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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1384-1385

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Frühbauer, Johannes J., Hörter, Michael, u. Anna Noweck [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freiheit – Sicherheit – Risiko. Christliche Sozialethik vor neuen Herausforderungen.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2009. 223 S. gr.8° = Forum Sozialethik, 6. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-402-10632-7.

Rezensent:

Uwe Gerber

Bezugspunkte dieses Sammelbandes des Forums Sozialethik 2008 in Dortmund sind zunächst »Das Konzept der menschlichen Sicherheit« der UN von 1994, dann internationale Sicherheitsmaßnahmen wie der Internationale Strafgerichtshof und der Terroranschlag vom 11.09.2001 in New York (33 ff.). Die Schutzbedürftigkeit des Individuums rückt jetzt vor das Schutzbedürfnis des Staates (51 ff.65 ff.), so dass Freiheit und Sicherheit politisch so austariert werden müssen, dass die Bürgerinnen bei allen Risiken im Gefühl des Vertrauens leben können (115 ff.). Dabei kann Krieg nach Ansicht von J. B. Elshtain ein gerechtes Mittel sein (85 ff.), wenn der Grund gerecht ist, z. B. Terroranschläge, wenn die Absicht gerecht ist, z. B. Herstellung des civic peace, und wenn eine legitime Autorität den Krieg führt. Eine Internationale Entscheidungsinstanz wie die UN wird abgelehnt und die USA in die Rolle der »Weltpolizei« versetzt (96), was der Vf. als Hegemonialdenken kritisiert.
Um der Würde eines jeden Menschen willen darf es nicht »ein bisschen Folter« geben (99 ff.), denn Freiheit und Sicherheit sind Erfahrungen und Konstrukte des Vertrauens. Das Beispiel der Informationssysteme zeigt, dass diese einerseits Sicherheit gewähren und andererseits uns zu gläsernen Daten instrumentalisieren. Das Problem bleibt, dass innere und äußere Freiheit nur komplementär mit intrapersonaler und innerpsychischer Sicherheit gelebt und institutionalisiert werden kann (115 ff.). Die Medien haben hier eine schwierige Aufgabe: »Mit fehlender Sicherheit … macht man Quoten und Reichweiten« (130) und kann zugleich einen fatalen Sicherheitsglauben erzeugen und Freiheitsräume versperren. Theologische Ethik hat demgegenüber »den Umgang mit Kontingenz bzw. Unsicherheit zu thematisieren« (135).
Inwieweit haben soziale Konflikte und Kriege unserer Zeit religiöse Gründe? S. Huntington und M. Nussbaum sehen positive Einflüsse der Religionen auf Demokratisierungsprozesse und zugleich die Notwendigkeit, praktizierte Religiosität im Blick auf ihr Konfliktpotential zu begrenzen (139 ff.). Während Huntington auf gesellschaftliche Homogenität mit nationalistischer Politik gegen Multikulturalität im Innern setzt und zugleich auf globaler Ebene eine multipolare Welt mit einer ›dünnen Moral‹ einfordert, vertritt Nussbaum »Multikulturalismus im Kontext eines politischen Liberalismus mit größtmöglicher religiöser und kultureller Vielfalt«. Während also Huntington (Religions-)Freiheit um der gesellschaftlichen Homogenität willen sicherheitshalber eingrenzt, setzt Nussbaum auf Vielfalt an Religionsgemeinschaften, weil dies Sicherheit bietet und die integrativ-wertgenerative Funktion von Religion zum Tragen bringt.
In der ethischen Bewertung finanzieller Anreize für Lebendnierenspenden wird das Dilemma gezeigt (157 ff.), dass der common sense die staatliche Fürsorge (Sicherheit) für Personen, die zur Lebendspende auf Bezahlung bereit sind, über deren Spendenfreiheit stellt. Es wird auf die Kirchen hingewiesen, die mit einer liberaleren Position sowohl die Anerkennung personaler Autonomie der Spendenden als auch die Barmherzigkeit mit schwerkranken Menschen achten und fördern können.
Da der Krankenversicherungsbeitrag steigt, muss mit der am Gemeinwohl orientierten Gestaltung des Gesundheitswesens auch über Rationierungskriterien verhandelt werden (175 ff.). Überlässt man die Allokation dem Markt, dann steigen die Preise mit Folgen wie Zwei-Klassen-Medizin und Mengenausweitung (bis hin zur ›Erfindung‹ von Krankheiten). Um entsprechend die Arzt-Patient-Beziehung nicht zu einer Geschäftsmann-Kunde-Tausch­bezie­hung verkommen zu lassen, muss diese vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber unter Wahrung der Würde eines jeden Menschen gestaltet werden, auch gegen den Paradigmenwechsel vom Sozialstaat zum ›aktivierenden Staat‹ mit Sicherheit nur für die Privilegierten auf Kosten der prekär Lebenden.
Im Arbeitsrecht prallen das Konzept der wohlfahrtsstaatlich ga­rantierten sozialen Sicherheit und der neoliberalen individuellen Freiheit und Risikobereitschaft mit Deregulierungskonsequenzen aufeinander (193 ff.). Kündigungsschutz, Mitbestimmung, Mindestlohn einerseits, das Pochen auf kostengünstigeren Wettbewerb andererseits – und dies mit der Option der Sicherheit für die Arbeitnehmer auf Kosten der Arbeitslosen? Wenn der Arbeitsvertrag (immer noch) das Nadelöhr zur gesellschaftlichen Teilhabe und Anerkennung ist, dann müssen erstens die Arbeitslosen einbezogen werden in die Sicherungssysteme, zweitens muss die Tarif­-autonomie für die Arbeitnehmer gewahrt bleiben und drittens müssen die Arbeitsvertragsparteien »betriebliche Bündnisse« aushandeln können (204).
Wer konsumiert (global) auf Kosten von wem? Viele Menschen haben keine Teilhabe an Arbeit, Gesundheit, Kultur usw. und können keine Identität finden (207 ff.). Und wer die Sicherung seiner (und seiner Familie) Existenz gegen Risiken erreicht, dessen Freiheit wird oft durch Machthabende ›kolonialisiert‹. Ist das Prinzip der »geteilten Verantwortung« von Produzenten und Konsumenten ein Ausweg? Können Verzicht und Solidarität diesen Kreislauf aufbrechen? Wo liegen heute die Bruchlinien und die (z. B. Fair-Trade-)Tauschmög­lichkeiten zwischen Freiheit und Unfreiheit, um »eine auf Bedürfnissen fußende Konzeption globaler Gerechtigkeit« als Gegenentwurf zu utilitaristischen und egalitaris­tischen Intentionen durchzusetzen (216)? Das »human Angemessene« beinhaltet dabei nachhaltige Konsummuster, Erhaltung der Schöpfungsnatur, Wahrung der Menschenwürde u. a. m. Das tröstende Fazit: »Es gibt also das Risiko zu einem Glück, das nicht von Konsum herrührt und es gibt das Glück und Bedürfnis der Verweigerung, der Freiheit des Nein-Sagens und der Hingabe an immaterielle Wachstumsprozesse« (218). So können wir in dem Dreigestirn von Freiheit – Sicherheit – Risiko als Grundstruktur menschlichen Lebens solidarisch bestehen.
Dieser Sammelband ist als informierende Momentaufnahme und als weiterweisender Diskussionsbeitrag zur Lektüre zu empfehlen.