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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1385-1387

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hartung, Gerald, u. Stephan Schaede [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Internationale Gerechtigkeit. Theorie und Praxis.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. 324 S. gr.8°. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-534-23028-0.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Die Globalisierung ist in aller Munde und sie ist umstritten – weniger in ihrer Tatsächlichkeit als in ihrer Bewertung. Da muss eine Aufarbeitung ihrer philosophisch-theologischen Probleme dringend erwünscht sein. Die Herausgeber haben dazu ausgewiesene Wissenschaftler verschiedener Disziplinen versammelt. Sie selbst legen in einem einleitenden Beitrag dar, worum es ihnen] geht. Am Anfang stehen grundsätzliche philosophische, theologische und juristische Erörterungen. An sie schließen sich »Einzelstudien zu klassischen internationalen Handlungsfeldern« an. Zu der ersten Gruppe gehören die Erörterung philosophischer und theologischer Perspektiven aus der Feder der Herausgeber selbst, des Sinnes für Ungerechtigkeit und des (gebrochenen) Versprechens der Gerechtigkeit in der globalen Ökonomie ( Burkhard Liebsch), der Bedeutung des Rechts für die Förderung der internationalen Gerechtigkeit (Eberhard Schmidt-Aßmann), kirchlicher Aussagen zum Thema (Hans Diefenbacher und Volker Teichert) sowie der Globalisierung im Ganzen (Volker Teichert). In der zweiten Gruppe finden sich Ausführungen zur internationalen Verschuldung (Hans Diefenbacher), zu Ressourcen und Entwicklung (Ulrich Ratsch), zur globalen Erwärmung (Johannes B. Opschoor), zum Ziel der Friedenswahrung in der Entwicklung des modernen Völkerrechts (Hans-Michael Empell), zur Stellung transnationaler Unternehmen zwischen Völkerrecht und soft law (Katharina Weilert), zu Aufgaben, Grenzen und Dysfunktionen des Patentrechts (Timo Rademacher) und zu Doppelbesteuerungsabkommen (Matthias Valta). Eine gewisse Zwischenstellung könnte man den Beiträgen von Matthias Weingardt über Handlungsbereiche und Interventionsmöglichkeiten religionsbasierter Akteure und von Fabiana de Oliveira Godinho über die Bedeutung der kulturellen Vielfalt im Völkerrecht einräumen.
Es ist hier nicht der Raum, auf alle diese Beiträge im Einzelnen einzugehen. Die Autoren analysieren gründlich und mit großer Sachkenntnis die von ihnen behandelten Probleme. Hervorhebung verdient (aber das mag auch ein wenig der juristischen Vorbelastung des Rezensenten geschuldet sein) die vorbildliche Klarheit, mit der Schmidt-Aßmann sein Thema angeht und durchführt. Mit Recht warnt er einerseits vor einer Überschätzung der Möglichkeiten des Rechts, ermutigt aber andererseits, der Völkerrechtsentwicklung etwas zuzutrauen. Ausgehend von den Schwierigkeiten, die schon das innerstaatliche Recht mit dem Gedanken der Gerechtigkeit hat, wendet er sich dann den besonderen Problemen des Völkerrechts zu, das sowohl hinsichtlich seiner Entstehung als Vertragsrecht souveräner Staaten als auch hinsichtlich seiner Durchsetzung Schwächen aufweist. In dem abschließenden ermutigenden Abschnitt skizziert er zunächst drei Handlungsfelder einer Politik für mehr internationale Gerechtigkeit (Verteilungsprobleme, Umwelt, Menschenrechte), stellt sodann drei Regelungsansätze vor (Völkergewohnheitsrecht, internationale Organisationen, »soft law«) und schließt mit Überlegungen zum Prinzip der Solidarität und den UN-Menschenrechtspakten.
