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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

168 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Krötke, Wolf

Titel/Untertitel:

Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft. Theologische Orientierungen im Übergang vom "real existierenden Sozialismus" zur demokratischen, pluralistischen Gesellschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XII, 285 S. 8°. Kart. DM 78,-. ISBN 3-16-146287-4.

Rezensent:

Martin Seils

Wolf Krötke, Systematiker an der Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität und ihr erster Dekan nach der "Wende", legt hier eine Sammlung von Reden und Aufsätzen vor, die zwischen 1989 und 1994 gehalten worden bzw. entstanden sind. K. bedenkt darin die Lage von Kirche und Theologie der ehemaligen DDR im Übergang vom Bezogensein auf den "real existierenden Sozialismus" der DDR zum Eingebettetsein in die demokratische Gesellschaftsordnung des vereinigten Deutschlands. Das geschieht mit großer theologischer Verantwortlichkeit, genauer Kenntnis der vielfältigen Probleme und Problemfelder, erheblichem persönlichen Engagement und nüchternem Differenzierungsvermögen. Entscheidend ist, daß K. die Dinge nicht vorwiegend praktisch-pragmatisch, sondern im Bemühen um dezidiert theologische Orientierung angeht, dabei aber in der Überzeugung, daß theologische Verarbeitung und Wegsuche zugleich auch der praktischen Wegfindung am besten zu dienen vermag. Er folgt damit der Grundeinstellung, die an den Kirchlichen Hochschulen in der DDR ­ K. lehrte vorher am Berliner "Sprachenkonvikt" ­ immer schon eingenommen worden war.

Der Band beginnt mit einigen im engeren Sinn theologischen Aufsätzen, die die Grundposition K.s in einer insgesamt der Theologie Karl Barths sich verpflichtet wissenden theologischen Einstellung deutlich machen ("Gott auf der Suche nach dem Menschen"; "Gott auf unserer Seite" ­ Pneumatologie; Sündenerkenntnis; Vertrauen). Schlüsselhaft dürfte dabei der Aufsatz über "Gottes Klarheit" (18-32) sein. K. sieht die doxa Gottes als eines der Grundattribute seines Wesens an, möchte ebendiese doxa aber nicht als etwas irgendwie Entzogenes, die Kommunikation zwischen Gott und Mensch Übersteigendes und unter Vorbehalt Stellendes verstehen, sondern als dasjenige, das die Sprachfähigkeit des Menschen in Beziehung auf Gott ermöglicht und trägt und so die "konzentrierende Mitte alles menschlichen Redens von Gott" (20) ist. Es sei "an der Zeit, im Denken und Leben von der Klarheit Gebrauch zu machen, ohne die Gott nicht unser Gott und wir nicht in Wahrheit Menschen sein können" (32).

Das ist nun freilich ein Ansatz, der höchste Ansprüche evoziert, vor denen man auch wohl ein wenig erschrecken könnte. K. analysiert von ihm aus zunächst wesentliche Züge des Selbstverständnisses und des Wirkens von Christen und Kirchen in der DDR ("friedliche Revolution"; "Nischengesellschaft"; Kirche "für andere" und "für alle"; Einflüsse Barths und Bonhoeffers auf das kirchliche Selbstverständnis). Mehr und mehr beschäftigt ihn sodann das Thema der Stasi-Kooperation leitender kirchlicher Mitarbeiter (Auftrag der Kirche und Gewissen; Glaube und Politik; DDR-Geschichte und Biographie usw.). Während schon dabei Probleme des Übergang aus einer repressiven in eine offene Gesellschaft immer wieder auftreten, wird dies für K. insbesondere am Modellfall der Theologie an Universität und Kirchlicher Hochschule in der DDR einerseits und in der sich erneuernden universitären Situation der Nachwendezeit andererseits virulent (Profile der Theologie in der DDR; Funktion der Theologie an der Universität; Theologische Fakultät im Wandel der Gesellschaft).

K. ist der Meinung, daß die Formel von der "Kirche im Sozialismus" insoweit sinnvoll gewesen sei, als sie es der Kirche ermöglicht habe, sich der staatlich-ideologischen Festlegung auf "Klassenfeindschaft" zu entziehen und einen "verbesserlichen" Sozialismus anzumahnen. Es habe in ihr aber im Grunde genommen ein verschleiernder Irrtum gesteckt, der darin bestanden habe, daß von Bonhoeffer geleitete Vorstellungen einer religionslosen, mündigen Welt und einer gerechteren Gesellschaft in den Begriff "Sozialismus" in unklarer Weise hineinprojiziert worden seien. Zum Stasi-Problem will er nicht ausschließen, daß vom Gewissen geforderte und vor ihm verantwortete Ausnahmeentscheidungen und -handlungen denkbar seien, ist aber der Meinung, daß dies nicht von dem selbstgewählten "Finassieren" leitender kirchlicher Amtsträger mit der Stasi gelte. Dabei sei die auch für Kirchenleitungen unabdingbar erforderliche gemeindliche Brüderlichkeit, Offenheit und Vertraubarkeit gebrochen worden. Was den Übergang in eine demokratische, pluralistische Gesellschaft anbelangt, so wehrt K. allen auch kirchlichen DDR-Nostalgien, macht klar, warum es Christen und Kirchen aus der ehemaligen DDR so schwer fällt, "sinnstiftende" Rollenzuweisungen in der demokratischen Gesellschaft zu übernehmen, interpretiert die Rahmenbedingungen der Kirche im demokratischen Staat aber grundsätzlich positiv:

"In den vom demokratischen Staat gesetzten äußeren rechtlichen Rahmenbedingungen kann die Kirche... ihre ureigenste Aufgabe, reformatorische Kirche zu sein, im Grundsatz viel freier und intensiver wahrnehmen, als es je unter einer Diktatur, die nichts zu freier Entfaltung kommen lassen möchte, möglich ist" (139). Die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen sieht er als vom Staat eingeräumte Ermöglichung dessen an, daß die Kirche das "Mehr" über alle irdischen Ordungsbezüge hinaus, das ihr mit ihrem Auftrag von Gott für alle Menschen anvertraut ist, wahrnehmen kann.

K. denkt mit Barth von Entsprechungsbezügen zwischen dem, was die Kirche bestimmt und beauftragt, und ihrem konkreten Tun einerseits und dem staatlich-gesellschaftlichen Rahmen ihres Handelns andererseits her. Was er will, ist die von der Klarheit Gottes herkommende und auf sie zurückblickende Klarheit theologischen Orientierens und kirchlichen Handelns. Das Problem der Überforderung, das hierin liegen könnte, sieht K., hält es aber nicht für letztlich relevant. Seine Analysen und Orientierungen stellen einem in diesem Sinne auf Klarheit drängenden Denken ein gutes Zeugnis aus. Sie reichen insofern auch weit über das situationelle Bedenken der Lage einer "Kirche im Umbruch der Gesellschaft" hinaus. Wer Information und Orientierung zur Kirche in der DDR und zu deren Übergangsbefindlichkeiten sucht oder benötigt, wird an K.s Aufsätzen und Reden nicht vorübergehen dürfen.