Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1371-1372

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ebinger, Thomas

Titel/Untertitel:

Verkehrte Freiheit? Jean-Paul Sartres Freiheitslehre aus christlicher Sicht.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. X, 201 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 46. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-150300-9.

Rezensent:

Max Josef Suda

Freiheit ist ein spannendes Thema in Politik, Philosophie, Theologie, Psychologie und neuerdings auch in der Hirnforschung. Jean-Paul Sartre übte mit seiner Deutung der Freiheit aus existentialistischer Sicht nach 1945 einigen Einfluss aus, vor allem durch seine Theaterstücke, aber auch durch seine Philosophie. Die Theologie hat seine Philosophie aber bisher noch zu wenig gewürdigt. Diesem Mangel will Thomas Ebinger durch seine von Eilert Herms betreute Doktordissertation abhelfen, die 2008 in Tübingen angenommen wurde.
E. referiert zuerst die Philosophien und Freiheitslehren von Henri Bergson, René Descartes, Edmund Husserl und Martin Heidegger, deren Werken Sartre wesentlich beeinflussten. Sodann berichtet er eingehend von Sartres erstem Hauptwerk »L’être et le néant« (»Das Sein und das Nichts«) von 1943.
Hier ist Sartre der Phänomenologie Husserls verpflichtet, greift aber auch auf Descartes zurück und geht im Stellen grundsätzlicher Fragen eigene Wege. – Den Zugang zum Sein außerhalb der Phänomene verbietet sich Sartre mit Husserl. Aber wir müssen von einem solchen Sein wissen, um von ihm sprechen zu können. Wo­durch? Sartre: durch das »transphänomenale Sein« »des Subjekts«, also durch unser eigenes Sein. Sartre reiht sich hiermit in das Denken seit Descartes ein, dessen Cogito (ich denke) er allerdings noch hinterfragt: Im Denken ist mein Cogito bereits zum Phänomen geworden; etwas anderes muss es also bedingen: Sartre nennt dieses etwas das »vorreflexive Cogito«. Dass dessen Existenz seine Essenz impliziert bzw. ihr vorhergeht, ist der Grundsatz von Sartres Existentialismus. Die Existenz des Subjekts konzipiert Sartre aber nicht als Ansich-, sondern nur als Fürsich-Sein, das darin besteht, »zu sein, was es nicht ist, und nicht zu sein, was es ist«. Ich bin also »mein Losreißen von mir selber, ich bin mein eigenes Nichts«. Gerade in diesem Nichts sieht Sartre nun aber die Freiheit begründet. E. fasst zusammen: »Freiheit gilt als Flucht vor sich selbst … Freiheit ist Mangel … Freiheit ist als grundlose Wahl absurd.« (78) Wir sind »verurteilt zur Freiheit« (ebd.).
In späteren Schriften, wie »L’existentialisme est un humanisme«, 1945, »La liberté cartésienne«, 1945, »Notes pour la Morale«, 1948 (1983 postum veröffentlicht als »Cahiers pour une morale«) ist Sartre, geleitet vom Begriff der »Authentizität«, nicht mehr so pessimistisch bezüglich der Freiheit. E. findet dort aber wenig Fortschritte und »noch längst keine Orientierungskraft für das, was ich nun tatsächlich tun soll« (94).
Sartres Freiheitslehre stellt E. sodann die Freiheitslehren Lu­thers und Schleiermachers gegenüber. Hier sind die Hauptgegensätze, dass Sartre Freiheit allein als Aktivität des für-sich-seienden Ichs, die christliche Lehre sie aber auch als Passivität (sprich: ge­schenkte Freiheit) verstehen kann; weiter, dass die Freiheit(en) der Einzelnen nach Sartre miteinander nicht kompatibel sind, während nach den christlichen Theologen die Freiheit Gottes und des Einzelnen, sowie die Freiheit(en) der gemeinschaftlich lebenden Menschen einander bejahen. Zwar vertrat Sartre einen dezidierten Atheismus, dennoch gelingt es E., »theologische Motive und Zu­sam­menhänge« in seiner Freiheitslehre aufzuspüren (145 ff.).
Desiderata: Wünschenswert wäre es gewesen, etwas über Si­mone de Beauvoir zu erfahren, die mit Sartre zusammen gelebt und philosophiert hat, da doch Leben und Philosophie eines Autors, vor allem eines Sartre, eng zusammengehören, wie E. ausführt (95 ff.). Ihr ist »L’être et le néant« gewidmet, und die »freie« Liebe der beiden war eine von der Öffentlichkeit registrierte Form der Praxis des existentialistischen Freiheitsdenkens.
An Primärliteratur fehlen die letzten Gespräche mit Sartre aus dem »Nouvel Observateur«, März 1980 (postum wiederveröffentlicht unter »L’espoir maintenant«, 1991, deutsch: »Brüderlichkeit und Gewalt«, 1993), in denen Sartre zu einer neuen Phase seiner Philosophie und seiner Freiheitslehre ansetzt; freilich ist es beim Ansatz geblieben. Aus der Sekundärliteratur vermisse ich die Biographie von Bernard-Henri Lévy (Le Siècle de Sartre, 2000; deutsch 2002) und zwei Bücher von Peter Kampits, 1975 und 2004; dessen TRE-Artikel ist aber zitiert.
Die Vorzüge des Buches von E. überwiegen freilich bei Weitem seine Mängel. E. führt uns umsichtig darstellend und vorsichtig kritisierend durch einige Bereiche der Philosophie Sartres, sodann hinein in das Labyrinth seiner Freiheitslehre und zeigt uns einen von der christlichen Freiheitslehre eröffneten Ausweg. Wenn ich angesichts der mancherlei Wendungen und Veränderungen in Sartres Philosophie allerdings das Fragezeichen hinter »verkehrte Freiheit« bedenke, würde ich lieber von einem »Aufbruch zur Freiheit« sprechen.