet eine erhellende Übersicht über die Geschichte der Menschenrechte. Er bringt die englischen und nordamerikanischen Freiheitsrechte des 17./18. Jh.s, den epochalen Durchbruch der Französischen Revolution, die Bemühungen um Grundrechte in den Staatsverfassungen des 19. und frühen 20. Jh.s sowie Gegenwartsaspekte zur Geltung. Aus neuerer Zeit werden die einschlägigen internationalen und europäischen Dokumente, z. B. der UN-Sozialpakt von 1966 oder die Europäische Sozialcharta von 1961 erwähnt. Darüber hinaus gelangen afrikanische, asiatische, arabische und islamische Menschenrechtskonventionen zur Sprache, wodurch deutlich wird, dass Menschenrechte nicht nur kultur- und ethikgeschichtlich auf unterschiedliche Hintergründe zurück­zuführen sind, sondern dass sie auch in der Gegenwart kulturell differierend gedeutet und konkretisiert werden. Die klassische angloamerikanisch und europäisch geprägte Menschenrechtsidee orientiert sich am Individuum; ihr liegt an den Abwehr- und Frei­heitsrechten der einzelnen Person. Demgegenüber besitzen z. B. die neuen afrikanische Menschenrechtserklärungen einen sozietären oder kollektiven Zuschnitt. Sie gehen von der Einbindung des Einzelnen in den Generationenzusammenhang und in die Gemeinschaft, in die Großfamilie aus. Deshalb weichen sie im Verständnis von Eigentum oder von Erziehung von der westlichen Sicht ab und legen als Korrelat zu den Menschen rechten großen Wert auf ge­meinschaftsbezogene Menschenpflichten. Der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1979 zufolge hat jeder die Pflicht, die harmonische Entwicklung der Familie zu fördern (290–299).
Einen Terminus der aktuellen Bioethikdebatte aufgreifend könnte man davon sprechen, dass für wichtige außereuropäische Menschenrechtskonzeptionen das Leitbild einer Wir-Individualität tragend ist. Dies trifft auch auf islamische Menschenrechtserklärungen zu, zu denen der Band sehr abgewogen vor Augen führt, dass islamisches Denken einerseits, moderne säkulare Menschenrechte andererseits nach wie vor in Spannung stehen. Inzwischen nähern sich islamische Denkbemühungen den Menschenrechten zwar an, und zwar vor allem dadurch, dass diese religiös interpretiert und als von Gott gegeben ausgelegt werden. Gravierende Probleme ergeben sich jedoch daraus, dass die individuelle Religionsfreiheit einschließlich des Rechtes, sich vom islamischen Glauben zu trennen, oder dass Frauenrechte bis heute bestenfalls begrenzt anerkannt werden. Weil in islamischer Perspektive Religion und Recht nach wie vor eine Einheit bilden, fällt der Zugang zu den säkularen, rational begründeten Menschenrechten noch heute sehr schwer (310–320).
Schwierigkeiten bei der Rezeption der Menschenrechtsidee hatte bis weit in das 20. Jh. hinein freilich gleichfalls das Christentum. Das Buch hebt hervor, dass die Idee der Menschenwürde und der individuellen Freiheitsgrundrechte allenfalls indirekt auf religiös-christliche Impulse zurückzuführen ist. Als geistige Wegbereiter nennt es Cicero und die Stoa (12 f.) sowie vor allem die neuzeitliche Naturrechtsphilosophie und Aufklärung (31 ff.69 ff.). Erwähnt wird, dass christliche Kirchen noch im 20. Jh. theologische Einwände gegen die Menschenrechtsidee erhoben haben, z. B. die Sündhaftigkeit des Menschen als Vorbehalt dagegen, ihm eigene Menschenrechte zuzuerkennen (244 ff.). Es hätte sogar noch pointierter dargelegt werden können, dass abgesehen von der Verwerfung der Menschenrechte durch die katholische Kirche auch in evangelischen Kirchen und sogar in der akademischen evangelischen Theologie eigentlich erst in den 1970er Jahren der Durchbruch zur Akzeptanz der neuzeitlich-säkularen Menschenrechtsidee stattfand. Zum römisch-katholischen Christentum nennt der Band ein interessantes historisches Detail: Nach der Revolution von 1848 war in Italien der Kirchenstaat der einzige Staat ohne Grundrechtskatalog (162). Noch heute respektiert die römisch-katholische Kirche Menschenrechte innerkirchlich nur in eingeschränktem Maß. Wie groß die katholische Skepsis gegenüber weltlichem Recht ist, wird erneut dadurch dokumentiert, dass der Vatikanstaat seit 2008 die Gesetze der Italienischen Republik nicht mehr automatisch übernimmt.
