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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1387-1389

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Scheule, Rupert M. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik der Entscheidung. Entscheidungshilfen im interdisziplinären Diskurs.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2009. 206 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7917-2215-3.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Alle Beiträge des Buches stehen unter der Leitperspektive des Entscheidungsbegriffs der »rational choice theory« (Wertentscheidungstheorie = WE-Theorie), die sich in der Mikroökonomie, aber auch in den Sozialwissenschaften neben der Systemtheorie als einflussreiches Paradigma etabliert hat. Die WE-Theorie fußt auf evolutionstheoretischen und ökonomischen Überlegungen, die eine nachmetaphysische rationale Fundierung der Ethik ermöglichen sollen.
Das Verdienst dieses Buches ist es, sich ernsthaft mit den in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gängigen Ethikmodellen auseinanderzusetzen und hilfreiche Aspekte aufzunehmen, ohne dabei in den Verabschiedungsgestus der Begründungs- oder Verbindlichkeitsfragen abzugleiten. Denn dass die Ethik mit nicht rational auflösbaren Verbindlichkeits- und Geltungsfragen steht oder fällt, ist (un-)ausgesprochenes Credo der Autoren der Beiträge in diesem Band (vgl. für den soziologischen Teil I.: Rupert M. Scheule, Thomas S. Hausmanninger, Markus Vogt; für den philosophischen Teil II: Jörg Lauster, Peter Roth; für den theologischen Teil III: Johannes Schaber, Klaus Arntz, Rupert M. Scheule, Wolfgang Palaver, Johann E. Hafner). Insofern leistet die detaillierte Analyse und Einführung der WE-Theorie zu Beginn sowie der durchgängige Bezug der Autoren zu dieser Theorie einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag für eine theologische und philosophische Ethikpräzision im interdisziplinären Diskurs. Denn: »Obwohl dieser Rationalitätsbegriff [der Werterwartungstheorie] häufig auf die effiziente Beziehung zwischen Mitteln und Zielen reduziert wird, lässt sich in ihm immer auch der Anspruch des Wohlbegründeten nachweisen. … Dies gilt aber nicht für den neuerdings so gepriesenen Intuitionismus der Entscheidung, er zeigt sich in seiner Verweigerung einer durchgängigen Versprachlichung begründungsresistent und ideologieverdächtig … [demgegenüber] bietet die WE-Theorie ein vielseitiges und leistungsstarkes Instrumentarium.« (24) Hier wird man aber wohl die Kritik an einer rein auf Rationalität rückführbaren Entscheidung seitens des Intuitionismus berücksichtigen müssen, ebenso wie das positive Gewicht, das dieser auf die Güte von auch irrationalen Entscheidungen legt.
Die Geschichte der Rationalität in ihrer Variation der Begründung und Sinnstiftung wird bei Hausmanninger präzise und bündig dargestellt. Er zeigt auf, dass jene Linie der rationalitätskritischen, gleichwohl auf Vernunft bezogenen, sinnstiftenden Entscheidungsfragen sich bereits durch die Philosophiegeschichte zieht und sich in der Unterscheidung von Theorie und Praxis ausdrückt. Diese Linie werde auch durch das Christentum aufgenommen. Dabei ließe der Vernunftoptimismus zunächst noch eine metaphysische Grundlage der Erkenntnis zu, diese gerate allerdings bereits im Nominalismus ins Wanken und wurde dann in der Neuzeit im Blick auf die Begründungsleistung der Vernunft vollends erschüttert. Für Hausmanninger ist die WE-Theorie je­doch nur bedingt praxistauglich, da sie keine Hierarchie von Rationalitäten erlaube und daher systemisch-funktionale und strategische Rationalität der ethischen Rationalität gleichstelle. Dies dürfe jedoch nicht sein, da die ethische Rationalität übergeordnet bleiben müsse. (45)
Auf die durchaus funktionstaugliche, aber nur beschränkte Leistung der WE-Theorie macht auch Jörg Lauster in Anlehnung an die Frage des glücklichen, guten, gelingenden Lebens bei Wolfgang Schmid, mit dem Argument aufmerksam, dass für eine Entscheidung im ethischen Sinne auf die Frage nach dem Guten nicht verzichtet werden könne. Diese jedoch könne nicht operational mittels der Entscheidungslogik der WE-Theorie durchgeführt werden.
Markus Vogt verweist auf die Tauglichkeit der risikoorientierten Entscheidungstheorie, die deontologische, teleologische und utilitaristisch orientierte Überlegungen verbinde und damit der Komplexität systemrationaler Entscheidungen in Politik und Gesellschaft Rechnung tragen könne. Er verweist dabei auf die nur system- und strukturtheoretisch zu bewältigenden Probleme wie Klimaveränderungen, grüne Gentechnik und auf die Gefährlichkeit eines Fundamentalismus zur Bewältigung solcher Probleme. Die Aufgabe sei es, von linearen zu nichtlinearen Erklärungsmodellen voranzuschreiten, die es erlauben, die Komplexität des Zusammenhangs von Folgen und Nebenfolgen zu berücksichtigen. Wichtig ist sein Hinweis, dass Luhmann den Blick ausschließlich auf die Logik des binären Codes des jeweiligen Einzelsystems richte und das Individuum ausblende. Gerade dieses aber stehe als solches permanent vor der Aufgabe, diese Logiken zu verknüpfen. Eine Lösung auf die Frage, wie beide Perspektiven miteinander verbunden werden können, sei das Stichwort Risikomündigkeit. Dies bezeichnet die Aufgabe, trotz hoher Komplexität und Unsicherheit der Situation im Blick auf Handlungsfolgen, unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe sowie Grenzen moralischer Rationalitäten begründete Entscheidungen zu treffen. Ohne Letztbegründung gebe es keine vollständige Kohärenz, sondern nur Wahrscheinlichkeiten, das Abwägen mehrerer Möglichkeiten. Das sei die kognitive Infrastruktur der Moderne, denn die Moderne sei die Epoche der nur relativen, gewissheitsfreien Rationalität (Kersting). Sie bewähre sich im Management der Ungewissheiten.
Im Ernstnehmen und Sicheinlassen auf diese objektivierbare, funktionstüchtige, risikomündige Planung der Optimierung ethischer Entscheidungsprozesse füllt dieses Buch eine Lücke im ge­genwärtigen Ethikdiskurs. Dies gilt umso mehr, als es die sys­temtheoretisch und ökonomisch orientierte WE-Theorie nicht als Grundlage für die Ethik als solche nimmt, sondern sie allenfalls als produktiven strategischen Baustein aufnimmt, zugleich aber auf deren Grenzen aufmerksam macht. Daher bleibt es Konsens der Autoren, dass eine ethische Theorie auf Kriterien der Verbindlichkeit und Gültigkeit von Prinzipien nicht verzichten könne. Gleichwohl geht man jedoch davon aus, dass in den anwachsenden Komplexitäten ethischer Entscheidungsfindungsprozesse auf strategisch-rationale Hilfe zur Entscheidungsfindung nicht verzichtet werden könne, wenn Ethik sich nicht in guten Willensbekundungen erschöpfen soll. Dieses Buch dokumentiert ein bemerkenswertes Sicheinlassen auf eine Optimierungsmöglichkeit der ethischen Entscheidungsfindung im interdisziplinären Diskurs.