Bei den Beiträgen zu konkreten Problemfeldern fällt auf, dass das Schwergewicht vielfach auf die Darstellung der ökonomischen und juristischen Probleme gelegt wird und die – eigentlich in den Mittelpunkt gehörenden – ethischen Fragen eher kursorisch be­handelt werden. So beschränkt der im Übrigen ausgezeichnete Beitrag von Diefenbacher, durch den auch der Rezensent viel über die internationale Verschuldung und ihre Ursachen hinzugelernt hat, sich insoweit im Wesentlichen auf die Ableitung einiger Forderungen aus der scholastischen Philosophie, ohne zu erörtern, inwiefern und inwieweit solche Forderungen an Staaten und Banken gerichtet werden können, die nicht der christlichen Tradition verpflichtet sind. Auch der Hinweis auf einen Konsens nicht näher bezeichneter NGOs vermag eine moralphilosophische Begründung nicht zu ersetzen.
Ähnlich stellt Johannes Opschoor seine Ausführungen zwar unter den Obertitel »Globale Erwärmung und globale Gerechtigkeit«. Im Untertitel »Überlegungen zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten ökonomischer Analysen des Klimawandels« kommt der Aspekt der Gerechtigkeit aber schon nicht mehr vor, und auch im Text wird zwar gelegentlich das Urteil »Das ist extrem ungerecht« gefällt, eine begründete Darlegung der Forderungen internationaler Gerechtigkeit an die Regelung des behandelten Sachbereichs aber fehlt.
Die Auswahl der Themen ist zwangsläufig von subjektiven Wertungen beeinflusst. Das Gleiche gilt natürlich, wenn ein Leser die Erörterung von Themen vermisst, die er für wichtig hält. Unter diesem Vorbehalt darf der Rezensent doch bedauern, dass de Oliveira Godinho in ihrem Beitrag praktisch ausschließlich den Schutz kultureller Vielfalt im Völkerrecht behandelt, nicht aber die Bedeutung der kulturellen Vielfalt für die allgemeine Entwicklung des Völkerrechts; gerade für die von ihr angesprochene Problematik der Menschenrechte sind aber die Auswirkungen der kulturellen Unterschiede in den verschiedenen Regionen der Welt nicht zu übersehen. In dem Beitrag von Ratsch werden »Ungerechtigkeiten auf der zwischenstaatlichen Ebene« ausdrücklich von der Erörterung ausgeschlossen (162). Es mag sein, dass diese Ungerechtigkeiten (mit guten Gründen) nicht Gegenstand der Bemühungen kirchlicher Hilfswerke sind; für sie allein ist aber das Buch wohl nicht geschrieben. Das Verlangen nach Zugang zu natürlichen Ressourcen ist aber immer wieder Anlass internationaler Spannungen und daher auch der Betrachtung unter dem Gesichtspunkt internationaler Gerechtigkeit würdig. Was ist etwa unter diesem Gesichtspunkt zu sagen, wenn Wasservorräte eines Gebietes abgeleitet und die Bevölkerung auf einen Bruchteil davon beschränkt wird?
Überhaupt hat der Rezensent den Eindruck, dass die klassischen Konfliktfelder bei der Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der internationalen Gerechtigkeit etwas zu kurz kommen, obwohl sie auch im Zeitalter der Globalisierung ihre Bedeutung keineswegs verloren haben. Dass etwa besetzte Gebiete von der Besatzungsmacht mit ihren Staatsangehörigen besiedelt, teilweise annektiert und die bisherigen Bewohner systematisch verdrängt werden, ist kein Tatbestand der Vergangenheit und sollte in einer Erörterung von Fragen internationaler Gerechtigkeit nicht unerörtert bleiben.
Der Standpunkt der Verfasser ist durchgängig dezidiert evangelisch. Die meisten von ihnen sind in der einen oder anderen Weise der Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) verbunden. Dementsprechend stehen die Auffassungen in den evangelischen Kirchen stark im Vordergrund. Römisch-katholische Äußerungen werden auch erwähnt. Es fällt jedoch auf, dass die päpstlichen Enzykliken, die sich auch mit Fragen der internationalen Gerechtigkeit befassen (z. B. Mater et Magistra; Pacem in Terris; vor allem Populorum Progressio, wieder aufgenommen durch Caritas in Veritate von 2009) unerwähnt bleiben.
Zu wünschen wäre schließlich gewesen, dass die Herausgeber dem Band ein Sachverzeichnis beigegeben hätten. Trotzdem ist festzuhalten, dass die Beiträge mannigfache Erkenntnisse vermitteln, die beim Bedenken internationaler Gerechtigkeit nicht unbeachtet bleiben dürfen.