Zu bedauern ist, dass der Band kein Begriffsregister enthält. Ein solches Register hätte es erleichtert, die Entwicklungsgeschichte nachzuverfolgen, die er zu einzelnen Grundrechten aufzeigt, etwa zur Wissenschaftsfreiheit. Deren Vorläufer war die Freiheit der »Lehre«, die erstmals in der belgischen Verfassung von 1831 eine Rolle spielte. Sie bezog sich auf das Schulwesen. Politisch liberal wurde hierdurch der römisch-katholischen Kirche in Belgien zugestanden, Privatschulen zu unterhalten (121). Den Durchbruch zur Wissenschaftsfreiheit im eigentlichen Sinn erbrachte die Paulskirchenverfassung von 1848 (142 f.151). Ausweitungen und Präzisierungen erfolgten in der tschechoslowakischen Verfassung von 1920, die die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse schützte (197), oder im Bonner Grundgesetz von 1949, von dem neben der Freiheit der Lehre explizit die Forschungsfreiheit garantiert wird (262). Anhand einer Reihe von Grundrechten, etwa dem Recht auf Eigentum oder den Frauenrechten (z. B. 66 ff.), und von Menschenrechtspostulaten wie der Abschaffung von Folter und Todesstrafe zeichnet das Buch den Fortschritt der Rechts- und Kulturgeschichte nach. Darüber hinaus tritt zutage, wie sich zusätzlich zu den individuellen Grund- und Freiheitsrechten seit dem 19. Jh. die zweite Generation der Menschenrechte, nämlich soziale An­spruchs- und Leistungsrechte (129), sowie neuerdings die dritte Generation kollektiver Menschenrechte, z. B. das Recht auf Entwicklung, ausgeprägt haben (230). Das Bonner Grundgesetz von 1949 hat das Schwergewicht auf die klassischen Grund- und Freiheitsrechte der Einzelperson gelegt (258). Hierzu ist aber zu ergänzen, dass das Bundesverfassungsgericht jetzt auch bestimmte Schutzpflichten des Staates betont, darunter die Schutzpflicht zugunsten der menschlichen Gesundheit. Insofern gelangt in der Bundesrepublik Deutschland aktuell ebenfalls die Dimension der Grundrechte als Leistungs- und Anspruchsrechte der Bürger zum Zuge.
In Anbetracht des heutigen philosophisch-weltanschaulichen Pluralismus sind die Hinweise des Buches interessant, denen zufolge schon in der Geistesgeschichte eine Mehrzahl unterschiedlicher Zugänge zur Menschenrechtsidee anzutreffen waren: neben der philosophisch-naturrechtlichen Begründung, die noch für die Französische Revolution leitend war, eine auf geschichtliche Erfahrung oder auf den Lebensalltag gestützte pragmatische Begründung im angelsächsischen Denken (88 f.) sowie eine Deutung der Menschenrechte als positive Setzung (105) oder später auch als overlapping consensus (334). Das Buch enthält mithin zahlreiche Informationen zur Geschichte einzelner Menschenrechte, aber auch zum Begründungshorizont der Menschenrechtsidee.